| # taz.de -- Wie man lernt, Baustellen zu lieben: Ich höre Vogelgezwitscher! | |
| > Einfach eine Baustelle vor die Tür, schon erlebt man mitten in der | |
| > Großstadt die Vorteile der verkehrsberuhigten Zone. | |
| Bild: Bislang nur ein Luftschloss: nachts in der Stadt die Vögel hören | |
| Die Baustelle in meiner Straße in Lichtenberg gibt es seit zwei Jahren. Sie | |
| ist etwa 200 Meter von meiner Wohnung entfernt. Ein paar kleine | |
| Unannehmlichkeiten bringt sie mit sich: Seit zehn Tagen muss ich mir den | |
| Weg zum Supermarkt durch eine Gasse von Absperrgittern bahnen. Zuvor musste | |
| ich mehrere Monate lang einen kleinen Umweg zur Hauptstraße laufen. | |
| Zeitweise wurde eine Buslinie umgeleitet. | |
| Aber das nehme ich gern in Kauf für die Vorteile: Die Baustelle schirmt | |
| mich vom Durchgangsverkehr ab, denn meine Straße ist eine Sackgasse ohne | |
| Zugang zur Hauptstraße geworden. Nur noch die wenigen Anlieger aus der | |
| aussterbenden Spezies Autofahrer donnern an meinem Fenster vorbei. | |
| Und selbst die fahren seltener mit dem Auto. Die einen nicht mehr, weil die | |
| Baustelle es unbequem macht, mit dem Auto aus unserer Straße | |
| herauszukommen. Der Fußweg zur S-Bahn und Tram ist viel unkomplizierter. | |
| Die anderen nicht, weil es wegen der Baustelle schwierig geworden ist, in | |
| unserer Straße einen Parkplatz zu finden. Da lassen sie ihr Auto doch | |
| gleich stehen. | |
| Ich erlebe dank der Baustelle also, wie es sich anfühlt, in einer | |
| verkehrsberuhigten Gegend zu wohnen. Seit zwei Jahren höre ich morgens | |
| Vogelgezwitscher statt Verkehrslärm. Die Luft in meiner Straße ist sauberer | |
| geworden, sieht man einmal davon ab, dass bei Trockenheit und Wind in | |
| unmittelbarer Nähe der Baustelle Sand aufgewirbelt wird. Das kann beim | |
| Vorbeilaufen an der Baustelle unangenehm sein, aber in meiner Wohnung merke | |
| ich davon nichts mehr. Die ist auch zu weit weg, als dass ich durch den | |
| Baulärm belästigt würde, den ich auf dem Weg zur S-Bahn durchaus wahrnehme. | |
| Vor Kurzem rief mich eine Cousine an, die vor einiger Zeit in ein Dorf nach | |
| Bayern gezogen ist: Sie sei gerade mit ihrer Familie in Berlin und würde | |
| gern mal vorbeikommen. Klar, gerne doch! Sie kam dann deutlich später als | |
| angekündigt und meckerte über die Baustelle in meiner Straße. „Ich musste | |
| erst mal einen Umweg suchen und habe ewig keinen Parkplatz gefunden!“ | |
| Sie war natürlich mit dem Auto gekommen, wie das Dorfis so tun, wenn sie | |
| mal in Berlin unterwegs sind. Und ich hatte wegen der kurzfristigen | |
| Ankündigung vergessen, ihr zu sagen, was ich Gästen vom Dorf immer sage: | |
| „Lass das Auto stehen, ich wohne nur fünf Minuten Fußweg von der S-Bahn | |
| entfernt.“ | |
| Meine Cousine war ganz erstaunt, dass ich die von ihr gescholtene Baustelle | |
| so liebe. Was da eigentlich gebaut werde? Ich weiß es nicht. Es könnten | |
| irgendwelche Leitungen sein. Ich hoffe nur, dass die Arbeiten noch dauern – | |
| und mir möglichst lange ein ruhiges Wohnen gönnen. | |
| 9 May 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Marina Mai | |
| ## TAGS | |
| Verkehr | |
| Lärm | |
| Singvögel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |