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# taz.de -- In Türkei inhaftierter Kölner Adil Demirci: Einer, der im Schatte…
> Seit April 2018 sitzt der Kölner Adil Demirci in einem türkischen
> Gefängnis. Seine Unterstützer kämpfen darum, dass er nicht vergessen
> wird.
Bild: Jeden Mittwoch halten Angehörige, Freunde und Unterstützer eine Mahnwac…
Am 14. Februar soll sein Prozess weitergehen. Seit zehn Monaten, seit dem
13. April 2018 sitzt Adil Demirci in türkischer Haft – [1][in dem selben
Gefängnis, in dem auch Deniz Yücel inhaftiert war.] Demirci ist 33 Jahre
alt, deutschtürkischer Staatsbürger, Sozialarbeiter, aber auch freier
Journalist. Er hat für die linke Nachrichtenagentur ETHA geschrieben und
übersetzt. Als Sozialarbeiter hat er in Remscheid mit geflüchteten
Jugendlichen gearbeitet. Die türkische Staatsanwaltschaft wirft ihm vor,
Mitglied in einer terroristischen Organisation zu sein. Die taz hat in den
vergangenen Tagen Angehörige und Unterstützer von Demirci in Deutschland
getroffen, die darum kämpfen, dass er nicht vergessen wird.
## Die Mutter
Aufrecht sitzt Elif Demirci auf dem Sofa ihrer Kölner Wohnung. Auf dem
Couchtisch steht ein Strauß roter Margeriten. Demirci, 64 Jahre alt, hat
Gallengangkrebs, eine seltene Tumorerkrankung. Vor knapp zwei Jahren hat
sie die Diagnose bekommen. Zwei Chemotherapien hat sie schon hinter sich.
Gerade macht sie die dritte. Die Augenringe unter der Brille und ihre
gedämpfte Stimme verraten, wie sehr die Chemo sie belastet.
Sie erzählt von der Nacht, in der die türkische Polizei ihren Sohn
verhaftete. Am 7. April reiste sie mit ihm in ihre alte Heimat. Es sollte
eine kurze Reise werden, sie wohnten bei Verwandten in Istanbul. Am 14.
April wollten sie wieder zurückfliegen nach Köln. Am 13. April stürmten
maskierte Spezialeinheiten um vier Uhr morgens die Wohnung ihres Bruders,
durchwühlten alles und nahmen Adil Demirci fest.
Als ihr Sohn verhaftet wurde, lag Elif Demirci ein Stockwerk höher im Bett,
in der Wohnung ihrer Schwester. Ihr Sohn habe bei der Festnahme darum
gebeten, dass man sie nicht wecke, sagt sie. Darum erfuhr sie erst nach dem
Aufwachen von der Verhaftung.
Während sie von der Nacht erzählt, die ihr Leben verändert hat, bemüht sie
sich um Genauigkeit. Im Wohnzimmer der Demircis wird manchmal auch gelacht,
wenn Anekdoten über Adil erzählt werden. Immer wieder sind da aber auch die
Zweifel, Ängste, das Bedauern über eine Entscheidung, die nicht mehr
rückgängig gemacht werden kann. Elif Demirci hebt die Hände, wenn sie
erzählt, dass sie sich vor der Reise gefragt habe, ob sie nicht lieber
allein fahren sollte.
Weil Adil es so will und wegen ihrer Krankheit, kehrt Elif Demirci nach der
Festnahme nach Köln zurück. Einen Monat später fliegt sie wieder in die
Türkei. Ihr erster Besuch im Hochsicherheitsgefängnis Silivri hat sich in
ihr Gedächtnis eingebrannt. „Der Eingang in die Haftanstalt ist
schrecklich“, sagt sie. „Durch wie viele Kontrollen man gehen muss, hat
mich schockiert. Wenn das erst der Eingang ist, wie ist es dann im
Inneren?“
Beim ersten Besuch wird sie gefragt: „Wer bist du? Wieso bist du gekommen?
Wen willst du treffen?“ Sie zeigt ihren Ausweis, legt ihre Tasche auf ein
Band. Sie muss ein Blatt ausfüllen. Dann läuft sie etwa fünf Minuten und
muss das Handy abgeben. Die Habseligkeiten werden noch mal gescannt, sie
selbst muss durch einen Scanner gehen. Dann kommt ein Bus, der zu den
Haftanstalten zwei und neun fährt. „Das ist ein riesengroßes Gelände“, s…
Elif Demirci.
