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# taz.de -- Nachruf auf Andreas Baier: „Ich war immer ein Realo“
> Fast 40 Jahre lang war Andreas Baier, kurz AB, ein Motor der linken Szene
> Berlins: Als Hausbesetzer, Genossenschaftsgründer und Techniker.
Bild: „Mir gefiel das Gemeinschaftliche“, sagte Baier im November 2018 zur …
Spät am Abend klingelte das Telefon. AB war dran. Es gebe Neuigkeiten,
sagte der Mann, der eigentlich Andreas Baier hieß, den aber niemand so
nannte, den alle nur mit seinen Initialen riefen, AB, kurz, knapp,
unprätentiös. AB also war dran und sagte mit seinem unverkennbarem
badischen Singsang: Am kommenden Morgen werde die Polizei in der Kreutziger
Straße räumen. Mindestens eins des halben Dutzend besetzter Häuser in der
Friedrichshainer Straße.
Dass ein Hausbesetzer wie AB diese Info vorab hatte, war mehr als
ungewöhnlich. Dass einer aus der ansonsten sehr presseskeptischen Szene
dann auch noch einen Journalisten anrief und ihm anbot, die Nacht vor Ort
auf seinem Sofa zu verbringen, war auch nicht gerade normal. Aber AB hatte
Kontakte in alle Richtungen. Zur Presse, in die Politik, offenbar sogar bis
hin zur Polizei. Und er nutzte sie.
So kam es, dass ich am frühen Morgen des 29. Oktober 1996 als
[1][Journalist vom Balkon der Kreutziger Straße 23 berichten konnte], wie
mehrere Hundertschaften der Polizei den Kiez weiträumig absperrten und
gleich aus drei Häusern in der Nachbarschaft die BewohnerInnen verdrängten.
Es war ein Tag der Niederlage. Für die Szene, für AB. Jörg Schönbohm, der
CDU-Innensenator, der wenige Monate zuvor bei seinem Amtsantritt
angekündigt hatte, gegen die noch rund 40 besetzten Häuser der Stadt
vorzugehen, war wieder einmal schneller gewesen.
## Auf die Schnelle einen Beitrag zusammenflicken
AB war damals Mitte 30 – und damit ein alter Hase in der linken Szene. Als
20-Jähriger war Andreas Baier aus Pforzheim nach Westberlin gekommen, um
beim Lette-Verein eine Fotografenlehre zu beginnen. Das war 1980, das Jahr,
in dem die Hausbesetzerszene begann, binnen wenigen Monaten die Lage in der
Mauerstadt zu prägen. Bei seinen nächtlichen Jobs in der Druckerei des
Tagesspiegels lernte er Besetzer kennen, wenig später zog er in ein
Hausprojekt an der Lehrter Straße in Moabit.
Dann arbeitete er beim bis 1991 existierenden links-alternativen Radio 100
als Techniker. Dort galt er als einer von zweien, die auf die Schnelle
einen Beitrag zusammenflicken konnten. Und sein Spruch „Manchmal frage ich
mich – was machen wir hier eigentlich“ wurde zum Jingle des Senders.
1990, im Sommer der Anarchie nach dem Mauerfall, war er wie so viele in den
Ostteil der Stadt gezogen und hatte eins der Häuser an der Kreutziger
Straße mitbesetzt. Er mischte bei FIPS, dem Verein Friedrichshainer
Infrastrukturprojekt in Selbstverwaltung, der Baumaterialien für die
Besetzerszene organisierte, genauso mit wie im Vorstand von [2][SONED],
einem Netzwerk für Umwelt und Entwicklung, das seinen Sitz – natürlich – …
der Kreutziger Straße hat.
Und als sich im März 1996, wenige Monate nach Ende des Krieges in Bosnien,
ein Subkultur-Tross mit den [3][„Berlin Bands for Bosnia“] ohne öffentliche
Förderung, dafür mit jeder Menge Engagement zum Kulturaustausch auf den Weg
in [4][das in Trümmern liegende Land auf dem Balkan] machte, saß AB am
Steuer eines der Fahrzeuge. Er war nie einer von denen, die in vorderster
Reihe Reden schwangen. Er war einer, der macht, der, der den
Schraubenzieher zur Hand hat.
