# taz.de -- Kinofilm „Das Mädchen, das lesen konnte“: Sie wollen autark bl… | |
> Marine Francens „Das Mädchen, das lesen konnte“ handelt von einem Dorf | |
> ohne Männer. Er erzählt von einem neuen Gefühl des Zusammenhalts. | |
Bild: „Das Mädchen, das lesen konnte“ ist kein Film großer Worte. Viel ge… | |
Vor über hundert Jahren ist in den USA ein Buch mit dem Titel „Herland“ | |
erschienen. Verfasst von Charlotte Perkins Gilman, Jahrgang 1860, erzählt | |
sie darin von einem Volk der Frauen, das seit Jahrtausenden ein Land ohne | |
Männer bewohnt. Neue Fortpflanzungsmethoden haben sich entwickelt, die | |
etablierte Sozialordnung ist eine andere. Doch Herlandbleibt nicht | |
unentdeckt. Drei junge Männer machen sich auf die Suche nach diesem | |
sagenhaften Ort mitsamt seinen Bewohnerinnen und berichten. Aus ihrer | |
Perspektive ist der Roman geschrieben. | |
Einer der Männer skizziert eine typische Situation: „Er sagte ziemlich | |
lahm, dass Frauen eben für schwere Arbeit nicht geschaffen seien. Sie sah | |
auf die Felder hinaus, wo ein paar Frauen damit beschäftigt waren, ein | |
neues Stück Mauer aus großen Steinen zu errichten, blickte zurück auf die | |
nahe liegende Stadt mit ihren Häusern, die alle von Frauen gebaut worden | |
waren, hinunter auf die glatte, harte Straße, auf der wir gingen, und sah | |
dann auf den kleinen Korb, den er ihr abgenommen hatte.“ Auch in Marine | |
Francens Film „Das Mädchen, das lesen konnte“ (Originaltitel: „Le | |
Semeur“) leben Frauen allein. Ihre Männer haben sie schlagartig und | |
unfreiwillig verlassen. | |
Es ist neun Jahre vor Charlotte Perkins Gilmans Geburt, als Louis Napoléon | |
Bonaparte die Zweite Republik per Staatsstreich stürzt, Frankreich | |
diktatorisch regiert und sich 1852 schließlich selbst zum Kaiser der | |
Franzosen krönt. Landesweit lässt er alle verschleppen, die sich auf die | |
republikanischen Werte Freiheit, Freundschaft und Brüderlichkeit berufen | |
oder in Verdacht stehen, dies zu tun. | |
## Feministische Utopie | |
In „Das Mädchen, das lesen konnte“ ist davon ein ganzes Dorf betroffen. | |
Aber dieser Gemeinschaft, Francens Frauen, fehlt der lange Vorlauf, auf den | |
sich jene in Gilmans früher feministischer Utopie berufen konnten und der | |
sie stark gemacht hat. So stark, dass sie eigene Wälder anlegen und Städte | |
errichten, dass sie Krieg und Kampf nicht nur verabscheuen, sondern ihrer | |
auch nicht mehr bedürfen. | |
Francens Film stellt die Frauen daher zunächst als aufgeschmissen dar. Aber | |
nur kurz. Die Regisseurin hat Literatur und Geschichte in Paris studiert, | |
bevor sie begann, Filme zu realisieren. Am Drehbuch für ihren ersten | |
Spielfilm hat sie selbst geschrieben. Und interessanterweise basiert es | |
ebenfalls auf einer literarischen Vorlage. Einer Novelle, die nur wenige | |
Jahre nach „Herland“ erschien: „L’Homme semence“ von 1919. | |
Bis 1952 wusste allerdings niemand von ihrer Existenz. Die knapp 20-seitige | |
Schilderung stammt aus der Feder Violette Ailhauds und Francen erklärt | |
dazu: „Ich fand die poetische Kraft des Textes schön, ebenso wie das, was | |
er über weibliches Begehren, den mythologischen Aspekt dieser Art von | |
Apokalypse und die Wiedergeburt, die im Text beschrieben wird, sagte.“ | |
Violette Ailhaud gehörte nicht der Oberschicht an, wie Charlotte Perkins | |
Gilman. Sie war eine Bäuerin in der französischen Provence, deren Vater ihr | |
das Lesen beigebracht hatte. | |
Eine seltene Gabe – im Dorf, das in „Das Mädchen, das lesen konnte“ zu | |
sehen ist, gibt es sonst keine, die sich dieser Technik bedienen könnte. | |
## Eine autobiografische Geschichte | |
Aber Ailhaud ist weit mehr als die Verfasserin von „L’Homme semence“ und | |
die Geschichte keine fiktive, sondern eine autobiografische. Das bedeutet: | |
In Marine Francens Film kann man der Figur Violette Ailhaud begegnen. Sie | |
wird durch Pauline Burlet verkörpert, eine 22-jährige Belgierin, die | |
bereits 2013 in Asghar Farhadis „Le passé – Das Vergangene“ spielte, der | |
Geschichte einer modernen Familie, deren Mitglieder sich über mehrere | |
Nationen verteilen und der ein Bruch droht. | |
