# taz.de -- In Türkei inhaftierter Kölner Adil Demirci: Einer, der im Schatte… | |
> Seit April 2018 sitzt der Kölner Adil Demirci in einem türkischen | |
> Gefängnis. Seine Unterstützer kämpfen darum, dass er nicht vergessen | |
> wird. | |
Bild: Jeden Mittwoch halten Angehörige, Freunde und Unterstützer eine Mahnwac… | |
Am 14. Februar soll sein Prozess weitergehen. Seit zehn Monaten, seit dem | |
13. April 2018 sitzt Adil Demirci in türkischer Haft – [1][in dem selben | |
Gefängnis, in dem auch Deniz Yücel inhaftiert war.] Demirci ist 33 Jahre | |
alt, deutschtürkischer Staatsbürger, Sozialarbeiter, aber auch freier | |
Journalist. Er hat für die linke Nachrichtenagentur ETHA geschrieben und | |
übersetzt. Als Sozialarbeiter hat er in Remscheid mit geflüchteten | |
Jugendlichen gearbeitet. Die türkische Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, | |
Mitglied in einer terroristischen Organisation zu sein. Die taz hat in den | |
vergangenen Tagen Angehörige und Unterstützer von Demirci in Deutschland | |
getroffen, die darum kämpfen, dass er nicht vergessen wird. | |
## Die Mutter | |
Aufrecht sitzt Elif Demirci auf dem Sofa ihrer Kölner Wohnung. Auf dem | |
Couchtisch steht ein Strauß roter Margeriten. Demirci, 64 Jahre alt, hat | |
Gallengangkrebs, eine seltene Tumorerkrankung. Vor knapp zwei Jahren hat | |
sie die Diagnose bekommen. Zwei Chemotherapien hat sie schon hinter sich. | |
Gerade macht sie die dritte. Die Augenringe unter der Brille und ihre | |
gedämpfte Stimme verraten, wie sehr die Chemo sie belastet. | |
Sie erzählt von der Nacht, in der die türkische Polizei ihren Sohn | |
verhaftete. Am 7. April reiste sie mit ihm in ihre alte Heimat. Es sollte | |
eine kurze Reise werden, sie wohnten bei Verwandten in Istanbul. Am 14. | |
April wollten sie wieder zurückfliegen nach Köln. Am 13. April stürmten | |
maskierte Spezialeinheiten um vier Uhr morgens die Wohnung ihres Bruders, | |
durchwühlten alles und nahmen Adil Demirci fest. | |
Als ihr Sohn verhaftet wurde, lag Elif Demirci ein Stockwerk höher im Bett, | |
in der Wohnung ihrer Schwester. Ihr Sohn habe bei der Festnahme darum | |
gebeten, dass man sie nicht wecke, sagt sie. Darum erfuhr sie erst nach dem | |
Aufwachen von der Verhaftung. | |
Während sie von der Nacht erzählt, die ihr Leben verändert hat, bemüht sie | |
sich um Genauigkeit. Im Wohnzimmer der Demircis wird manchmal auch gelacht, | |
wenn Anekdoten über Adil erzählt werden. Immer wieder sind da aber auch die | |
Zweifel, Ängste, das Bedauern über eine Entscheidung, die nicht mehr | |
rückgängig gemacht werden kann. Elif Demirci hebt die Hände, wenn sie | |
erzählt, dass sie sich vor der Reise gefragt habe, ob sie nicht lieber | |
allein fahren sollte. | |
Weil Adil es so will und wegen ihrer Krankheit, kehrt Elif Demirci nach der | |
Festnahme nach Köln zurück. Einen Monat später fliegt sie wieder in die | |
Türkei. Ihr erster Besuch im Hochsicherheitsgefängnis Silivri hat sich in | |
ihr Gedächtnis eingebrannt. „Der Eingang in die Haftanstalt ist | |
schrecklich“, sagt sie. „Durch wie viele Kontrollen man gehen muss, hat | |