## Wie ein Oldtimer mit Sondergenehmigung
Einmal, so geht eine gern erzählte Anekdote, habe für eine Sendung des
Offenen Kanals auf dem Schlossplatz der Strom gefehlt. Da habe AB
kurzerhand eine Laterne angezapft. Anschließend sei dort wochenlang die
Beleuchtung kaputt gewesen. Ob die Geschichte so stimmt?
Alfons Kujat zuckt mit den Schultern und lacht. „Passen würde sie schon zu
ihm“, sagt der Schauspieler, der 28 Jahre lang mit AB im selben Haus
wohnte. Garantiert aber sei, dass AB mal für ein Theaterprojekt auf dem
Mariannenplatz ein uraltes Zirkuszelt aus Baumwolle mit einer Elektroanlage
versehen habe, die so eigentlich nicht mehr ging. Als dann ein Typ vom Amt
die Anlage nicht abnehmen wollte, habe AB eine Urkunde hervorgezaubert, die
belegte, dass Zelt und Elektroinstallation zusammengehören – wie ein
Oldtimer mit Sondergenehmigung. Das Theaterprojekt war gesichert.
Oder, Kujat holt weit mit den Armen aus, die Geschichte, wie er mit seinem
Freund AB im Küchenteam der taz gearbeitet hatte. Als sie im November 1990
gehört hatten, dass die besetzten Häuser in der Mainzer Straße geräumt
werden, da hätten sie gleich ihre Schürze abgelegt und seien losmarschiert.
„Da kam dieser Redaktionsleiter, wie hieß der noch?“, Kujat grübelt kurz,
hält sich aber nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf, „der rief
jedenfalls gleich, ihr seid entlassen! Ich habe den nur gefragt, wie er als
Einzelner im Kollektiv so eine Entscheidung treffen könne.“ Und AB? „Der
hat nur gesagt, ach ja, morgen komme ich auch nicht – und dann für Radio
100 über die Räumung berichtet.“
„Mir gefiel das Gemeinschaftliche; eine Gruppe, in der der Einzelne
aufgehoben war. Und zusammen zu bestimmen, wie man leben will.“ So erklärte
AB bei einem Gespräch im letzten November, was ihn an der Besetzerszene
reizte. Im Westberliner Häuserkampf habe er aber auch begriffen, „dass man
offenbar ab und zu Steine schmeißen muss. Das haben uns die Medien mit
ihrer Gier nach Gewalt gelehrt. Ohne die Militanz hätten wir nie Gehör
gefunden und hätten die Kahlschlagsanierung nicht stoppen können.“
## Der Kampf um die Häuser
Dennoch betonte er: „Ich war immer ein Realo, ein Verhandler.“ Er sei
keiner der Autonomen gewesen, die besetzte Häuser nur als Vehikel auf dem
Weg zur Weltrevolution gesehen hätten. „Die Weltrevolution können wir auch
erst mal verschieben“, sagte AB, „und zuvor die Häuser als Freiräume
sichern.“
Das ist AB und seinen MitstreiterInnen mit ihrem wohl wichtigsten Projekt
gelungen: der [5][SOG], der Selbstverwalteten Ostberliner
GenossInnenschaft. Es habe schon allein Monate gebraucht, um das große „I“
im Namen beim zuständigen Verband durchzusetzen, hat AB mal erzählt. Noch
anstrengender war der Kampf um die Häuser. Damals, im Oktober 1996, als
Schönbohms Truppen in die Kreutziger einritten, wurde auch ein Haus
geräumt, bei dem die SOG mit dem Eigentümer über einen Kauf verhandelte.
Das war nach dem Polizeieinsatz passé. Bei fünf anderen Häusern [6][waren
ABs GenossInnen erfolgreicher] – das zahlt sich aus, auf Dauer.
In der Kreutziger 23 liegt die Miete heute noch bei rund 3,60 Euro pro
Quadratmeter. Das zeigt nicht nur, welches Potenzial Wohnungspolitik haben
könnte, wenn sie sich das alte Besetzermotto „Die Häuser denen, die drin
wohnen“ zu Herzen nähme, anstatt Fördermilliarden an Eigentümer zu
verpulvern. Es schafft obendrein Freiräume – im Wortsinn.
