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# taz.de -- Dossier Flughafen Istanbul: Protokolle von der Baustelle
> Ein angeklagter Arbeiter, eine Subunternehmerin und ein Leiharbeiter aus
> Nepal berichten von den Arbeitsbedingungen beim Flughafenbau.
Bild: Auf der Flughafen-Baustelle starben nach offiziellen Angaben 55 Arbeiter
Baran Kırgın, 27 Jahre alt, Bauarbeiter aus Siverek in der Provinz Urfa
Arbeitete vom 14. August bis zum 14. September 2018 auf der Baustelle des
neuen Flughafens in Istanbul. Als Bodenlegermeister verdiente er 1.800 Lira
(285 Euro) im Monat. Er musste unbezahlte Überstunden machen. Nach seiner
Teilnahme an einer Protestveranstaltung im September 2018 wurde er
verhaftet und verbrachte 90 Tage im Silivri-Gefängnis in Istanbul. Im
Dezember kam er wieder auf freien Fuß. Da das Verfahren gegen ihn noch
läuft und das Gericht eine Meldeauflage angeordnet hat, kann er nirgendwo
arbeiten. Er ist zurzeit arbeitslos.
„Auf der Baustelle kommt es so oft zu Störungen im Arbeitsablauf, ich weiß
gar nicht, wie sie den angekündigten Eröffnungstermin einhalten wollen.
Gleich am ersten Tag haben wir gesehen, wie unmöglich die Zustände auf der
Baustelle sind: Es gab Bettwanzen und Schimmel in den Betten. Wir bekamen
Lebensmittel, die längst abgelaufen waren und an der Essensausgabe stand
man ewig in der Warteschlange. Ich habe neun Todesfälle auf der Baustelle
erlebt. Eine offizielle Statistik darüber wird nicht geführt. Viele
Familien nehmen das Blutgeld der Flughafenbetreiber an und verzichten auf
eine Anklage. Wenn in einem Monat neun Menschen gestorben sind, dann müssen
in den vergangenen vier Jahren etwa 300 Arbeiter ums Leben gekommen sein.
Im September 2018 fingen die Arbeiter an, sich zu organisieren, um gegen
die Arbeitsbedingungen zu protestieren. Subunternehmer geben ihre Arbeit an
andere Subunternehmen weiter. Dadurch ist niemand mehr verantwortlich. Es
war unmöglich, im Dialog mit den Unternehmen eine Lösung für die Probleme
zu finden. Auch die Gewerkschaft hat Fehler gemacht. Seit Jahren gibt es
Probleme auf der Baustelle, die Gewerkschaft hätte viel früher Proteste
organisieren sollen. Schließlich haben am 14. September 2018 Gewerkschaft
und Arbeiter gemeinsam eine Protestveranstaltung organisiert. Das war genau
das, was wir angesichts all der Ungerechtigkeit erwartet hatten. Deshalb
haben wir diejenigen unterstützt, die den Protest initiiert haben.
Am Abend der Protestkundgebung wurden die Türen unserer Unterkünfte mit
Mauerbrechern zertrümmert. Später wurde in der Anklageschrift behauptet,
wir hätten die Türen zerstört. Um mit meinen Kollegen zu kommunizieren
hatte ich eine Whatsapp-Gruppe gegründet. Einen Kollegen aus dieser Gruppe
haben sie festgenommen. Daraufhin haben sie mich angerufen und sind dann zu
mir gekommen. Das Sicherheitspersonal der Flughafengesellschaft IGA hat
mich in Handschellen abgeführt und in Gewahrsam genommen. In der
provisorischen Fertigbau-Polizeistation auf dem Flughafengelände haben sie
mich sechs Stunden lang herumstehen und warten lassen. Ich musste mir
Beleidigungen anhören wie: „Seid ihr von der FETÖ („Fethullahistische
Terrororganisation“, gemeint ist die Gülen-Bewegung, Anm.d.Red.) oder von
der PKK geschickt worden?“. Sie beschuldigten mich sogar der Spionage.
