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# taz.de -- Regierungskrise in Kanada: Trübe Zeiten für Politstar Trudeau
> Zwei Ministerinnen sind wegen Trudeaus unsauberen und chauvinistischen
> Führungsstils zurückgetreten. Trudeau deckte eine korrupte Firma.
Bild: Späte Entschuldigung: Trudeau bittet die Inuit um Vergebung für erlitte…
Vancouver taz | Die Entschuldigung war lange überfällig. Kanadas
Regierungschef Justin Trudeau steht in einem schmucklosen Konferenzsaal in
einem Hotel in Iqaluit und wischt sich eine Träne von der Wange. Dann sagt
er Sorry, einmal, zweimal, mehrmals. „Der Rassismus und die Diskriminierung
der Inuit-Ureinwohner ist und war unentschuldbar. Wir bitten um Verzeihung
für den Schmerz, den wir Ihnen zugefügt haben.“
Trudeau ist an diesem Freitagmorgen in das verschneite Arktisstädtchen
gekommen, um Buße zu tun. Buße für die Verbrechen, die Kanada den
Ureinwohnern des Nordens lange angetan hat: Im letzten Jahrhundert waren
zahlreiche Inuit von der Regierung gewaltsam von ihren Angehörigen getrennt
und gegen ihren Willen zur Krankenbehandlung in den Süden geschickt worden.
An diesem Trauma leiden viele Inuit noch heute: Familien wurden wahllos
auseinandergerissen, viele Patienten verschwanden spurlos, nicht wenige
starben mit gebrochenem Herzen. Es ist ein dunkles Kapitel in der
Geschichte Kanadas, das der Premierminister in Iqaluit nun endlich
aufzuarbeiten beginnt. Trudeaus Entschuldigung wirkt aufrichtig, seine
Anteilnahme echt.
Man nimmt es ihm ab, dass ihm das Schicksal der greisen Frauen und Männer,
die sich zur offiziellen Entschuldigung im „Frobisher Inn“ versammelt
haben, nahe geht. Einige von ihnen umarmen den Premier und zeigen sich
dankbar für den Moment, der für viele von ihnen ein Meilenstein ist. Für
zahlreiche Kanadier ist es ein Moment, der ihnen in Erinnerung ruft, warum
sie ihn vor gut drei Jahren ins Amt gewählt haben: Trudeau hatte ihnen
einen Neustart versprochen.
Er wollte mit den althergebrachten Methoden in der Politik aufräumen und
viele Dinge anders machen. Er wollte ein Sprachrohr sein für Stimmen, die
lange überhört wurden. Wie die der Inuit von Iqaluit. In seiner Siegesrede,
damals nach jenem denkwürdigen Wahltriumph über die Konservativen im
Oktober 2015, hatte Trudeau ein neues Zeitalter versprochen und sich eines
Zitats des früheren Regierungschefs Sir Wilfried Laurier bedient:
## Politik pro Frauen, Flüchtlinge, LGBT und Cannabis
„Sunny ways“, sonnige Zeiten also, sollten seine Regierung prägen. Es
sollte eine Regierung sein mit Ethos und moralischem Anspruch. Trudeau
zielte hoch, und lange hatte es den Anschein, er werde es schaffen. Er
besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen, öffnete sein Land für
Flüchtlinge, marschierte auf Pride-Paraden mit, [1][legalisierte Cannabis],
betonte die Menschenrechte und machte die Aussöhnung mit den Ureinwohnern
zu einem Grundpfeiler seiner Politik.
Er war ein Hoffnungsträger. Nun jedoch steckt Trudeau in der wohl tiefsten
Krise seiner Amtszeit. Gut ein halbes Jahr vor den nächsten
Parlamentswahlen untergräbt eine Justizaffäre seine Glaubwürdigkeit.
Zahlreiche Umfragen lassen seine liberale Partei hinter die Konservativen
zurückfallen. Trudeaus Abwahl im Herbst scheint nicht mehr ausgeschlossen
zu sein. Von „Sunny ways“ ist in der Hauptstadt Ottawa derzeit nichts mehr
zu spüren.
