| # taz.de -- Prozess um Zwangsprostitution: Die Bekannte als Zuhälterin | |
| > Im Bremen steht ein Nigerianer vor Gericht, weil er eine Frau | |
| > vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen haben soll. | |
| Bild: Schon 2004 warnten im nigerianischen Benin City Plakate Frauen vor der Pr… | |
| Bremen taz | Ende 2005 war es, da erhielt Lydia Z.* in Nigeria einen Anruf | |
| aus Paris. Die Frau am Telefon, die sich als „Joy“ vorstellte, schlug ihr | |
| vor, nach Europa zu kommen. Sie würde dort gutes Geld verdienen, als | |
| Pflegerin alter Damen. Die damals 18-Jährige hatte Zweifel. Aber ihre | |
| Mutter, die mit Joys Schwägerin befreundet war, überredete sie. | |
| So landete Lydia Z. wie Tausende anderer junger Frauen aus Westafrika als | |
| Zwangsprostituierte in Europa. Die international vernetzten Täter*innen | |
| werden selten gefasst und [1][noch seltener vor ein deutsches Gericht | |
| gestellt]. Die Taten sind schwer nachweisbar, in Braunschweig wurde gerade | |
| eine Angeklagte frei gesprochen. | |
| In Bremen muss sich seit Anfang Juni der mutmaßliche Peiniger von Lydia Z. | |
| vor dem Landgericht verantworten. Der 36-jährige Kelvin I. ist wegen des | |
| Verdachts auf Zwangsprostitution und Vergewaltigung angeklagt. | |
| Am ersten Prozesstag erzählt Lydia Z. mit leiser Stimme, aber ruhig und | |
| sicher ihre Geschichte. Wie Kelvin I. spricht sie nigerianisches Englisch, | |
| ein Dolmetscher übersetzt. Immer wieder korrigiert sie diesen. „Das habe | |
| ich so nicht gesagt“, sagt sie. Sie versteht Deutsch und ist, das wird sehr | |
| deutlich, entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Derzeit macht | |
| sie eine Ausbildung, sie will sich eine Existenz aufbauen. Um dies nicht zu | |
| gefährden, bittet sie Journalist*innen, ihren Namen und ihr Alter zu | |
| ändern. | |
| ## 50.000 Euro Schleuserkosten | |
| In ihrer Zeugenaussage vor Gericht schildert sie, wie sie zwei Jahre nach | |
| dem Anruf von Joy über Tunis nach Paris flog. Dass sie mit einem | |
| gefälschten Pass ausgeflogen und nicht durch die Wüste und über das | |
| Mittelmeer geschickt wurde, spricht dafür, dass es sich um ein gut | |
| organisiertes finanzstarkes Netzwerk von Menschenhändlern handelt. | |
| Joy, die sich in Paris Jeanette nannte, nahm mit Lydia Z. drei weitere | |
| Frauen in Empfang. Anschließend ging es weiter nach Italien. Dort übergab | |
| Jeanette sie an eine Frau namens Helen und eröffnete ihr, dass sie sich | |
| fortan prostituieren müsse, um die angeblichen Schleuserkosten in Höhe von | |
| 50.000 Euro zurückzuzahlen. | |
| „Ich wusste überhaupt nicht, wie viel ein Euro wert ist“, sagt Lydia Z. vor | |
| Gericht. Als sie es herausbekommen hatte, rief sie ihre Mutter an und sagte | |
| ihr: „Das ist so viel Geld, das kann man gar nicht zurückzahlen.“ Ihre | |
| Mutter überredete sie weiterzumachen. | |
| Auch ohne Überredung hätte sich Lydia Z. wohl kaum getraut, auszusteigen: | |
| In Benin City, einer Drehscheibe des Menschenhandels in Nigeria, war sie | |
| von einem Juju-Priester mit einem Fluch belegt worden. Eine übliche Praxis, | |
| um die Frauen zum Schweigen zu bringen. | |
| „Sie rissen mir Fuß- und Fingernägel heraus, ich musste ein Hühnerherz | |
| schlucken“, schildert Lydia Z. das Ritual. „Sie sagten, ’du stirbst, wenn | |
| du das Geld nicht zurückzahlst’.“ | |
| ## Schlag mit abgebrochener Flasche | |
| Die Angst vor dem Fluch war aber nicht so stark wie die Wut auf die | |
| Zuhälterin Helen. Als diese sie mit einer abgebrochenen Flasche schlug, | |
| weigerte sich Lydia Z., weiter für sie auf den Strich zu gehen. Daraufhin | |