mich schockiert. Wenn das erst der Eingang ist, wie ist es dann im | |
Inneren?“ | |
Beim ersten Besuch wird sie gefragt: „Wer bist du? Wieso bist du gekommen? | |
Wen willst du treffen?“ Sie zeigt ihren Ausweis, legt ihre Tasche auf ein | |
Band. Sie muss ein Blatt ausfüllen. Dann läuft sie etwa fünf Minuten und | |
muss das Handy abgeben. Die Habseligkeiten werden noch mal gescannt, sie | |
selbst muss durch einen Scanner gehen. Dann kommt ein Bus, der zu den | |
Haftanstalten zwei und neun fährt. „Das ist ein riesengroßes Gelände“, s… | |
Elif Demirci. | |
Adil Demirci ist in Nummer neun inhaftiert. Man fährt fünf Minuten mit dem | |
Bus. Dann gibt es noch eine Befragung, noch mal Ausweiskontrolle. Man | |
schließt seine Gegenstände in einem Schrank ein, auch Ketten und Ohrringe. | |
Die Augen werden gescannt. Um den Augenscanner zu beschreiben, nimmt Elif | |
Demirci eine Fernbedienung in die Hand und hält sie vor ihr Gesicht. | |
Das war es aber noch nicht: Man gibt seinen Ausweis ab, stellt sich an, | |
Frauen und Männer werden getrennt, noch eine Ganzkörperkontrolle in kleinen | |
Zimmern. Noch mal Augenscannen. Dann sitzt da ein Mann an einem Tisch, dem | |
man das Blatt Papier gibt und der auf einen Raum zeigt. Geschafft. | |
Elif Demirci erzählt auf Türkisch, immer wieder benutzt sie das Wort | |
„acayip“, das so viel wie „seltsam“ oder „grotesk“ bedeutet. Im Kö… | |
Wohnzimmer gibt es viele gerahmte Bilder von Adil. Auf einem der Fotos | |
trägt er ein weißes Kurzarmhemd. Es wurde aufgenommen, als Elif Demirci | |
ihren Sohn das erste Mal nach der Festnahme besuchte. Die beiden stehen am | |
Strand, der Sand ist goldgelb, das Meer türkisblau. | |
Ein anderes Bild ist beim letzten Besuch der Mutter entstanden. Es ist eine | |
Ganzkörperaufnahme, nicht auf die Gesichter gezoomt, wie beim ersten Foto. | |
Der Strandhintergrund wird dieses Mal auf Höhe der Hüften unterbrochen. | |
Während man den Hintergrund auf dem ersten Bild für echt halten könnte, | |
sieht man bei dieser Aufnahme, dass der Strand nur eine Leinwand ist. | |
Mutter, Vater und Bruder lachen darüber. Es ist ein verbittertes Lachen. | |
Bruder Tamer sagt: „Das ist etwas Psychologisches, erniedrigend.“ Der Vater | |
sagt: „Die wollen, dass das Gefängnis schön aussieht.“ | |
Zehn Monate sitzt Adil Demirci bereits in Haft. Wie hält seine Mutter das | |
aus? „Das Telefonieren hat mir schon gutgetan“, sagt sie. Wegen ihrer | |
Chemotherapie kann sie jetzt gerade nicht in die Türkei reisen, um ihren | |
Sohn im Gefängnis zu besuchen. Das machen jetzt andere Verwandte. | |
Einmal in der Woche telefoniert sie aber mit ihm. Immer mittwochs, immer | |
gegen Mittag. Das Telefonieren sei für sie und ihre Gesundheit mindestens | |
so wichtig wie die Chemotherapie, sagt sie. Ihr Mann sagt: „Nein, es tut | |
dir sogar besser.“ | |
## Die Anklage | |
Die türkische Staatsanwaltschaft wirft Adil Demirci vor, Mitglied in einer | |
terroristischen Vereinigung zu sein. [2][Die marxistisch-leninistische MLKP | |
ist in der Türkei verboten.] Demirci weist die Vorwürfe zurück. In der | |
Anklageschrift, die der taz vorliegt, gilt die Nachrichtenagentur ETHA als | |