## Einzige Ministerin indigener Abstammung
Zwei seiner prominentesten Ministerinnen haben in den letzten Wochen das
Handtuch geworfen, und sein engster Berater in der Staatskanzlei gab auf.
Der Ethikbeauftragte des kanadischen Parlaments ermittelt wegen möglicher
Verfehlungen Trudeaus, und die konservative Opposition fordert seinen
Rücktritt. Zentral geht es um den Vorwurf von Günstlingswirtschaft, um
einen uneinsichtigen Regierungschef und um das zerrüttete Verhältnis zu der
früheren Generalstaatsanwältin und Justizministerin.
Jody Wilson-Raybould galt bis zur ihrem Rücktritt im Februar als eine der
einflussreichsten Frauen im Kabinett und die einzige indigener Abstammung.
Als solche verkörperte sie seine „Sunny ways“ wie kaum eine andere. Doch
bei einem denkwürdigen Auftritt im Parlament in Ottawa vor zwei Wochen
brach Wilson-Raybould offen mit Trudeau.
Vor laufenden Kameras hielt sie ihm vor, sie in einem Korruptionsverfahren
gegen den kanadischen Baukonzern SNC-Lavalin monatelang politisch unter
Druck gesetzt und so die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet zu haben.
Seitdem ist für Trudeau nichts mehr, wie es einmal war. Toxisch sind die
Anschuldigungen, weil sie Trudeaus eigenem Anspruch nach einer sauberen und
transparenten Regierung zuwiderlaufen.
Dem kanadischen Unternehmen SNC-Lavalin wird vorgeworfen, zwischen 2001 und
2011 Schmiergelder in zweistelliger Millionenhöhe an die Familie des
früheren libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi gezahlt zu haben. Doch
statt der Justiz freie Hand zu lassen, habe der Regierungschef durch
Intervention erreichen wollen, dass es zu einer außergerichtlichen Einigung
kommt. Damit wollte er das Überleben des Unternehmens sichern, das in
seiner politischen Heimat Quebec ansässig ist.
## Trudeaus Handeln ist nicht ungesetzlich
Ein solches juristisches Verfahren ist in Kanada seit einer
Gesetzesänderung im letzten Jahr grundsätzlich möglich. Die Entscheidung
darüber obliegt jedoch den Anklagebehörden und der Justizministerin, nicht
dem Regierungschef. Die Affäre riecht nach einer Politik der alten Schule,
bei der es Politiker wegen Jobs in ihrem eigenen Wahlkreis mit
rechtsstaatlichen Verfahren nicht immer so genau nehmen.
Nach allem, was man weiß, ist bei der Aktion kein Geld geflossen, und auch
juristisch ist kein Schaden entstanden, weil Wilson-Raybould dem Druck
Trudeaus widerstehen konnte. Die versuchten Manipulationen waren auch nach
Aussagen der früheren Justizministerin offenbar nicht illegal. In vielen
Ländern, wie den USA unter Donald Trump, gehören Aktionen wie diese
wahrscheinlich sogar zum politischen Alltag. Doch Trudeau hatte für sich
höhere Maßstäbe gesetzt.
Finanzministerin Jane Philpott reichten jedenfalls die Verdachtsmomente
aus, um wie Wilson-Raybould ihren Rücktritt einzureichen. Die Affäre
berührt viele von Trudeaus erklärten Zielen: Gerechtigkeit, Ehrlichkeit,
Sauberkeit sowie einen fairen Umgang mit Frauen. Dass zwei prominente
Ex-Ministerinnen dem Regierungschef implizit Mobbing vorwerfen, was
offenbar auch Beweggrund für den Rücktritt der beiden war, passt nicht zu
seinem selbst erklärten Image als „Feminist“.
Mittlerweile hat eine weitere liberale Abgeordnete Trudeau einen
aggressiven Umgangston vorgeworfen und ihren Rückzug angekündigt. Bei den
Kanadiern verstärkt sich so der Eindruck, dass Trudeau ein Führungsproblem
hat und seine ehemalige Justizministerin schlicht kaltstellte. Tatsächlich
versetzte er im Januar für Beobachter völlig überraschend Wilson-Raybould
vom Justizministerium auf den weniger einflussreichen Posten als
Veteranenministerin, bevor sie später ganz zurücktrat.