| bedrohte ein Bruder von Jeanette ihre Mutter in Nigeria. Lydia Z. machte | |
| weiter. Was sie in Italien erlebt hat, erzählt sie nicht. Das Gericht und | |
| der Staatsanwalt fragen nicht nach. | |
| Als Jeanette und damit auch der an sie gebundene Fluch 2010 starb und Helen | |
| kurz darauf verhaftet wurde, war Lydia Z. für ein paar Monate frei. Sie | |
| lebte in einem Heim der Caritas in Italien und pflegte alte Menschen. In | |
| dieser Zeit bekam sie eine Aufenthaltsgenehmigung für sechs Monate. Mehr | |
| wurde nicht für sie getan – typisch für den italienischen Umgang mit | |
| Geflüchteten. | |
| Doch ihre Freiheit währte nur kurz. Ein weiterer Bruder der verstorbenen | |
| Jeanette meldete sich aus Bremen: Der jetzt angeklagte Kelvin I. Sie habe | |
| erst 30.000 Euro gezahlt und schulde ihm noch 20.000 Euro, sagte er ihr am | |
| Telefon. „Er rief immer wieder an und drohte mir.“ Schließlich gab sie | |
| nach, 2015 holte Kelvin I. sie mit dem Zug nach Bremen, er hatte ihr Arbeit | |
| in Aussicht gestellt. | |
| Warum in aller Welt sie das getan habe, will die Verteidigerin des | |
| Angeklagten von ihr wissen. „Sie haben keinen Fluch mehr auf dem Dach, Sie | |
| sind frei, Sie haben sogar Papiere?“ Sie spricht so laut, fast schreit sie | |
| Lydia Z. an. „Warum gehen Sie weiter der Prostitution nach und behaupten | |
| auch noch, mein Mandant habe Sie dazu gezwungen?“ | |
| ## Der Bruder ist ein gefährlicher Mann | |
| Lydia Z. antwortet ganz ruhig. Kelvin I. habe sie bedroht. „Wir finden dich | |
| überall“, habe er gesagt. Ausschlaggebend war aber wohl, dass sein Bruder | |
| in Nigeria – „ein gefährlicher Mann“, wie sie mehrfach über ihn sagt – | |
| ihrer Mutter Angst machte. „Ich habe sie gefragt, ‚Soll ich mein Leben | |
| nicht leben, ich will mich nicht weiter prostituieren‘!“ Ihre Mutter bat | |
| sie weiterzumachen. „Du magst in Europa sicher sein, wir sind es in Nigeria | |
| nicht.“ | |
| Zudem sagte ihr Kelvin I. erst in Bremen, dass er keine andere Arbeit für | |
| sie habe als Prostitution. „Er brachte mich zur Ein-Euro-Bar am | |
| Hauptbahnhof und sagte, da seien Männer.“ Anderthalb Stunden hat sie jetzt | |
| ausgesagt, zum ersten Mal bricht an dieser Stelle ihre Stimme. Sie beginnt | |
| zu weinen und bittet um eine Unterbrechung. | |
| Anschließend schildert sie im Gericht, wie ihr Kelvin I. die Regeln | |
| erklärte. „Für Oralsex 30 Euro, im Auto 50 Euro, zu Hause oder im Hotel 100 | |
| Euro.“ Ob mit oder Kondom sei ihm egal, Hauptsache, das Geld stimme. 100 | |
| bis 150 Euro habe sie so jede Nacht verdient, erzählt sie. Manchmal aber | |
| auch gar nichts. „Dann war er stinksauer, einmal hat er mich geschlagen.“ | |
| ## Drohung mit Messer | |
| Als sie 2016 sagte, sie wolle nicht mehr, suchte er sie mit einem Bekannten | |
| auf. Er hatte einen Schlüssel zu der Wohnung und kam und ging, wie es ihm | |
| passte. Er selbst wohnte ein paar Häuser weiter mit seiner Freundin und | |
| zwei Kindern. Lydia Z. passte regelmäßig auf die Kinder auf und machte | |
| Einkäufe für seine Freundin. Manchmal musste sie mit ihm und der Familie in | |
| die Kirche, wo er im Kirchenchor sang. | |
| Gemeinsam drohten ihr der Bekannte und Kelvin I. Sie legten dabei ein | |
| Messer auf den Tisch. „Wenn du zur Polizei gehst, töten wir dich, niemand | |
| wird dich erkennen und niemand kriegt raus, dass wir das waren.“ | |
| Weitere Nachfragen zu den Umständen der Zwangsprostitution haben weder | |
| Gericht noch Staatsanwaltschaft. Als würden sie davon ausgehen, Kelvin I. | |
| ohnehin nur die Vergewaltigung nachweisen zu können. | |