Dann wurde ich auf die Polizeiwache gebracht. Einige meiner Kollegen wurden
geschlagen. Mich haben sie sechs Mal verhört. Man hat mir das Recht
verweigert, einen Anwalt hinzuzuziehen. Die Vorwürfe gegen mich lauten:
Beschädigung von öffentlichem Eigentum, Widerstand gegen die Polizei und
Beteiligung an Protesten unter Einsatz von Waffen und anderen Gegenständen.
Im Protokoll heißt es über mich: „Die Person hat ihre linke Hand erhoben
und den Slogan: ‚Mit Widerstand werden wir gewinnen!‘ gerufen.“
Beweismittel ist mein linker Arm. Und die Nachrichten, die ich in der
Whatsapp-Gruppe verschickt habe: „Wenn ihr noch andere entschlossene Leute
kennt, fügt sie der Gruppe hinzu. Wir werden ganz sicher gewinnen“, habe
ich geschrieben. Es wurde direkt Haftbefehl gegen mich erlassen und ich
wurde verhaftet, ohne dass man mich vorher dem Staatsanwalt vorgeführt
hatte und ich vor dem Staatsanwalt aussagen konnte. Unter den verhafteten
Arbeitern waren auch 18- bis 19-Jährige.
Meine Mitgefangenen in der Gefängniszelle verfolgten größtenteils die
regierungstreuen Nachrichtenkanäle. In diesen Nachrichtensendungen wurde
behauptet, wir würden den wirtschaftlichen Aufschwung in der Türkei
verhindern. Meine Zellennachbarn, die das sahen, drohten mir: „Du
verhinderst den Aufschwung der Türkei, du bist ein Terrorist.“ Ich war in
Lebensgefahr. Um mich vor möglichen Angriffen zu schützen, habe ich ein
Glas zerschlagen und mit einer Scherbe unterm Kopfkissen geschlafen.“
***
Merve Demirci*, 32 Jahre alt, Elektroingenieurin und Subunternehmerin aus
Istanbul
Gründete mit einem Freund eine Firma und übernahm als Subunternehmerin den
Auftrag, die Elektronik für den neuen Istanbuler Flughafen zu installieren.
Demircis Firma arbeitete für das Subunternehmen EHA Enerji des
Flughafenbetreibers IGA. Nachdem sie 20 Monate auf der Flughafenbaustelle
gearbeitet hatte, wurde ihrer Firma kurz nach der Eröffnungsfeier am 29.
Oktober 2018 der Auftrag gekündigt.
„Wir haben mit einem Team von 80 Leuten als Subunternehmen eines
Subunternehmens auf der Baustelle des neuen Flughafens gearbeitet. Dort
lief vieles nicht ganz legal. Zum Beispiel ließ man uns die Stromkabel nur
oberflächlich verbinden, um die Arbeiten auf der Baustelle als beendet zu
erklären und den neuen Flughafen möglichst bald in Betrieb nehmen zu
können. Diese provisorisch verlegten Leitungen werden der Flughafenleitung
in Zukunft noch große Schwierigkeiten bereiten.
Als wir anfingen, waren in den Arbeitsverträgen mit Subunternehmen keine
Regelungen über Verpflegung, Unterkunft und Arbeitsweg aufgeführt. Wir
forderten, dass die Punkte in den Vertrag aufgenommen werden, aber sie
meinten nur: „In Ordnung, kriegt ihr.“ Nachdem aber der Vertrag mit uns –
und auch mit anderen Firmen – gekündigt wurde und viele Unternehmen die
Baustelle verlassen mussten, hat man unseren Firmen Rechnungen in Höhe von
mehreren hunderttausend Lira vorgelegt und damit die Kosten für die
versprochenen Leistungen zurückgefordert. Eine Firma musste sogar fast eine
Million Lira zurückzahlen. Viele Subunternehmer sind pleitegegangen.
Von den Mitarbeitern, die für unsere Firma gearbeitet haben, ist keiner ums
Leben gekommen. Aber es sind viele Arbeiter auf der Baustelle gestorben.