Adil Demirci ist in Nummer neun inhaftiert. Man fährt fünf Minuten mit dem
Bus. Dann gibt es noch eine Befragung, noch mal Ausweiskontrolle. Man
schließt seine Gegenstände in einem Schrank ein, auch Ketten und Ohrringe.
Die Augen werden gescannt. Um den Augenscanner zu beschreiben, nimmt Elif
Demirci eine Fernbedienung in die Hand und hält sie vor ihr Gesicht.
Das war es aber noch nicht: Man gibt seinen Ausweis ab, stellt sich an,
Frauen und Männer werden getrennt, noch eine Ganzkörperkontrolle in kleinen
Zimmern. Noch mal Augenscannen. Dann sitzt da ein Mann an einem Tisch, dem
man das Blatt Papier gibt und der auf einen Raum zeigt. Geschafft.
Elif Demirci erzählt auf Türkisch, immer wieder benutzt sie das Wort
„acayip“, das so viel wie „seltsam“ oder „grotesk“ bedeutet. Im Kö…
Wohnzimmer gibt es viele gerahmte Bilder von Adil. Auf einem der Fotos
trägt er ein weißes Kurzarmhemd. Es wurde aufgenommen, als Elif Demirci
ihren Sohn das erste Mal nach der Festnahme besuchte. Die beiden stehen am
Strand, der Sand ist goldgelb, das Meer türkisblau.
Ein anderes Bild ist beim letzten Besuch der Mutter entstanden. Es ist eine
Ganzkörperaufnahme, nicht auf die Gesichter gezoomt, wie beim ersten Foto.
Der Strandhintergrund wird dieses Mal auf Höhe der Hüften unterbrochen.
Während man den Hintergrund auf dem ersten Bild für echt halten könnte,
sieht man bei dieser Aufnahme, dass der Strand nur eine Leinwand ist.
Mutter, Vater und Bruder lachen darüber. Es ist ein verbittertes Lachen.
Bruder Tamer sagt: „Das ist etwas Psychologisches, erniedrigend.“ Der Vater
sagt: „Die wollen, dass das Gefängnis schön aussieht.“
Zehn Monate sitzt Adil Demirci bereits in Haft. Wie hält seine Mutter das
aus? „Das Telefonieren hat mir schon gutgetan“, sagt sie. Wegen ihrer
Chemotherapie kann sie jetzt gerade nicht in die Türkei reisen, um ihren
Sohn im Gefängnis zu besuchen. Das machen jetzt andere Verwandte.
Einmal in der Woche telefoniert sie aber mit ihm. Immer mittwochs, immer
gegen Mittag. Das Telefonieren sei für sie und ihre Gesundheit mindestens
so wichtig wie die Chemotherapie, sagt sie. Ihr Mann sagt: „Nein, es tut
dir sogar besser.“
## Die Anklage
Die türkische Staatsanwaltschaft wirft Adil Demirci vor, Mitglied in einer
terroristischen Vereinigung zu sein. [2][Die marxistisch-leninistische MLKP
ist in der Türkei verboten.] Demirci weist die Vorwürfe zurück. In der
Anklageschrift, die der taz vorliegt, gilt die Nachrichtenagentur ETHA als
ein Medium, das „den Ideen und der Ideologie der Terrororganisation MLKP
entsprechend“ veröffentlicht. Demirci hat für sie als freier Mitarbeiter
gearbeitet.
Auf den elf Seiten der Anklageschrift nennt die Staatsanwaltschaft Demirci
ein „MLKP-Mitglied, das im europäischen Bereich Aktivitäten ausführt“. S…
wirft ihm vor, an Beerdigungen und Gedenkfeiern von Personen teilgenommen
zu haben, die gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft haben. Am
ersten Prozesstag sagte Demirci: „An den Gedenkveranstaltungen haben
Tausende Menschen teilgenommen“. Es sei „ein demokratisches Recht“, an
solchen Feiern teilzunehmen.
Eigentlich arbeitet Demirci seit 2016 hauptberuflich beim
Jugendmigrationsdienst in Remscheid. Dort berät er junge Menschen mit
Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren oder aus Syrien oder
Afghanistan geflüchtet sind. Er vermittelt Praktika, organisiert
Sprachkurse, hilft bei Bewerbungen und Vorstellungsgesprächen.