ein Medium, das „den Ideen und der Ideologie der Terrororganisation MLKP | |
entsprechend“ veröffentlicht. Demirci hat für sie als freier Mitarbeiter | |
gearbeitet. | |
Auf den elf Seiten der Anklageschrift nennt die Staatsanwaltschaft Demirci | |
ein „MLKP-Mitglied, das im europäischen Bereich Aktivitäten ausführt“. S… | |
wirft ihm vor, an Beerdigungen und Gedenkfeiern von Personen teilgenommen | |
zu haben, die gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft haben. Am | |
ersten Prozesstag sagte Demirci: „An den Gedenkveranstaltungen haben | |
Tausende Menschen teilgenommen“. Es sei „ein demokratisches Recht“, an | |
solchen Feiern teilzunehmen. | |
Eigentlich arbeitet Demirci seit 2016 hauptberuflich beim | |
Jugendmigrationsdienst in Remscheid. Dort berät er junge Menschen mit | |
Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren oder aus Syrien oder | |
Afghanistan geflüchtet sind. Er vermittelt Praktika, organisiert | |
Sprachkurse, hilft bei Bewerbungen und Vorstellungsgesprächen. | |
Als freier Journalist schreibt und übersetzt er seit etwas mehr als fünf | |
Jahren für die türkische sozialistische Nachrichtenagentur ETHA – dieselbe | |
Agentur, für die auch Meşale Tolu gearbeitet hat. Demirci schrieb etwa über | |
„Black Lives Matter“, die Nachwirkungen des Arabischen Frühlings oder | |
Proteste gegen die französischen Arbeitsmarktreformen. | |
Mustafa Peköz, Demircis Anwalt, sagte der taz in dieser Woche, dass er mit | |
der Freilassung seines Mandanten am nächsten Verhandlungstag, dem 14. | |
Februar, rechne. Die Staatsanwaltschaft habe nichts Belastendes in der | |
Hand. Er fügte aber hinzu, dass er bereits beim ersten Verhandlungstag mit | |
der Freilassung gerechnet habe. | |
## Der Freundeskreis | |
Adil Demirci hat viele Freundinnen und Freunde in Deutschland. Einige | |
engagieren sich im [3][Solidaritätskreis „Freiheit für Adil Demirci“.] | |
Andere haben Angst, öffentlich für die Sache einzutreten und dann womöglich | |
selbst nicht mehr in die Türkei einreisen zu dürfen. Sie unterstützen im | |
Hintergrund. | |
Esra A. steht vor dem Wuppertaler Hauptbahnhof und steckt sich eine | |
Zigarette an. Hier haben sie sich oft getroffen: Esra A. lebt in Wuppertal, | |
Demirci machte hier öfter einen Zwischenstopp auf dem Weg zur Arbeit nach | |
Remscheid. Esra A. tritt auf den Mahnwachen auf, spricht dort auch, will | |
aber trotzdem nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen. | |
Sie sagt, sie habe Verwandte in der Türkei. Es schneit, der Schnee färbt | |
ihren schwarzen Mantel weiß. In einem Café in der Nähe des Bahnhofs, in dem | |
sie oft mit Adil Demirci war, erzählt sie ihre gemeinsame Geschichte. Sie | |
kennen sich seit ihrer Kindheit. Esras Tante betreute Adil Demirci und | |
dessen Familie als Flüchtlingsberaterin. Adil sagt „abla“ zu Esra, „gro�… | |
Schwester“. | |
Als Erwachsene fahren sie öfter zusammen in den Urlaub, nach Dänemark oder | |
Kuba. Und sie haben den gemeinsamen Traum, irgendwann in die Türkei zu | |
ziehen. Eine Sehnsucht, die Esra A. kaum mit Worten fassen kann, die aber | |
