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# taz.de -- Kinder in Suchtfamilien: Mama kann gerade nicht
> Das Berliner Patenschaftsprojekt „Vergiss mich nicht“ begleitet Kinder
> von suchtkranken Eltern. Das kann ihnen helfen, selbst frei von Sucht
> aufzuwachsen.
Bild: Die Probleme von Kindern suchtkranker Eltern werden oft übersehen
Daniela Müllers Mittwochnachmittag gehört Sophie. Jede Woche trifft sich
die 38-Jährige mit ihrem Patenkind. Sophie darf entscheiden, was sie
unternehmen. Oft gehen sie ins Museum, manchmal etwas essen. Oder sie
machen einen Spaziergang und reden ein bisschen, so wie an diesem sonnigen
Mittwoch, kurz vor Sophies zwölftem Geburtstag.
„Hab ich mich wirklich bei unserem ersten Treffen auf den Boden gelegt?“,
fragt Sophie und kichert ungläubig. „Ja, du hast dich auf den Fußweg
gelegt. Ich habe dann gesagt, ich gehe schon mal weiter und warte dann vorn
an der Ecke auf dich“, sagt Daniela Müller und muss bei der Erinnerung auch
lachen. „Und du bist dann ja auch nachgekommen.“
Seit viereinhalb Jahren treffen sich die beiden. Der Kontakt ist über den
Verein „Vergiss mich nicht“ zustande gekommen, ein Patenschaftsprojekt für
Kinder suchtkranker Eltern. „Deine Mutter wollte eine Person über 30, die
auch Grenzen setzen kann“, erzählt Daniela Müller. „Wer weiß, wie es
weitergegangen wäre, wenn ich damals angefangen hätte zu diskutieren oder
dich getragen hätte.“
Für Sophie ist das alles unfassbar lang her. „Ich mag Daniela sehr doll“,
sagt sie, „wie eine Patin halt.“ Sie klingt unbekümmert, Gespräch und
Umgang zwischen den beiden wirkt vertraut. „Wir schreiben uns auch unter
der Woche, vor allem, um zu besprechen, was wir unternehmen“, sagt Sophie.
Dann zählt sie auf, was sie sich zum Geburtstag wünscht, erzählt von ihren
älteren Brüdern, die sie ab und zu besucht, von Leichtathletik und von der
Schule. „Es gab eine Phase, da wolltest du Astrologin oder Astronautin
werden“, erzählt Müller, „erinnerst du dich?“ Da seien sie dann in die
Sternwarte gegangen. Zurzeit ist ihr Plan, Geologin werden. Auch
Graffitikünstlerin könne sie sich vorstellen. „Ich sammle Steine“, sagt
sie. Nicht unbedingt Edelsteine. Eher solche, in denen man die
Sedimentschichten noch erkennen kann.
## Kinder werden oft übersehen
„Kinder aus Familien, in denen ein Elternteil suchtkrank ist, werden oft
übersehen, weil sich so viel um die Eltern und deren Krankheit dreht“, sagt
Anna Bandt, Psychologin und Koordinatorin des Patenschaftsprojekts. „Dabei
sind Kinder von suchtkranken Eltern besonders gefährdet, später selbst an
einer Sucht oder an einer psychischen Störung zu erkranken.“ Etwa zwei
Drittel der Kinder seien betroffen. „Wir wollen durch die Patenschaften das
gesunde Drittel vergrößern“, sagt Bandt.
Forschungen hätten gezeigt, dass eine verlässliche Beziehung zu
Erwachsenen, die nicht abhängig seien, sich positiv auf die Entwicklung der
Kinder auswirke. „Die Kinder stehen unter großem Druck. Sie haben Probleme,
ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen, und sind oft sozial isoliert“, sagt
Bandt. Sie müssten häufig sehr früh Verantwortung übernehmen, sich um ihre
Eltern und den Haushalt kümmern, denn zu Hause seien Essensvorräte,
Getränke, Waschpulver oder Putzmittel oft aufgebraucht.
„Wir hatten den Fall, dass eine Patin ihr Patenkind gefragt hat, was sie
unternehmen wollen, und der dreijährige Junge hat erst mal eine
Einkaufsliste runtergerattert, was sie alles besorgen müssen“, sagt Bandt.
Daher gehe es bei den Treffen vor allem darum, die Kinder darin zu
unterstützen, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und mit den Paten
altersgerechte Dinge zu unternehmen. „Damit das Kind mal beiseite lassen
kann, was mit den Eltern ist.“
Patin Daniela Müller berichtet von ähnlichen Erfahrungen. „Sophie kannte
sich mit 7 Jahren besser im öffentlichen Nahverkehr aus als ich, sie wusste
immer, wie sie fahren muss, um wieder nach Hause zu kommen.“ Bandt erzählt,
dass ihr oft die Kinder zurückschreiben, wenn sie den Eltern eine SMS
schickt. Meist mit dem Zusatz: „Mama oder Papa kann gerade nicht.“ Auch das
sieht sie als Zeichen dafür, dass die Kinder oft diejenigen sind, die den
Alltag ihrer Eltern mitorganisieren.