Als freier Journalist schreibt und übersetzt er seit etwas mehr als fünf
Jahren für die türkische sozialistische Nachrichtenagentur ETHA – dieselbe
Agentur, für die auch Meşale Tolu gearbeitet hat. Demirci schrieb etwa über
„Black Lives Matter“, die Nachwirkungen des Arabischen Frühlings oder
Proteste gegen die französischen Arbeitsmarktreformen.
Mustafa Peköz, Demircis Anwalt, sagte der taz in dieser Woche, dass er mit
der Freilassung seines Mandanten am nächsten Verhandlungstag, dem 14.
Februar, rechne. Die Staatsanwaltschaft habe nichts Belastendes in der
Hand. Er fügte aber hinzu, dass er bereits beim ersten Verhandlungstag mit
der Freilassung gerechnet habe.
## Der Freundeskreis
Adil Demirci hat viele Freundinnen und Freunde in Deutschland. Einige
engagieren sich im [3][Solidaritätskreis „Freiheit für Adil Demirci“.]
Andere haben Angst, öffentlich für die Sache einzutreten und dann womöglich
selbst nicht mehr in die Türkei einreisen zu dürfen. Sie unterstützen im
Hintergrund.
Esra A. steht vor dem Wuppertaler Hauptbahnhof und steckt sich eine
Zigarette an. Hier haben sie sich oft getroffen: Esra A. lebt in Wuppertal,
Demirci machte hier öfter einen Zwischenstopp auf dem Weg zur Arbeit nach
Remscheid. Esra A. tritt auf den Mahnwachen auf, spricht dort auch, will
aber trotzdem nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen.
Sie sagt, sie habe Verwandte in der Türkei. Es schneit, der Schnee färbt
ihren schwarzen Mantel weiß. In einem Café in der Nähe des Bahnhofs, in dem
sie oft mit Adil Demirci war, erzählt sie ihre gemeinsame Geschichte. Sie
kennen sich seit ihrer Kindheit. Esras Tante betreute Adil Demirci und
dessen Familie als Flüchtlingsberaterin. Adil sagt „abla“ zu Esra, „gro�…
Schwester“.
Als Erwachsene fahren sie öfter zusammen in den Urlaub, nach Dänemark oder
Kuba. Und sie haben den gemeinsamen Traum, irgendwann in die Türkei zu
ziehen. Eine Sehnsucht, die Esra A. kaum mit Worten fassen kann, die aber
viele Deutschtürken ihrer Generation in sich tragen. Die ewige Frage nach
Heimat und Zugehörigkeit.
Adil Demirci versuchte den Traum zu verwirklichen und hat eine Zeitlang in
Istanbul gelebt – bis zum Putschversuch, danach wurde es ihm zu heikel.
Esra A. hat sich nicht getraut. Jetzt, angesichts der politischen Zustände
und der Verhaftung Adils, scheint der Traum weit weg.
An diesem Abend fährt Esra A. mit ihrer Tante und Schwester nach Köln zur
Mahnwache. Es ist das 41. Mal. Es ist wieder Mittwoch. Die drei sprechen
über die Willkommensparty, die sie für Demirci organisieren wollen.
Efsun Kızılay, einer anderen Freundin, schreibt Adil Demirci nach dem
ersten Verhandlungstag einen Brief aus Silivri: „Man merkt erst im
Gefängnis, wie wertvoll Briefe sind.“ Darüber, dass er bei Prozessbeginn
nicht gleich freigelassen wurde, schreibt er: „Ja, ich habe mich
entschieden, noch ein bisschen hier zu bleiben. Was soll ich im Winter auch
draußen machen. Hier ist es warm. Natürlich war ich ein bisschen
überrascht. Aber während der Verhandlung hatte sich schon abgezeichnet,
dass so eine Entscheidung kommen würde. Aber das hier ist schließlich auch
eine Art Lebenserfahrung.“
## Der Genosse
Said Boluri rauscht in seinem Golf an Duisburger Backsteinhäusern vorbei
und versucht sich zu erinnern, wann er Adil Demirci das erste Mal getroffen
hat. Es fällt ihm schwer, ein konkretes Datum, eine konkrete Begegnung zu
nennen. Adil Demirci scheint für ihn schon immer da gewesen zu sein.