viele Deutschtürken ihrer Generation in sich tragen. Die ewige Frage nach | |
Heimat und Zugehörigkeit. | |
Adil Demirci versuchte den Traum zu verwirklichen und hat eine Zeitlang in | |
Istanbul gelebt – bis zum Putschversuch, danach wurde es ihm zu heikel. | |
Esra A. hat sich nicht getraut. Jetzt, angesichts der politischen Zustände | |
und der Verhaftung Adils, scheint der Traum weit weg. | |
An diesem Abend fährt Esra A. mit ihrer Tante und Schwester nach Köln zur | |
Mahnwache. Es ist das 41. Mal. Es ist wieder Mittwoch. Die drei sprechen | |
über die Willkommensparty, die sie für Demirci organisieren wollen. | |
Efsun Kızılay, einer anderen Freundin, schreibt Adil Demirci nach dem | |
ersten Verhandlungstag einen Brief aus Silivri: „Man merkt erst im | |
Gefängnis, wie wertvoll Briefe sind.“ Darüber, dass er bei Prozessbeginn | |
nicht gleich freigelassen wurde, schreibt er: „Ja, ich habe mich | |
entschieden, noch ein bisschen hier zu bleiben. Was soll ich im Winter auch | |
draußen machen. Hier ist es warm. Natürlich war ich ein bisschen | |
überrascht. Aber während der Verhandlung hatte sich schon abgezeichnet, | |
dass so eine Entscheidung kommen würde. Aber das hier ist schließlich auch | |
eine Art Lebenserfahrung.“ | |
## Der Genosse | |
Said Boluri rauscht in seinem Golf an Duisburger Backsteinhäusern vorbei | |
und versucht sich zu erinnern, wann er Adil Demirci das erste Mal getroffen | |
hat. Es fällt ihm schwer, ein konkretes Datum, eine konkrete Begegnung zu | |
nennen. Adil Demirci scheint für ihn schon immer da gewesen zu sein. | |
Gemeinsam haben die beiden sich an der Universität politisiert, sie sind | |
auf Demos gegangen, sie haben sich gestritten, sie haben Politgruppen | |
organisiert. | |
Kurz bevor er auf den Parkplatz der Uni Duisburg-Essen fährt, erinnert sich | |
Boluri doch noch: Bei den Bildungsprotesten, als gegen den Bologna-Prozess | |
mobilisiert wurde, hat er Demirci zum ersten Mal gesehen. | |
Im Uni-Café gibt es an diesem Tag Bohneneintopf „rheinischer Art“. Boluri | |
holt sich einen Cappuccino und spricht kurz mit der Verkäuferin, die ihn | |
wiedererkennt, obwohl er sein Studium 2011 beendet hat. In dem Uni-Café | |
haben Demirci und er viel Zeit verbracht. Boluri erzählt von Protesten | |
gegen Studiengebühren. „Das hat uns und viele andere Arbeiterkinder direkt | |
betroffen.“ Für die Verhältnisse hier seien sie schon radikal gewesen, sagt | |
Boluri, der weiße Strähnchen an den Schläfen kriegt. | |
In Erinnerung ist ihm vor allem geblieben, wie sie einmal zusammen das | |
Rektorat besetzt haben. Das Land Nordrhein-Westfalen hatte damals gerade | |
Studiengebühren eingeführt, aber den Universitäten überlassen, diese zu | |
erheben oder nicht. Viele Unis verzichten darauf, ihre Uni nicht. | |
Sie schrieben das Rektorat an. Es kam keine Antwort. Sie wollten den Rektor | |
besuchen, aber der weigerte sich, sie zu empfangen. „Dann sind wir mit 40 | |
Mann hingegangen und haben gesagt: Wir bleiben hier, bis er kommt.“ | |
Als die Polizei sich ankündigt, gibt es eine Diskussion unter den | |
Besetzern. Wollen sie sich raustragen zu lassen? Oder gar eine | |