## Baukonzern SNC-Lavalin unter Verdacht der Korruption
Trudeau stritt zwar ab, dass die Degradierung in Verbindung zur
SNC-Lavalin-Kontroverse stehe. Seine Ex-Ministerin dagegen glaubt, dass sie
strafversetzt wurde, nachdem sie sich beharrlich geweigert hatte, auf die
Staatsanwälte und Anklagebehörden einzuwirken. Sein Wort steht gegen ihr
Wort, und bislang scheinen die meisten Kanadier geneigt, ihr zu glauben und
nicht ihm. Dass das so ist, hat sich Trudeau auch selbst zuzuschreiben.
Hätte er sich frühzeitig bei seiner Ministerin entschuldigt und beizeiten
Fehler eingeräumt, wäre die Affäre wahrscheinlich nicht in diesem Maße in
die Schlagzeilen gerückt. Kanadas Regierungschef erwies sich indes als
beratungsresistent. Er beharrt bis heute darauf, in der Substanz nicht
falsch gehandelt zu haben. Was Wilson-Raybould für unlauteren Druck hält,
bezeichnet Trudeau als normale Diskussion am Kabinettstisch.
Bei einer Pressekonferenz letzte Woche unternahm er den Befreiungsschlag –
doch auch der ging schief. Trudeau räumte nur ein, was offensichtlich ist:
das Zerwürfnis zwischen ihm und seiner Ex-Ministerin, das schlechte
Krisenmanagement, das schwindende Vertrauen. Für seinen Versuch, Jobs bei
der Baufirma SNC-Lavelin zu retten, werde er sich niemals entschuldigen,
polterte er. Korruption hin, Korruption her.
## Ethikbeauftragter ermittelte schon fünfmal
Der Zweck heiligt also die Mittel – nun scheinbar auch bei Justin Trudeau.
Viele Kanadier sind darüber enttäuscht und haben das Gefühl, dass die Dinge
bei ihm nicht mehr viel anders laufen als bei den früheren Regierungen.
Tatsächlich hat der Ethikbeauftragte des Parlaments seit 2015 bereits
fünfmal gegen die Regierung Trudeau ermittelt und dabei in mindestens zwei
Fällen Verstöße festgestellt.
Das prominenteste Vergehen betraf Trudeau selbst. Im Dezember 2017 war er
mit einem Privathubschrauber des Aga Khan zum Familienurlaub auf die
Privatinsel des Milliardärs in die Karibik geflogen. Da die Stiftung des
Aga Khan in Kanada mit Steuergeldern gefördert wird, lag ein klarer
Interessenkonflikt vor, für den sich Trudeau auch damals nur zögerlich
entschuldigte.
Wie sehr ihm manchmal das politische Gespür abhandengekommen ist, zeigte
auch seine Indien-Reise vor gut einem Jahr. Trudeau kleidete sich für seine
Gesprächstermine in folkloristische Trachten, was bei seinen Gastgebern
allerdings gar nicht gut ankam und in Kanada als Anbiederung empfunden
wurde.
Der einst so coole Regierungschef, der bei internationalen Auftritten gern
mit bunten Socken auf sich aufmerksam macht, mit freiem Oberkörper am
Strand joggt und kein Instagram-Selfie auslässt, scheint von einem
politischen Überflieger und Hoffnungsträger auf einen
Durchschnittspolitiker geschrumpft zu sein, ein Politiker wie viele andere
mit Skandalen, Fehltritten und unappetitlichen Aktionen.
## Entschuldigung in eigener Sache blieb aus
In Iqaluit besann sich Trudeau wieder auf eins der Kernthemen seiner
politischen Karriere. Die Aussöhnung mit den Inuit war ehrlich gemeint und
wichtig. Ungünstigerweise für ihn bekam sein Auftritt im „Frobisher Inn“
allerdings wenig Aufmerksamkeit. Denn in Kanada hatten viele Bürger*innen
auf eine weitere Entschuldigung ihres Premiers gehofft – auf eine
Entschuldigung in eigener Sache.
10 Mar 2019
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## AUTOREN
Jörg Michel
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