Gemeinsam haben die beiden sich an der Universität politisiert, sie sind
auf Demos gegangen, sie haben sich gestritten, sie haben Politgruppen
organisiert.
Kurz bevor er auf den Parkplatz der Uni Duisburg-Essen fährt, erinnert sich
Boluri doch noch: Bei den Bildungsprotesten, als gegen den Bologna-Prozess
mobilisiert wurde, hat er Demirci zum ersten Mal gesehen.
Im Uni-Café gibt es an diesem Tag Bohneneintopf „rheinischer Art“. Boluri
holt sich einen Cappuccino und spricht kurz mit der Verkäuferin, die ihn
wiedererkennt, obwohl er sein Studium 2011 beendet hat. In dem Uni-Café
haben Demirci und er viel Zeit verbracht. Boluri erzählt von Protesten
gegen Studiengebühren. „Das hat uns und viele andere Arbeiterkinder direkt
betroffen.“ Für die Verhältnisse hier seien sie schon radikal gewesen, sagt
Boluri, der weiße Strähnchen an den Schläfen kriegt.
In Erinnerung ist ihm vor allem geblieben, wie sie einmal zusammen das
Rektorat besetzt haben. Das Land Nordrhein-Westfalen hatte damals gerade
Studiengebühren eingeführt, aber den Universitäten überlassen, diese zu
erheben oder nicht. Viele Unis verzichten darauf, ihre Uni nicht.
Sie schrieben das Rektorat an. Es kam keine Antwort. Sie wollten den Rektor
besuchen, aber der weigerte sich, sie zu empfangen. „Dann sind wir mit 40
Mann hingegangen und haben gesagt: Wir bleiben hier, bis er kommt.“
Als die Polizei sich ankündigt, gibt es eine Diskussion unter den
Besetzern. Wollen sie sich raustragen zu lassen? Oder gar eine
Konfrontation riskieren? Boluri erzählt, dass vor allem Demirci Bedenken
äußert. „Er war einer, der immer mit Bedacht gehandelt hat.“
Demirci fragt, ob es etwas bringt, wenn man sich und die anderen in Gefahr
bringt. Dann gibt es eine Abstimmung. Die Mehrheit will bleiben. Adil
Demirci bleibt auch. Er fängt an, zu telefonieren und Unterstützung zu
organisieren. Nach sieben, acht Stunden kommt die Bereitschaftspolizei.
Fünf Studierende werden festgenommen. Die Polizisten müssen Boluri und Adil
ein paar Stockwerke nach unten tragen. Dieses Erlebnis habe sie
zusammengeschweißt, erzählt Boluri.
Das Café der Uni Duisburg unterscheidet sich von denen an vielen anderen
Universitäten. Studierende mit Migrationshintergrund sind hier keine
Besonderheit, hier sitzt nicht nur eine Frau mit Kopftuch, in kleinen
Gruppen wird Türkisch gesprochen.
Boluri und Demirci gründeten eine Gruppe namens „Forum demokratischer
Studierender“, mit der sie sich um jene Studierenden kümmern wollten, die
sozial benachteiligt sind oder rassistisch ausgegrenzt werden. Sie haben
Kommilitonen zum Thema Aufenthaltsrecht beraten oder ihnen erklärt, wie sie
finanzielle Hilfe vom Staat bekommen können. Boluri und Demirci kamen als
Flüchtlinge nach Deutschland, das vergisst man nicht. Boluri aus dem Iran,
Demirci aus der Türkei.
Demirci engagiert sich auch nach der Uni politisch, etwa bei der
„Föderation der Arbeitsimmigranten aus der Türkei in Deutschland“ (Agif).
Als Boluri erfährt, dass sein Freund und Genosse Demirci in der Türkei
festgenommen wurde, vernetzt er sich mit anderen Freunden und Adils Bruder
Tamer Demirci. Drei Tage nach der Festnahme organisieren sie eine erste
Demonstration am Kölner Hauptbahnhof. Seitdem organisieren sie die
Mahnwachen.