Konfrontation riskieren? Boluri erzählt, dass vor allem Demirci Bedenken | |
äußert. „Er war einer, der immer mit Bedacht gehandelt hat.“ | |
Demirci fragt, ob es etwas bringt, wenn man sich und die anderen in Gefahr | |
bringt. Dann gibt es eine Abstimmung. Die Mehrheit will bleiben. Adil | |
Demirci bleibt auch. Er fängt an, zu telefonieren und Unterstützung zu | |
organisieren. Nach sieben, acht Stunden kommt die Bereitschaftspolizei. | |
Fünf Studierende werden festgenommen. Die Polizisten müssen Boluri und Adil | |
ein paar Stockwerke nach unten tragen. Dieses Erlebnis habe sie | |
zusammengeschweißt, erzählt Boluri. | |
Das Café der Uni Duisburg unterscheidet sich von denen an vielen anderen | |
Universitäten. Studierende mit Migrationshintergrund sind hier keine | |
Besonderheit, hier sitzt nicht nur eine Frau mit Kopftuch, in kleinen | |
Gruppen wird Türkisch gesprochen. | |
Boluri und Demirci gründeten eine Gruppe namens „Forum demokratischer | |
Studierender“, mit der sie sich um jene Studierenden kümmern wollten, die | |
sozial benachteiligt sind oder rassistisch ausgegrenzt werden. Sie haben | |
Kommilitonen zum Thema Aufenthaltsrecht beraten oder ihnen erklärt, wie sie | |
finanzielle Hilfe vom Staat bekommen können. Boluri und Demirci kamen als | |
Flüchtlinge nach Deutschland, das vergisst man nicht. Boluri aus dem Iran, | |
Demirci aus der Türkei. | |
Demirci engagiert sich auch nach der Uni politisch, etwa bei der | |
„Föderation der Arbeitsimmigranten aus der Türkei in Deutschland“ (Agif). | |
Als Boluri erfährt, dass sein Freund und Genosse Demirci in der Türkei | |
festgenommen wurde, vernetzt er sich mit anderen Freunden und Adils Bruder | |
Tamer Demirci. Drei Tage nach der Festnahme organisieren sie eine erste | |
Demonstration am Kölner Hauptbahnhof. Seitdem organisieren sie die | |
Mahnwachen. | |
## Der Bruder | |
Köln, Wallrafplatz, 30. Januar 2019. Tamer Demirci steht vor einem Pavillon | |
und spricht vor knapp 20 Menschen in ein Mikrofon. Viele haben Schilder in | |
der Hand, mit einem Foto von Adil Demirci, darunter: „Freiheit für Adil | |
Demirci“. Auf einem anderen Schild steht: „Journalist zu sein ist kein | |
Verbrechen.“ | |
Immer wieder bleiben Passanten stehen und hören kurz zu. Tamer Demirci | |
erzählt die Geschichte seines Bruders. Sie fängt an mit einer Frage: „Wer | |
ist Adil Demirci?“ Seine Antwort: „Adil ist 33 Jahre alt. Adil lebt in Köln | |
und hat neben der deutschen auch die türkische Staatsangehörigkeit.“ Der | |
Schneeregen fliegt Tamer Demirci ins Gesicht. Er zieht die Kapuze seiner | |
Jacke vor die Augen und spricht weiter. | |
Nach seiner Rede steht Tamer Demirci unter dem Plastikpavillon, seine | |
Sneaker sind pitschnass. Weil er heute Morgen so spät dran gewesen sei, | |
habe er schnell die Turnschuhe angezogen, sagt er und lacht. Auf die Frage, | |
wie es ihm geht, antwortet er: „Kein Bock mehr.“ Er lacht über seine eigene | |
Antwort. Und witzelt weiter: Sein Bruder solle da endlich rauskommen, er | |
habe schon ein paar Aufgaben für ihn. Seit sein Bruder im Gefängnis ist, | |