Die Todesfälle wurden so schnell vertuscht und die Leichname der Arbeiter
wurden so schnell abtransportiert, dass niemand überhaupt mitbekommen hat,
wie die Arbeiter gestorben sind. Es war auch verboten, die toten Arbeiter
zu fotografieren. Viele tödliche Arbeitsunfälle wurden auch dadurch
vertuscht, dass man den Hinterbliebenen Schweigegeld zahlte.
Einige unserer Mitarbeiter wurden im September 2018 verhaftet, nachdem sie
sich an den Protesten gegen die schlechten Arbeitsbedingungen auf dem
Flughafen beteiligt hatten. Wir haben diese Arbeiter für die
Protestveranstaltung freigestellt. Wir haben sogar einen Anwalt engagiert,
der ihnen helfen sollte, ihre Rechte einzufordern.
Auch ich habe in einer Unterkunft auf dem Baustellengelände gewohnt, ich
habe unter den gleichen schlechten Bedingungen gelebt. Deshalb habe ich den
Protest und die Beschwerden der Arbeiter vom ersten Tag an befürwortet und
habe nicht versucht, meine Mitarbeiter davon abzuhalten. Nach den Protesten
legte mir die Geschäftsführung der Flughafengesellschaft IGA eine Liste vor
und verlangte von mir, dass ich die Arbeiter entlasse, die an den Protesten
teilgenommen hatten. Das habe ich nicht akzeptiert.
Am 29. Oktober mussten wir die Baustelle verlassen. Mit der Arbeit für den
neuen Flughafen haben wir große Verluste gemacht. Die Flughafengesellschaft
schuldet mir noch 100.000 Lira. Weil wir angeblich Baugerüste, Hebebühnen
und Tragarme, die sie uns zur Verfügung gestellt hatten, nicht
zurückgegeben haben sollen, haben sie die Zahlungen eingestellt. Dabei
befindet sich das ganze Material auf dem Baustellengelände. Da ich die
ausstehenden Geldbeträge nicht eintreiben kann, habe ich jetzt ungefähr
150.000 Lira Steuerschulden.
Ich bin zurzeit arbeitslos. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist dermaßen
schlecht, dass ich mir zum ersten Mal in meinem Leben ernsthaft Sorgen
mache, keine Arbeit zu finden. Ich suche einen Job als Angestellte, finde
aber nichts. Ich musste ein Zimmer in meiner Wohnung untervermieten. Die
Firmen, die von der Baustelle suspendiert wurden, haben – einschließlich
mir – keine Klage eingereicht. Wir haben es hier mit Firmen wie Cengiz
İnşaat und Limak zu tun, die Erdoğan sehr nahestehen. Wen sollen wir da
denn verklagen?“
*Aus Sicherheitsgründen möchte die Protokollantin anonym bleiben. Der Name
wurde von der Redaktion geändert.
***
Murari Sigdel, 33 Jahre alt, Leiharbeiter aus Nepal
Arbeitete von April bis November 2018 für das Flughafenprojekt.
„Ein Mann namens Adem Özkan aus der Türkei kam in die
Delta-Arbeitsvermittlungsagentur in Kathmandu und hat mit uns gesprochen.
Er arbeitete für IGA und war Vorarbeiter auf der Baustelle des dritten
Istanbuler Flughafens. Ich habe einen Arbeitsvertrag als Gerüstbauer für
zwei Jahre unterschrieben. Über 600 Personen wurden ausgewählt. Nachdem ich
in der Türkei angekommen war, gab man mir einen Baustellenausweis als
LKW-Fahrer. Aber eigentlich habe ich während meiner Beschäftigung
hauptsächlich Botendienste auf der Baustelle erledigt und geputzt.
Kaum dass wir in Istanbul angekommen waren, haben sie uns den
Arbeitsvertrag, den wir in Nepal unterschrieben hatten, abgenommen.