Unten im Haus befindet sich links der „Mieterladen“. Rechts hat ABs letztes
Herzensprojekt Platz gefunden: das [7][„Studio Ansage“]. Es kann die Räume
mietfrei nutzen. Jeden Mittwoch wird von hier auf 88,4 MHZ, der [8][von
einem Zusammenschluss Freier Radios] genutzten Frequenz, gesendet. „Der
Hauptpunkt von unserem Projekt ist, dass wir Gegenöffentlichkeit machen“,
erklärt AB in [9][einem Video, das man auf YouTube findet]. Man wolle ein
Sprachrohr sein für lokale Akteure, die was für die Stadt, für die Umwelt
tun.
## Er zog sich zurück, aber nicht ganz
Das Ganze läuft ehrenamtlich, die Geräte wurden zusammengefunden, erzählt
Daniel Schmidt, einer der Radiomacher. Das Mischpult stammt noch von Radio
100. Wenn was nicht mehr lief, konnte AB das löten. Er kümmerte sich auch
um die Finanzen, „er konnte mit Zahlen jonglieren“, sagt Schmidt. Er habe
25 Stunden am Tag gearbeitet. Und dass es im Medienstaatsvertrag künftig
Verbesserungen für die Freien Radios gebe, liege auch daran, „dass AB immer
Dampf gemacht hat“.
AB habe immer eine „punkrockige Rangehensweise“ gehabt, ergänzt Schmidts
Mitstreiter Tim Schleinitz. „Wenn etwas nicht funktioniert, trotzdem
machen. Egal was du kannst oder nicht.“ Und das habe er auch an die
Jüngeren weitergegeben, sagt Schmidt. Für ihn sei AB so eine Art Ziehvater
gewesen, einer, der auch Frischlinge schnell mal eine ganze Sendung fahren
ließ. „Er hat einem gezeigt, wie man aufstehen kann, aber aufstehen
musstest du dann allein.“
Vor anderthalb Jahren bekam AB dann die Diagnose: Leukämie. Er zog sich
zurück, aber nicht ganz. Noch im Februar war er im Radio zu hören. Bei
seiner Sendung „DrumRumGelabert“ redete er mit Alfons Kujat und Freke Over,
der in den 1990ern als Hausbesetzer für die PDS im Berliner
Abgeordnetenhaus saß. Für die letzte Sendung wurde AB aus dem Krankenhaus
zugeschaltet. Sie sprachen über Todesfälle auf dem Bundeswehrsegler „Gorch
Fock“, über Rußfilter für Spreedampfer und Silvesterraketen – und über
stadtbekannte Typen, die aus dem Friedrichshainer Kiez verschwunden sind.
Eigentlich, sagt Alfons Kujat jetzt, hätten wir auch eine ganze Sendung
über AB machen können.
Der verabschiedete sich kurz vor Ende der Sendung, weil gerade die Ärztin
reingekommen war. In der Nacht zum 7. März ist er gestorben. Er brauche mal
eine Pause, habe er kurz vorher noch gesagt, erzählen seine Freunde.
## Größtmögliche Ehrerbietung
Am Donnerstag wäre Andreas Baier 59 Jahre alt geworden. Am Freitag um 10
Uhr gibt es eine öffentliche Trauerfeier in der Kapelle auf dem Alten
Luisenstädtischen Friedhof am Südstern. Anschließend wird AB im engsten
Kreis beerdigt.
Eins ist Tim Schleinitz noch wichtig. „Ich will überflüssig sein, gerade
hier in diesen selbstorganisierten Zusammenhängen ist es wichtig, dass es
auch ohne mich funktioniert“, sagt der junge Radiomacher. „Da möchte ich
kein AB werden.“ Es klingt wie Kritik. Aber es ist die größtmögliche
Ehrerbietung. Denn ohne AB, das wissen alle, wird es nicht funktionieren.
Jedenfalls nicht so, wie es AB gemacht hat.
Mitarbeit: Michael Sontheimer
3 Apr 2019
## LINKS
[1] /!1430983/
[2] https://soned.de/
[3] /!3207609/
[4] https://youtu.be/_jcW5QLUTdQ
[5] https://www.sogeg.de/
[6] /!1318137/
[7] https://www.mixcloud.com/studioansage/
[8] https://fr-bb.org/
[9] https://youtu.be/NCLo1jSuJFE
## AUTOREN
Gereon Asmuth
## TAGS
Andreas Baier
Hausbesetzer
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