## Der Bruder
Köln, Wallrafplatz, 30. Januar 2019. Tamer Demirci steht vor einem Pavillon
und spricht vor knapp 20 Menschen in ein Mikrofon. Viele haben Schilder in
der Hand, mit einem Foto von Adil Demirci, darunter: „Freiheit für Adil
Demirci“. Auf einem anderen Schild steht: „Journalist zu sein ist kein
Verbrechen.“
Immer wieder bleiben Passanten stehen und hören kurz zu. Tamer Demirci
erzählt die Geschichte seines Bruders. Sie fängt an mit einer Frage: „Wer
ist Adil Demirci?“ Seine Antwort: „Adil ist 33 Jahre alt. Adil lebt in Köln
und hat neben der deutschen auch die türkische Staatsangehörigkeit.“ Der
Schneeregen fliegt Tamer Demirci ins Gesicht. Er zieht die Kapuze seiner
Jacke vor die Augen und spricht weiter.
Nach seiner Rede steht Tamer Demirci unter dem Plastikpavillon, seine
Sneaker sind pitschnass. Weil er heute Morgen so spät dran gewesen sei,
habe er schnell die Turnschuhe angezogen, sagt er und lacht. Auf die Frage,
wie es ihm geht, antwortet er: „Kein Bock mehr.“ Er lacht über seine eigene
Antwort. Und witzelt weiter: Sein Bruder solle da endlich rauskommen, er
habe schon ein paar Aufgaben für ihn. Seit sein Bruder im Gefängnis ist,
haben sich Tamer Demircis Aufgaben multipliziert: sich um die Mutter
kümmern, Öffentlichkeit für den Bruder schaffen, daneben arbeiten.
Eigentlich ist er ja noch Student. Er musste sein Masterstudium in
Informatik aber vorerst abbrechen. Gerade arbeitet er bei einem
IT-Dienstleister.
Eigentlich ist Tamer Demirci also nicht wirklich zum Lachen. Vor allem
wegen seiner Mutter. Er sagt: „Mich stresst es nicht so sehr, dass mein
Bruder im Gefängnis ist, sondern dass meine Mutter krank ist, während mein
Bruder im Gefängnis ist.“
Der erste Prozesstag am 20. November 2018 war der Tag vor Adil Demircis
Geburtstag. Alle hatten sich auf eine gemeinsame Feier nach der Freilassung
eingestellt. Daraus wurde nichts. Trotzdem servierten sie bei der Mahnwache
am nächsten Tag Kuchen, es wurde gesungen. Und am 14. Februar, wenn der
Prozess weitergeht? Tamer Demirci ist optimistisch. Auch sein Bruder sei
optimistisch, sagt er am Ende der 41. Mahnwache.
Immer mittwochs treffen sie sich um 18 Uhr auf dem Kölner Wallrafplatz.
Tamer Demirci erzählt von all den Menschen, die kommen, obwohl sie seinen
Bruder gar nicht persönlich kennen. Von einem älteren Paar, das bei einer
Demo von Demirci erfahren hat und seither ununterbrochen dabei ist. Von
einem Baby einer Freundin des Bruders, das kurz nach der Festnahme Demircis
geboren wurde und dem sie bei den Mahnwachen beim Großwerden zusehen
können.
Auch einige Journalisten sind an diesem kalten Tag gekommen. Ein
Radiojournalist fragt Tamer Demirci, was er bei dem Termin am nächsten
Tag im Auswärtigen Tag wolle. Demirci antwortet ihm: „Wir wollen den
deutschen Außenminister auffordern, mit klaren Worten die Freilassung
meines Bruders zu fordern, weil er unschuldig ist.“ Der Radiojournalist
stellt noch eine Frage, wieder kommt die Antwort sofort. Keine Versprecher,
keine Pausen. Wer Tamer Demirci nicht kennt, könnte ihn für einen guten
Pressesprecher halten. Mit der Presse spricht er aber erst, seitdem sein
Bruder in Haft sitzt.
## Die Politik
Auf der Mikroebene ist die Solidarität mit Adil Demirci groß: Demircis
Arbeitgeber hat seinen Vertrag verlängert, obwohl er nicht anwesend ist.