Stattdessen haben sie uns einen Jahresvertrag gegeben. Sie haben uns am
Flughafen abgeholt und uns in das Camp auf dem Baustellengelände gebracht,
in dem wir untergebracht waren. Alles war wirklich sehr sauber, der Betrieb
lief gut, das Essen war gut. Wir haben zu viert in einem Zimmer geschlafen.
Es waren auch Türken und Kurden dort. Was das betrifft, habe ich keine
Beschwerden.
Morgens um 7 Uhr war Arbeitsbeginn. Bis abends um 18.30 Uhr haben wir die
Baustelle von Mörtel und kleinen Steinen gesäubert. Sechs Monate ging das
so. Zu Beginn bekamen wir rund 615 Dollar im Monat. Nach zwei Monaten wurde
der Lohn auf 650 Dollar erhöht, für 12 Stunden Arbeit pro Tag. Während der
sechs Monate behielten sie unsere Pässe ein. An zwei Tagen im Monat hatten
wir frei. An diesen Tagen erhielten wir die Erlaubnis, in die
nächstgelegene Stadt Arnavutköy zu gehen.
Im September 2018 hörten wir, dass es im Camp zu einem Aufstand gekommen
war, die Menschen forderten ihre Rechte ein. Wir haben davon aber nichts
mitbekommen, in unserem Camp gab es keine Zwischenfälle. Dann haben sie uns
irgendwann im November auf einmal gesagt, dass sie auf die Zusammenarbeit
mit uns nicht mehr angewiesen seien. 300 Personen haben sie gefeuert.
Obwohl ich noch einen laufenden Arbeitsvertrag hatte, haben sie mich
rausgeworfen – ohne den Rückflug zu bezahlen. Zusammen mit zwölf weiteren
Personen haben sie mich in einen Bus gesteckt und zum Taksim-Platz
gefahren.
Wir stiegen aus dem Bus und hatten keine Ahnung, was wir tun sollten. Wir
hatten kein Geld für den Rückflug. Es blieb uns nichts anderes übrig, als
unsere Familien anzurufen und um Geld zu bitten. Drei Tage später sind wir
nach Hause geflogen. Es war so beschämend. Wir haben versucht, Adem Özkan
ausfindig zu machen, er kümmerte sich gar nicht darum. Wir haben die
Delta-Arbeitsvermittlungsagentur gefragt, wie so etwas passieren kann. Aber
sie haben sich überhaupt nicht dafür interessiert, was wir erzählten. „Ihr
habt sicher irgendwas falsch gemacht. Wahrscheinlich habt ihr euch schlecht
verhalten, deshalb haben sie euch gefeuert“, meinten sie. Ich kann auch
keine Klage einreichen, ich komme aus einer armen Familie. Das kommt für
mich nicht infrage. Sie haben uns schlecht behandelt, sie haben uns unsere
Rechte genommen. Es war wirklich eine furchtbare Situation.“
Anmerkung der Redaktion: taz.gazete hat Adem Özkan erreicht. Er bestätigte,
im Auftrag von IGA nach Nepal gefahren zu sein. Zu Murari Sigdals
Vorwürfen, die Verträge von 12 nepalesischen Arbeitern seien ohne Grund
beendet und die Arbeiter von der Baustelle in Bussen zum Taksim-Platz
gefahren worden, sagt Özkan: „Sie haben ihr Geld bekommen, als ihre Arbeit
beendet war. Wenn ihre Verträge beendet wurden, liegt das an ihnen. Sie
sind vielleicht nicht zur Arbeit gekommen oder haben sich eines Vergehens
schuldig gemacht.“
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
Dieser Text ist Teil des multimedialen Dossiers zum Flughafen Istanbul. Mit
Grafiken, Videos, Reportagen und Interviews beleuchtet taz gazete die
Folgen des Megaprojekts für Menschen, Umwelt und Wirtschaft. Lesen Sie mehr
unter [1][taz.de/flughafen-istanbul]
11 Apr 2019
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## AUTOREN
Volkan Ağar
Ali Çelikkan
Tunca Öğreten
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taz.gazete
Politik
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