haben sich Tamer Demircis Aufgaben multipliziert: sich um die Mutter | |
kümmern, Öffentlichkeit für den Bruder schaffen, daneben arbeiten. | |
Eigentlich ist er ja noch Student. Er musste sein Masterstudium in | |
Informatik aber vorerst abbrechen. Gerade arbeitet er bei einem | |
IT-Dienstleister. | |
Eigentlich ist Tamer Demirci also nicht wirklich zum Lachen. Vor allem | |
wegen seiner Mutter. Er sagt: „Mich stresst es nicht so sehr, dass mein | |
Bruder im Gefängnis ist, sondern dass meine Mutter krank ist, während mein | |
Bruder im Gefängnis ist.“ | |
Der erste Prozesstag am 20. November 2018 war der Tag vor Adil Demircis | |
Geburtstag. Alle hatten sich auf eine gemeinsame Feier nach der Freilassung | |
eingestellt. Daraus wurde nichts. Trotzdem servierten sie bei der Mahnwache | |
am nächsten Tag Kuchen, es wurde gesungen. Und am 14. Februar, wenn der | |
Prozess weitergeht? Tamer Demirci ist optimistisch. Auch sein Bruder sei | |
optimistisch, sagt er am Ende der 41. Mahnwache. | |
Immer mittwochs treffen sie sich um 18 Uhr auf dem Kölner Wallrafplatz. | |
Tamer Demirci erzählt von all den Menschen, die kommen, obwohl sie seinen | |
Bruder gar nicht persönlich kennen. Von einem älteren Paar, das bei einer | |
Demo von Demirci erfahren hat und seither ununterbrochen dabei ist. Von | |
einem Baby einer Freundin des Bruders, das kurz nach der Festnahme Demircis | |
geboren wurde und dem sie bei den Mahnwachen beim Großwerden zusehen | |
können. | |
Auch einige Journalisten sind an diesem kalten Tag gekommen. Ein | |
Radiojournalist fragt Tamer Demirci, was er bei dem Termin am nächsten | |
Tag im Auswärtigen Tag wolle. Demirci antwortet ihm: „Wir wollen den | |
deutschen Außenminister auffordern, mit klaren Worten die Freilassung | |
meines Bruders zu fordern, weil er unschuldig ist.“ Der Radiojournalist | |
stellt noch eine Frage, wieder kommt die Antwort sofort. Keine Versprecher, | |
keine Pausen. Wer Tamer Demirci nicht kennt, könnte ihn für einen guten | |
Pressesprecher halten. Mit der Presse spricht er aber erst, seitdem sein | |
Bruder in Haft sitzt. | |
## Die Politik | |
Auf der Mikroebene ist die Solidarität mit Adil Demirci groß: Demircis | |
Arbeitgeber hat seinen Vertrag verlängert, obwohl er nicht anwesend ist. | |
Eine deutsche Delegation flog zum ersten Prozesstag in die Türkei und | |
möchte dies am 14. Februar wieder tun, darunter die Bundestagsabgeordneten | |
Heike Hänsel (Die Linke) und Rolf Mützenich (SPD) sowie der | |
Investigativjournalist Günter Wallraff. Der CDU-Bundestagsabgeordnete | |
Jürgen Hardt war dabei, als Bruder Tamer Demirci 5.000 Unterschriften für | |
die Freilassung seines Bruders an Michael Roth, Staatsminister im | |
Auswärtigen Amt, überreichte. Die Familie und Freunde von Adil Demirci sind | |
dankbar für all das. Aber die Frage ist: Was bewirkt diese Solidarität am | |
Ende? Kann sie mehr sein als reine Symbolpolitik? | |
Was die Makroebene angeht, die diplomatischen Beziehungen zwischen | |
Deutschland und der Türkei, sagt Tamer Demirci: „Wenn Deutschland nur | |
entschlossen genug die Freilassung meines Bruders fordern würde, dann wäre | |
