Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Acht Jahre Krieg in Syrien: Der Totengräber von Izmir
> Auf einem Friedhof im westtürkischen Izmir bestattet ein Syrer
> Geflüchtete, die in der Türkei gestorben sind. Die Identität von vielen
> bleibt ungeklärt.
Bild: Viele Kinder von Geflüchteten sind am Tag ihrer Geburt gestorben. Şeho …
Auf dem Friedhof Doğançay, der sich nordöstlich von Izmir am Fuße des
Berges Yamanlar ausbreitet, ist nichts anderes zu hören als das Geräusch
von Schaufeln und Erde, die auf einen Haufen geworfen wird. Seit dem ersten
Wärmeanstieg des Jahres sprießen erste Frühlingsblumen zwischen den
schneeweißen Grabsteinen. Der Syrer Şeho Abbas* hebt ein neues Grab aus.
Dieser Teil des Friedhofs ist für die in Izmir und Umgebung verstorbenen
Geflüchteten bestimmt. Die meisten von ihnen kommen aus Syrien.
Das türkische Staatsangehörigkeitsrecht regelt, dass in der Türkei
verstorbenen Geflüchtete, die nicht in ihr Heimatland zurückgeführt werden
können, auf anonymen Grabfeldern des Friedhofs zu bestatten sind. Laut dem
Migrationsforscher an der Hacettepe Universität in Ankara, Murat Erdoğan,
sind in der Türkei in den vergangenen acht Jahren mehr als 10.000 Syrer
gestorben. Die meisten starben bei der Flucht über das Meer, bei der Geburt
oder unmittelbar nach der Geburt.
Auf dem Doğançay-Friedhof gibt es hunderte Gräber syrischer Geflüchteter,
die mit der Zeile „Identität unbekannt“ versehen sind. An den Grabstellen
der Babys ist lediglich eine kleine Holztafel angebracht, auf der die
Geburts- und Todesdaten stehen. Die Gräber der Mädchen sind mit rosa
Halstüchern, Puppen, bunten Blumen und Perlen geschmückt. Die Gräber der
Jungen werden eher mit blauen Tüchern bedeckt, an ihre Stirnseite hat man
gelbe und blaue Schnuller gelegt.
## Auf der Flucht verloren viele Menschen einander
Seit zwei Jahren arbeitet Şeho Abbas hier. In Syrien war er Bauer, nun
mache er diese Arbeit, weil er nichts anderes könne, als mit Erde zu
arbeiten, sagt er. Nachdem er vor acht Jahren vor dem Bürgerkrieg in Syrien
geflüchtet ist, arbeitete er zunächst im Umland von Izmir als
Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. Wegen der unerträglichen
Arbeitsbedingungen dort sah er sich gezwungen, in die Stadt zurückzukehren.
Über einen Bekannten hat er nach langer Arbeitslosigkeit schließlich den
Job auf dem Friedhof gefunden. Jedes Mal, wenn der Leichnam eines
Geflüchteten hier ankomme, erinnere ihn das an den eigenen Schmerz, erzählt
Abbas: „Es fühlt sich an, als ob jeder verstorbene Syrer ein Verwandter von
mir ist. Obwohl ich ihre Gesichter nicht sehe, kommt es mir so vor, als
wären wir zusammen in einer Familie aufgewachsen. So ein Schicksal hat der
Krieg uns bereitet.“
Vor genau acht Jahren brach in Syrien der Krieg aus: Am 15. März 2011
fanden die ersten Demonstrationen gegen das Regime statt, im April
breiteten sie sich dann im ganzen Land aus. Um die Demonstrationen und
Aufstände niederzuschlagen, schoss die Armee auf die eigene Bevölkerung.
Was dann geschah, ist bekannt. Laut einem Bericht der Syrischen
Beobachtungsstelle für Menschenrechte von März 2018 wurden während des
Syrienkrieges rund 353.900 Personen, darunter 106.000 Zivilisten, getötet.
Nicht eingerechnet in diese Zahl sind die 56.900 verschwundenen Menschen,
von denen angenommen wird, dass sie tot sind. Zwar lassen sich die
Informationen der Beobachtungsstelle mit Sitz in Großbritannien nicht
unabhängig überprüfen – ebenso wenig aber auch die Zahlen anderer Stellen.
Die meisten syrischen Toten auf dem Doğançay-Friedhof wurden 2015 und 2016
bestattet. Im selben Jahr wurden der Flüchtlingspakt zwischen Europa und
der Türkei geschlossen und die Sicherheitsvorkehrungen zur Verhinderung
irregulärer Grenzübertritte in der Ägäis erhöht. Der türkischen Küstenwa…
zufolge kamen allein in den Jahren 2014 bis 2016 471 Geflüchtete in
türkischen Gewässern ums Leben.