| ## Vergewaltigung als Racheakt | |
| Die geschieht offenbar als Racheakt, weil sich Lydia Z. mit ihrem | |
| Mitbewohner eingelassen hatte. Am 19. April 2017, so lautet die Anklage, | |
| soll Kelvin I. sie vergewaltigt haben. Als sie davon berichtet, fängt sie | |
| an zu weinen und bittet zum zweiten Mal um eine Unterbrechung. | |
| Ihre Anwältin Fatma Sayin und ihre Zeugenbetreuerin Nicola Dreke halten sie | |
| im Arm und begleiten sie aus dem Saal. Dreke arbeitet bei der | |
| [2][Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel] und Zwangsprostitution | |
| der Inneren Mission in Bremen. Seit zwei Jahren betreut sie Lydia Z., sie | |
| hat sie auf den Prozess vorbereitet und ist bei ihrer Aussage als | |
| Unterstützerin dabei. „Sie ist eine unglaublich starke Frau“, sagt sie. | |
| Nach kurzer Pause setzt Lydia Z. ihre Aussage fort. Der Angeklagte wird | |
| unterdessen sichtlich nervös. Als das Gericht Beweisfotos vorlegt, schlägt | |
| seine rechte Hand unkontrolliert gegen seinen Oberschenkel. | |
| Lydia Z. erzählt, wie sie versucht habe, sich gegen die Vergewaltigung zu | |
| wehren. „Aber er war stärker und bekam, was er wollte“, übersetzt der | |
| Dolmetscher. Und: „Er kam nicht in meinem Körper, sondern stieß mich von | |
| sich. Er sagte, er wollte keinen Sex mit mir, sondern mich nur | |
| molestieren.“ Molest heißt auf Englisch „jemanden sexuell missbrauchen“. | |
| Dann habe er gesagt: „Ich wusste, was zwischen euch läuft.“ | |
| ## Der Angeklagte beschuldigt sein Opfer | |
| Zu dem Zeitpunkt hätte sie mit ihrem Mitbewohner, Kelly, ab und an Sex | |
| gehabt, bestätigt Lydia Z., sie seien aber anders als jetzt kein Paar | |
| gewesen. Kelly, der eins der beiden Zimmer der Wohnung von Kelvin I. | |
| gemietet hatte, hatte ihr damals erzählt, dass eine andere Frau ein Kind | |
| von ihm erwarte. Dabei handelte es sich um die Freundin von Kelvin I., wie | |
| Kelly am zweiten Verhandlungstag aussagte. Er habe einmal mit dieser | |
| geschlafen, anschließend habe sie ihm gesagt, sie sei von ihm schwanger. | |
| Ein DNA-Test ergab später, dass der angeklagte Kelvin I. der Vater des | |
| Kindes ist. | |
| Der behauptet, es habe ein Komplott seiner Partnerin mit Kelly und Lydia Z. | |
| gegeben. Kelly habe die Vaterschaft anerkennen wollen, um eine | |
| Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Belegen kann er dies nicht – und auch | |
| nicht den Zusammenhang mit den Anschuldigungen gegen ihn erklären. | |
| Die streitet er ab und schüttelt zur Untermalung während der Zeugenaussage | |
| von Lydia Z. immer wieder demonstrativ den Kopf. Zum Schluss des ersten | |
| Prozesstages wendet er sich direkt an sie. Mit ausgebreiteten Armen, die | |
| Handflächen nach oben gedreht, fragt er sie, warum sie ihm das antue. | |
| „Warum hast du dich entschieden, solche Sachen zu sagen?“ Lydia Z.s | |
| Anwältin verweist auf deren Aussage. „Das hat sie doch gerade ausführlich | |
| erklärt.“ | |
| Daran, dass Kelvin I. vor Gericht steht, hat er einen eigenen Anteil. Zwei | |
| Wochen nach der Vergewaltigung riefen Nachbarn die Polizei, weil er | |
| lautstark mit seiner Freundin stritt, wie ein Beamter am Donnerstag | |
| aussagte. Anschließend begleiteten ihn die Polizisten zu seiner anderen | |
| Wohnung, die nach seiner Darstellung von Kelly und Lydia Z. „besetzt“ | |
| wurde. Sie durfte noch eine Nacht in der Wohnung bleiben. | |
| Am nächsten Tag ging Lydia Z. zur Polizei und zeigte Kelvin I. an. | |
| *Name geändert | |
| 24 Jun 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eiken Bruhn | |
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