er nächste Woche hier.“ Aber die Aufmerksamkeit für die Türkei ist nicht | |
mehr so groß wie noch vor zwei Jahren. „Es gibt Ermüdungserscheinungen“, | |
sagt Said Boluri. | |
Ist das die einzige Erklärung dafür, dass kaum jemand Adil Demirci kennt? | |
Vor zwei Jahren wurde der Welt-Korrespondent Deniz Yücel festgenommen. Der | |
Aufschrei war groß – zu Recht. Als Meşale Tolu Ende April 2017 festgenommen | |
wurde, war Yücel noch in Haft. Die Aufmerksamkeit für das Thema blieb | |
konstant. Weil Yücels Fall die deutsch-türkischen Beziehungen schwer | |
belastet hatte, wurde Tolu als weitere Eskalation durch die türkischen | |
Behörden wahrgenommen. Deutsche Medien blickten genau auf die Türkei. | |
Aber die politische Konjunktur hat sich geändert: Mitte April 2017 stand | |
das Verfassungsreferendum in der Türkei an, mit dem Erdoğan seine | |
autoritären Zugriff legalisieren wollte. Die Türken wollten in Deutschland | |
Wahlkampf machen. Die Deutschen waren damit nicht einverstanden. Es kam zum | |
Streit, [4][Erdoğan unterstellte Bundeskanzlerin Merkel „Nazimethoden“.] | |
Im Herbst 2017 stand dann die Bundestagswahl an. Für deutsche Politiker | |
hieß es: Rückgrat zeigen oder Stimmen verlieren. Und wie lassen sich | |
einfacher Stimmen sammeln als mit Spitzen gegen die autoritären Türken? | |
Wenige Tage vor der Bundestagswahl ging der damalige Außenminister Sigmar | |
Gabriel weiter: „Wir haben unsere Wirtschaftshilfe reduziert und bei | |
Investitionen in der Türkei klar auf die Risiken hingewiesen.“ Es war die | |
Rede von einem deutschen Vorstoß zum Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen | |
der Türkei. Als Yücel freigelassen wurde, eilte Gabriel dann in den | |
Newsroom der Welt, um eine Erklärung abzugeben. | |
Und nun? Eine erneute Konfrontation mit der Türkei erschien nach Adil | |
Demircis Festnahme nicht mehr opportun. Es überwiegen wieder die | |
gegenseitigen Abhängigkeiten: Die wirtschaftlich angeschlagene Türkei | |
braucht Deutschland, wenn sie sich schon mit Trumps USA überworfen hat. Und | |
Deutschland ist weiterhin abhängig von der Türkei, wenn es darum geht, | |
Geflüchtete aus dem Nahen Osten fernzuhalten. | |
## Die Mutter | |
Elif Demirci sagt, es gebe ihr viel Kraft, dass sich so viele Menschen für | |
ihren Sohn einsetzen, die ihn gar nicht kennen. Sie müsse oft an die vielen | |
jungen Menschen in der Türkei denken, die unschuldig im Gefängnis sitzen. | |
Es würde aber nichts bringen, wenn sie in Trauer versinkt. Sie will | |
optimistisch sein, auch für Adil. Deshalb wird sie weiter mit ihm | |
telefonieren und ihm Briefe schreiben. Sie hat auch einen Brief an die | |
Bundeskanzlerin geschrieben und sie gebeten, sich für die Freilassung ihres | |
Sohns einzusetzen. Jetzt wartet sie. | |
11 Feb 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Deniz-Yuecel-ueber-die-Absurditaet-der-Haft/!5459100 | |
[2] https://gazete.taz.de/article/?article=!5530514 | |
[3] https://www.facebook.com/freeadildemirci/ | |
[4] /Erdoan-zu-Nazi-Vergleichen/!5395263 | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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