## Die Dunkelziffer ist weit höher
In diese Statistik gingen jedoch nur jene Geflüchteten ein, deren Körper
gefunden wurde, sagt die Vorsitzenden des Flüchtlingswerks İzmir Mülteci
Derneği, Pırıl Erçoban. Die Dunkelziffer sei weit höher. „Viele Leichname
von Geflüchteten können im Meer nicht geborgen werden. Die Küstenwache
fragt die Überlebenden von Bootsunglücken, wie viele Menschen nicht
gerettet werden konnten“, sagt sie. „Die Zahlen, die Menschen schätzen,
können auch falsch sein. Deshalb ist davon auszugehen, dass weit mehr
Geflüchtete gestorben sind.“
Selbst wenn die Toten geborgen werden, lässt sich ihre Identität oft nicht
feststellen. „Bei den meisten der im Meer Ertrunkenen ist die Identität
ungeklärt. Entweder die Angehörigen haben die verstorbenen Verwandten nicht
gefunden, oder sie können nicht herkommen, weil sie längst in Europa sind“,
erzählt Abbas. Die wenigen Syrer, die die Gräber ihrer Angehörigen auf dem
Friedhof besuchen, wissen das, und beten auch an den anonymen Grabstätten,
sagt er. Aber heute kommt niemand die syrischen Gräber besuchen.
In den ersten Jahren des Kriegs in Syrien, als viele ihre Angehörigen auf
der Flucht über das ägäische Meer verloren, gründete eine Gruppe von
Friedensaktivisten in Izmir eine Plattform für vermisste Geflüchtete. Das
Ziel: Menschen helfen, ihre Angehörigen wiederzufinden, zum Beispiel mit
Vermisstenmeldungen. Fidel Kaya, einer der Gründer der Plattform,
berichtet, dass die Zahl der Vermisstenmeldungen im vergangenen Jahr
deutlich zurückgegangen sei.
Das liegt daran, dass sich die Fluchtroute vom ägäischen Meer an den
türkisch-griechischen Grenzfluss Evros verschoben hat. Außerdem sind viele
Geflüchtete inzwischen in der Türkei sesshaft geworden.
## In Syrien war er Bauer, nun bestattet er Tote
Şeho Abbas steht am Grab eines Säuglings und betet. Gut ein Jahr ist es
her, dass hier ein Baby namens Muhammed bestattet wurde: Geburtsdatum
16.03.2018, Todesdatum am selben Tag. Nachdem Abbas sein Gebet beendet hat,
säubert er die Erde auf dem Grab von kleinen Zweigen und Gestrüpp. „Als wir
hierherkamen, war meine Frau schwanger. Auf dem Weg haben wir viele Frauen
getroffen, die eine Fehlgeburt hatten. Wir hatten deshalb große Angst,
unser Kind zu verlieren. Unsere Tochter ist jetzt acht Jahre alt“, erzählt
er und richtet sich auf.
Abbas' Tochter Maher geht nicht zur Schule, weil ihre Eltern sich den
Schulbesuch nicht leisten können. Türkisch zu sprechen hat sie nicht
gelernt, deshalb kann sie sich mit den gleichaltrigen Kindern nicht
verständigen und verbringt den ganzen Tag mit ihrer Mutter zuhause. Die
Kinder von syrischen Geflüchteten, die in der Türkei auf die Welt kommen,
werden bei den Behörden als „staatenlos“ registriert. Laut der türkischen
Einwanderungsbehörde wurden zwischen 2011 und 2019 etwa 410.000 syrische
Kinder in der Türkei geboren.
Juristen, die für die Flüchtlingsorganisation Halkların Köprüsü Derneği
(„Verein Brücke der Völker“) arbeiten, fordern in einem 2018
veröffentlichten Bericht, dass das Problem der Staatenlosigkeit dringend
gelöst werden soll. Es sei von existenzieller Bedeutung, dass statt des
„Abstammungsrechts“, bei dem die Staatsangehörigkeit ausschließlich vom
türkischen Elternteil weitergeben wird, das Recht nach dem
„Geburtsortprinzip“ zur Grundlage des türkischen Staatsangehörigkeitsrech…
gemacht wird, um den betroffenen Kindern ein sicheres Leben zu ermöglichen.
Abbas klopft den Staub von seiner Mütze, den die Erde vom Grab des kleinen
Muhammed dort hinterlassen hat, und erinnert sich an die Ereignisse in
Syrien vor genau acht Jahren: „Wir haben gar nicht verstanden, was los ist,
auf einmal wurden unsere Dörfer bombardiert. Wir konnten nichts dagegen
tun, wir verließen unsere Häuser und machten uns auf den Weg. Von unserem
Hab und Gut ist nichts mehr übrig, sie haben unser Heimatland zerstört. In
meinem Dorf war ich Bauer. Jetzt bestatte ich Tote in dem Boden, den ich
bearbeite. Das tut mir in der Seele weh.“
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
*Der Name wurde von der Redaktion geändert
15 Mar 2019
## AUTOREN
Sevda Aydın
## TAGS
taz.gazete
Schwerpunkt Syrien
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kommentar Syrien-Geberkonferenz: Nicht länger das Regime finanzieren
Wer für Syriens Wiederaufbau zahlt, stärkt jene Strukturen, die vor acht
Jahren zum Aufstand führten. Die Hilfe muss den Opfern gelten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.