Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Draußengeblieben
> Noch nie gab es so viele Plätze in der Kältehilfe wie in diesem Winter.
> Doch viele Obdachlose nutzen die Angebote nicht, weil die Zustände dort
> teils katastrophal sind. Zudem fehlen Unterkünfte für Süchtige, in denen
> Drogenkonsum erlaubt ist. Im nächsten Winter sollte sich das ändern,
> fordern Politiker und Experten
Bild: Straßenszene: Ein eilender Passant, ein Schlaflager am Bahnhof Zoo und d…
Von Susanne Memarnia und Karsten Thielker (Foto)
Es war der mediale Aufreger dieses Winters: das Video, das zeigt, wie
Polizisten bei der Räumung eines illegalen Camps in Mitte eine obdachlose
Frau gefesselt und mit Tuch überm Kopf abführen. Bürgermeister Stephan von
Dassel (Grüne), der sich rechtfertigte, der Bezirk habe den Menschen ja
Hilfe angeboten, die sie abgelehnt hätten, sah sich scharfer Kritik
ausgesetzt. Der Fall hat eine Frage virulent werden lassen, die man sich
streng genommen jedes Mal stellen muss, wenn man unter Brücken oder in
Hauseingängen eine provisorische Lagerstatt sieht: Warum ziehen Menschen –
selbst im Winter – die Pappe den Schlafplätzen in den Notunterkünften vor?
Schließlich gibt es inzwischen genug Plätze in der Kältehilfe – zumindest
stehen von rund 1.200 Plätzen in diesem Winter rund 185 pro Nacht leer.
Wobei: Kann es überhaupt sein, dass 1.200 Plätze genug sind in einer Stadt
mit geschätzt bis zu 10.000 obdachlosen Menschen? Eine Zählung, die
genaueres Wissen in dieser Hinsicht bringt, soll übrigens noch in diesem
Jahr stattfinden, hatte die zuständige Sozialsenatorin Elke Breitenbach
(Linke) Ende Dezember verkündet. Wenn es aber viel mehr Obdachlose als
Notschlafplätze im Winter gibt: Warum bleiben Plätze frei?
„Das liegt an den Zuständen in den Einrichtungen“, sagt André Hoek. Der
Straßensozialarbeiter, der sich seit einigen Wochen für die Organisation
Karuna um Obdachlose im Kältebahnhof Lichtenberg – der U-Bahnhof ist einer
von zwei Bahnhöfen, die in diesem Winter nachts geöffnet sind – kümmert,
lebte bis vor wenigen Monaten selbst auf der Straße. Er sagt: „In der
Kältehilfeeinrichtung, wo ich mal war, lagen 12 bis 15 Isomatten auf dem
Boden in einem Zimmer, das nicht größer als ein Wohnzimmer war.“ Die
Bettwäsche, sagt er, sei nur alle drei Tage gewaschen worden. In dem Raum
hätten „ein unglaublicher Lärmpegel“ und Spachbarrieren geherrscht, da do…
Obdachlose aus bis zu acht Ländern versammelt gewesen seien.
„Bestimmt ein Drittel der Leute war psychisch krank“, schätzt Hoek. „Man…
redeten über Stunden laut mit der Wand, es wurde geschrien, geklaut. Und
morgens um sechs Uhr wurden wir wieder rausgeschickt.“ Nach vier Tagen sei
er so erschöpft gewesen, dass er lieber unter eine Brücke gegangen sei.
Solche Klagen hört Dominika Kosik häufig. Als Streetworkerin bei der
Hilfsorganisation Gangway begleitet sie Obdachlose in Mitte. Auch sie sagt:
„Viele Kältehilfeeinrichtungen sind nur notdürftig eingerichtet, es ist
eng, laut, teils auch nicht besonders hygienisch.“
Senatorin Breitenbach will diese Kritik nicht gelten lassen: Es seien
„viele neue Plätze in Einrichtungen geschaffen worden, die kleine Zimmer
und gute sanitäre Anlagen haben“, sagt ihre Sprecherin, Regina Kneiding.
Wahr sei aber auch: „Kältehilfe ist das niedrigschwelligste Angebot, um ein
Erfrieren von obdachlosen Menschen in der Kälteperiode zu verhindern.
Priorität hat, eine ausreichende Zahl von Plätzen vorzuhalten.“
Genau diesen Ansatz kritisiert Taylan Kurt, bei den Grünen im Bezirk Mitte
zuständig für das Thema. „Kältehilfe ist allein auf Masse angelegt“, sagt
er – und gehe daher häufig am Bedarf vorbei. Und die Betroffenen beklagten
nicht nur die schlechten Zustände, die fehlende Privatsphäre. Was Kurt auch
oft hört: „Frauen wollen nicht in gemischte Unterkünfte gehen. Und es fehlt
an Plätzen für Rollstuhlfahrer.“
Hinzu kommt: Nicht wenige Obdachlose meiden Kältehilfeeinrichtungen, weil
sie dort keinen Alkohol und keine Drogen konsumieren dürfen. „Alkoholiker
schaffen aber gar keine ganze Nacht ohne“, sagt Hoek. Das hat auch Ortrud
Wohlwend, Sprecherin der Stadtmission, beobachtet. Ihre Organisation
betreut den Kältebahnhof Moritzplatz, der sich in diesem Winter zu einem
Übernachtungstreff für Drogenabhängige entwickelt hat. „Eine Einrichtung,
in der Menschen Alkohol und Drogen konsumieren dürfen, wäre sinnvoll“, sagt
sie nach dieser für sie neuen Erfahrung – und ist sich da mit
Sozialarbeitern wie Kosik und Hoek einig.
Auch die Grünen in Mitte, wo rund 40 Prozent aller Kältehilfeplätze
angeboten werden, wollen dies. Der Bezirk möge in der kommenden Saison
Vorgaben machen an die Betreiber der Kältehilfe, gruppenspezifische
Angebote für Drogen- und Alkoholabhängige, für Frauen sowie für
Rollstuhlfahrer zu schaffen, heißt es in einem Antrag der Fraktion für die
Bezirksverordnetenversammlung kommenden Donnerstag. Taylan Kurt: „Wenn wir
es schaffen, Angebote zu entwickeln, die dem Bedarf der Menschen
entsprechen, wird keiner mehr auf der Straße bleiben“, glaubt er.
Dafür sei aber auch eine bessere Finanzierung notwendig, so Kurt. Die 17
Euro pro Platz und Nacht, die Kältehilfeträger derzeit von den Bezirken und
diese wiederum vom Senat bekommen, reiche gerade für das übliche
„Massenprogramm“, aber nicht, um qualitativ gute Angebote machen zu können.
„Allein der Sicherheitsdienst frisst die Mittel oft auf.“
Das weiß man auch in der Sozialverwaltung. „Der Kostensatz muss neu mit der
Finanzverwaltung verhandelt werden“, bestätigt Kneiding. Ob es im nächsten
Winter eine drogentolerante Einrichtung geben wird, könne sie aber noch
nicht sagen. Nur eins sei sicher: „Die Kältehilfe wird weiter entwickelt
werden.“
Thema Obdachlosigkeit: Darf man Menschen in Unterkünfte zwingen?
gesellschaft 20–22; Erfahrungsbericht aus der Kältehilfe: schwerpunkt 44-45
23 Feb 2019
## AUTOREN
Susanne Memarnia
Karsten Thielker
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.