Eine deutsche Delegation flog zum ersten Prozesstag in die Türkei und
möchte dies am 14. Februar wieder tun, darunter die Bundestagsabgeordneten
Heike Hänsel (Die Linke) und Rolf Mützenich (SPD) sowie der
Investigativjournalist Günter Wallraff. Der CDU-Bundestagsabgeordnete
Jürgen Hardt war dabei, als Bruder Tamer Demirci 5.000 Unterschriften für
die Freilassung seines Bruders an Michael Roth, Staatsminister im
Auswärtigen Amt, überreichte. Die Familie und Freunde von Adil Demirci sind
dankbar für all das. Aber die Frage ist: Was bewirkt diese Solidarität am
Ende? Kann sie mehr sein als reine Symbolpolitik?
Was die Makroebene angeht, die diplomatischen Beziehungen zwischen
Deutschland und der Türkei, sagt Tamer Demirci: „Wenn Deutschland nur
entschlossen genug die Freilassung meines Bruders fordern würde, dann wäre
er nächste Woche hier.“ Aber die Aufmerksamkeit für die Türkei ist nicht
mehr so groß wie noch vor zwei Jahren. „Es gibt Ermüdungserscheinungen“,
sagt Said Boluri.
Ist das die einzige Erklärung dafür, dass kaum jemand Adil Demirci kennt?
Vor zwei Jahren wurde der Welt-Korrespondent Deniz Yücel festgenommen. Der
Aufschrei war groß – zu Recht. Als Meşale Tolu Ende April 2017 festgenommen
wurde, war Yücel noch in Haft. Die Aufmerksamkeit für das Thema blieb
konstant. Weil Yücels Fall die deutsch-türkischen Beziehungen schwer
belastet hatte, wurde Tolu als weitere Eskalation durch die türkischen
Behörden wahrgenommen. Deutsche Medien blickten genau auf die Türkei.
Aber die politische Konjunktur hat sich geändert: Mitte April 2017 stand
das Verfassungsreferendum in der Türkei an, mit dem Erdoğan seine
autoritären Zugriff legalisieren wollte. Die Türken wollten in Deutschland
Wahlkampf machen. Die Deutschen waren damit nicht einverstanden. Es kam zum
Streit, [4][Erdoğan unterstellte Bundeskanzlerin Merkel „Nazimethoden“.]
Im Herbst 2017 stand dann die Bundestagswahl an. Für deutsche Politiker
hieß es: Rückgrat zeigen oder Stimmen verlieren. Und wie lassen sich
einfacher Stimmen sammeln als mit Spitzen gegen die autoritären Türken?
Wenige Tage vor der Bundestagswahl ging der damalige Außenminister Sigmar
Gabriel weiter: „Wir haben unsere Wirtschaftshilfe reduziert und bei
Investitionen in der Türkei klar auf die Risiken hingewiesen.“ Es war die
Rede von einem deutschen Vorstoß zum Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen
der Türkei. Als Yücel freigelassen wurde, eilte Gabriel dann in den
Newsroom der Welt, um eine Erklärung abzugeben.
Und nun? Eine erneute Konfrontation mit der Türkei erschien nach Adil
Demircis Festnahme nicht mehr opportun. Es überwiegen wieder die
gegenseitigen Abhängigkeiten: Die wirtschaftlich angeschlagene Türkei
braucht Deutschland, wenn sie sich schon mit Trumps USA überworfen hat. Und
Deutschland ist weiterhin abhängig von der Türkei, wenn es darum geht,
Geflüchtete aus dem Nahen Osten fernzuhalten.
## Die Mutter
Elif Demirci sagt, es gebe ihr viel Kraft, dass sich so viele Menschen für
ihren Sohn einsetzen, die ihn gar nicht kennen. Sie müsse oft an die vielen
jungen Menschen in der Türkei denken, die unschuldig im Gefängnis sitzen.
Es würde aber nichts bringen, wenn sie in Trauer versinkt. Sie will
optimistisch sein, auch für Adil. Deshalb wird sie weiter mit ihm
telefonieren und ihm Briefe schreiben. Sie hat auch einen Brief an die
Bundeskanzlerin geschrieben und sie gebeten, sich für die Freilassung ihres
Sohns einzusetzen. Jetzt wartet sie.
11 Feb 2019
## LINKS
[1] /Deniz-Yuecel-ueber-die-Absurditaet-der-Haft/!5459100
[2] https://gazete.taz.de/article/?article=!5530514
[3] https://www.facebook.com/freeadildemirci/
[4] /Erdoan-zu-Nazi-Vergleichen/!5395263
## AUTOREN
Volkan Ağar
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