## Belastet mit Scham
Eine Suchterkrankung der Eltern ist laut Bandt für die Kinder außerdem mit
viel größerer Scham belastet als eine Krebserkrankung oder eine Depression
der Eltern. „Deshalb errichten die Kinder oft eine Mauer um die ganze
Familie. Sie laden zum Beispiel keine Freunde zu sich nach Hause ein und
werden dann selbst auch kaum zum Spielen oder zu Geburtstagen eingeladen“,
sagt sie.
Die meisten Eltern der 17 Kinder, die der Verein zurzeit betreut, haben
Alkoholprobleme, einige Eltern nehmen an einem Methadon- oder
Ersatzprogramm teil. Nach Angaben der Senatsverwaltung für Jugend leben
Kinder von Eltern, die von Opiaten oder Kokain abhängig sind, häufig nicht
mehr im Haushalt der Eltern. „Unsere Erfahrung aus dem Patenschaftsprogramm
ist, dass die Kinder es gut lernen können, ihre eigenen Gefühle und
Bedürfnisse wieder besser wahrzunehmen. Sie können dadurch also ein Stück
weit aufholen“, sagt Bandt. Der Bedarf sei groß, zurzeit hat sie eine
Warteliste. Viel mehr Patenschaften könne sie mit ihrer Dreiviertelstelle
aber kaum betreuen.
Die Pat*innen werden oft – neben den Eltern – zu den wichtigsten Menschen
im Leben der Kinder. Deshalb legt Bandt Wert darauf, dass sie die Kinder
auch über Jahre begleiten. „Die Kinder haben genug Wechsel: Die Eltern
leben häufig getrennt, sind emotional nicht besonders stabil, manchmal
leben die Kinder zeitweise nicht bei den Eltern“, sagt sie. Die Pat*innen
könnten da Verlässlichkeit bieten. Deshalb sei auch ein gewisser Abstand
zur Familie wichtig, die Treffen finden immer außerhalb der Wohnungen
statt.
Einmal im Monat tauschen sich die Pat*innen untereinander aus. Bei diesen
Treffen gehe es oft um Abgrenzung oder um spezifischen Rat. „Ein Kind kam
im Winter immer ohne Mütze, da hat die Patin gefragt, ob sie ihm eine Mütze
kaufen kann“, sagt Bandt. „Unsere Empfehlung war dann, dem Kind die Mütze
während der Treffen zu geben und sie dann wieder mit nach Hause zu nehmen“,
sonst sei sie beim nächsten Treffen wahrscheinlich wieder weg.
„Bevor ich nach Berlin kam, hatte ich mich ehrenamtlich für den
Kinderschutzbund engagiert und wollte hier weiter ehrenamtlich arbeiten“,
sagt Patin Daniela Müller. „Dann habe ich einen Zeitschriftenartikel über
Patenschaften gelesen und mich bei mehreren Stellen in Berlin gemeldet.“
Die damalige Koordinatorin von Vergiss mich nicht sei die Erste gewesen,
die sich zurückgemeldet habe. Ehrenamt sieht sie als Ausgleich zu ihrer
Arbeit. „Ich bin eher der soziale Typ, mache aber in meinem Beruf als
Personalerin das komplette Gegenteil“, sagt Müller. „Und es macht Spaß, i…
lerne viel und bekomme ganz anders mit, wie unsere Gesellschaft
funktioniert.“ Zu verstehen, dass jemand mit einem solchen familiären
Hintergrund andere Voraussetzungen mitbringe, das könne sie wiederum auch
in ihren Beruf einbringen.
„Sophie hat inzwischen verstanden, dass ich nicht weglaufe“, sagt Müller.
„Anfangs wollte sie mich bei unseren Treffen nicht allein auf die Toilette
lassen und war panisch, wenn wir uns bei den Verabredungen nicht sofort
gefunden haben.“ Sophie sei selbstständiger geworden und wisse, dass sie
sich jederzeit bei ihrer Patin melden könne, um zu reden.
Zurzeit lebt sie nicht bei ihrer Mutter, hat aber mehrmals in der Woche
Kontakt zu ihr. Sie sei gut in der Schule, beliebt in ihrer Klasse und sehr
breit interessiert für eine fast Zwölfjährige. „Es ist schon erstaunlich,
in wie vielen Museen wir schon zusammen waren“, sagt Müller. Jüdisches
Museum, Anne-Frank-Haus, Naturkundemuseum, Technikmuseum. An diesem Tag
gehen die beiden nach dem Spaziergang aber einfach nur zusammen essen.
13 Mar 2019
## AUTOREN
Uta Schleiermacher
## TAGS
Sucht
Alkoholabhängigkeit
Kinderschutz
Drogensucht
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