Dieser Bruch ist in Francens Film, Ailhauds Erzählung, längst geschehen. | |
Mit dem Verschwinden der Männer stehen die Frauen mit ihren Feldern und | |
Tieren plötzlich ohne die gewohnte Muskelkraft da. Der Wegfall trifft die | |
Gemeinschaft empfindlich. In den Erntemonaten sieht man Frauen in | |
gleißendem Licht und in großer Hitze nun dabei zu, wie sie mit Sensen das | |
Getreide abschneiden. | |
## Ein anderes Frausein | |
Harte Arbeit. Strömender Schweiß. Aber es gibt auch ein neues Gefühl des | |
Zusammenseins, ein anderes Frausein. In der Mittagspause wird sich jetzt | |
auch breitbeinig an den Feldrand gesetzt. Wen störte es schon? Hilfe von | |
außen zu holen, kommt indes nicht infrage. Marine Francen beschreibt die | |
Entscheidung der Frauen, allein zu bleiben, als politische Geste des | |
Widerstands, die nicht in Reden besungen werden müsse, sondern anhand | |
klarer Lebensentscheidungen sichtbar würde. Man will autark bleiben. | |
Allerdings ist die Provence nicht Herland, ohne Männer droht dem Dorf das | |
Aus, schlicht und ergreifend, weil man sich nicht vermehren kann. Ein | |
Entschluss wird gefasst: Der erste Mann, der das Dorf passiert, soll | |
bleiben und für alle Frauen gleichermaßen da sein. Und tatsächlich kommt | |
einer. Seine Name ist Jean (Alban Lenoir) und er gibt sich als Handwerker | |
auf Wanderschaft aus. Violette wird beauftragt, sich um den Fremden zu | |
kümmern, ein erstes Vertrauen aufzubauen. Ein zartes Gefühl zwischen beiden | |
entsteht … | |
„Das Mädchen, das lesen konnte“ ist kein Film großer Worte. Viel geschieht | |
über Blicke, Marine Francen hat sich bemüht, zwischen der Kamera und ihren | |
Figuren so gut wie keine Distanz aufkommen zu lassen. So bleiben ihre | |
Geister zwar unangetastet – dennoch spürt man die Frauen. Ihre Ängste, ihre | |
Auf- und Erregung sind von den Gesichtern abzulesen, kommunizieren sich | |
durch die grobe Kleidung. | |
„Das Mädchen, das lesen konnte“, ist auch ein erotischer Film, der Plot | |
beinahe eine Fantasie. Es ist nicht das erste Mal, dass das Kino sich einer | |
solchen Anordnung bedient. Rasch kommt einem Don Siegels „The Beguiled“ | |
(1971) in den Sinn, in dem Clint Eastwood als verwundeter Soldat inmitten | |
des US- Bürgerkriegs Unterschlupf in einem Mädchenpensionat findet und dort | |
gefangengehalten wird. Oder umgekehrt – eine einzelne Frau allein unter | |
Männern – in Maurice Tourneurs Stummfilm „Das Schiff der verlorenen | |
Menschen“ (1929) mit Marlene Dietrich. | |
## Exklusivität der Liebe | |
Marine Francen navigiert sich klug durch die geladene Stimmung, in der sich | |
irgendwann auch Eifersucht und die Frage nach Beschaffenheit und | |
Exklusivität von Liebe breitmachen. Sie in einem Setting Mitte des 19. | |
Jahrhunderts diskutiert zu sehen, ist ungewöhnlich wie spannend – und | |
geschieht nicht frei von Komik. | |
In einer Szene, Violette hat Jean endlich die Abmachung der Frauen | |
gestanden, sieht man sie mit einer Freundin in der Dorfkapelle hocken. Der | |
Bildrahmen – Francen hat sich für ein gedrungenes, gleichsam fotogenes | |
4:3-Format entschieden (das ehemalige Fernseh-Standardformat) – zeigt die | |
beiden mit einem Kreuz im Hintergrund. Und Violette verkündet freudig: „Er | |
hat Ja gesagt!“ Selten waren Gotteslästerung, Glauben und Schwesternschaft | |
so nah beieinander. | |
Dennoch bleibt „Das Mädchen, das lesen konnte“ ganz in seiner archaischen | |
Gestalt, folgt eher dem Rhythmus alltäglicher Arbeit. Man meint, Baldrian | |
und Lavendel durch die Leinwand zu riechen, das frische Brot. Sinnliches, | |
das sich auch in das Begehren der Frauen übersetzt, die natürlich nicht nur | |
sich nach dicken Bäuchen sehnende Wesen sind, sondern auch lustvolle. | |
Francen hat ein sich spontan ergebendes, unmittelbares System inszeniert, | |
das politisch gelesen werden kann und sowohl von einem Gestern als auch | |
einem Heute kündet. Den Korb abnehmen lassen hat Marine Francen sich | |
jedenfalls nicht. | |
10 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Carolin Weidner | |
## TAGS | |
Kinofilm | |
Frauen | |
Friedensnobelpreisträger | |
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