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# taz.de -- Debütalbum von 79.5 aus New York: „Boy don’t be afraid“
> Freiheit und Humor, eine Girlgroup moderner Bauart – 79.5 aus New York
> und ihr ungewöhnlich schillerndes Debütalbum „Predictions“.
Bild: Aus dem eher proletarisch geprägten New Yorker Bezirk Queens: 79.5
Achtzig Sekunden bekommt sie erst einmal Soloeinsatz, diese kandierte,
glitzernde, aber nie dünne Frauenstimme. Zu wenigen, sparsam perlenden
Akkorden scheint sie zu erklären, worum es hier geht und was hier nun
folgt. Sie singt zwar etwas mit „Liebe“ und einem „Du“.
Ihre eigentliche Botschaft ist aber nicht romantischer Natur. Denn außerdem
ist zu hören: Hauchen in übertrieben schwelgenden Höhen. Ein bisschen
Plastik wie einst bei Cindi Lauper. Dann wieder mehr Soul. Und plötzlich
wird die Stimme mittels Pitch-Effekt (Humor haben sie auch noch!) höher
gestellt. Schließlich mündet alles in perfekte, dreistimmige Close-Harmony.
Man soll doch wohl, jenseits der Worte, vor allem eines hier mitbekommen:
Frauen machen hier Musik! Und sie beherrschen ihre Sache!
So beginnt „Predictions“, das Debütalbum der faszinierenden New Yorker Band
mit dem lakonischen Namen 79.5. (Seventynine-Point-Five). Und dann, nach
diesen achtzig Sekunden, fallen die MusikerInnen mit der Tür ins Haus,
dreht alles um einen selbstsicheren, lässigen Groove. Das Schlagzeug ist
dazu knochentrocken gemischt, mit vielen Rolls und geschlossener Hi-Hat,
wie im Funkjazz der Headhunters. Dazu ein versteckter Bass, weich und
tiefenlastig, wie ein subsonischer Bass im House.
## Saftiger Klang des Soul
Und immer wieder das offenbar zentrale Element dieses Sounds, das Keyboard
Fender Rhodes Mark I, der saftigste Klang, den der Siebziger-Soul
hervorgebracht hat. „Predictions“ hört sich an, als ob gleich eine
atemberaubende Weltkarriere abhebt. Tatsächlich aber hat die Band erst
2000 Facebook-Fans, lasche 104 (!) YouTube-Follower, es gibt kaum Artikel
über die fünf New YorkerInnen, keine Interviews mit Band-Gründerin Kate
Mattison.
Die sang Background bei dem kalifornischen Soul-Funk-Sextett Chicano
Batman. Auch Nya Parker und Piya Malik standen mit ihr am Mikro, und diese
drei Frauen bilden den Kern von 79.5. Gemeinsam mit drei StudiomusikerInnen
produzierten sie im proletarischen Stadtbezirk Queens etwas, das offenbar
so klingen soll, als hätte man einen Oldie-Radiosender eingeschaltet, der
noch analog betrieben wird, mit Plattenspielern statt computerisierter
Playlist und antiken Mikrofonen.
Eine Unsitte beim Sprechen über Musik ist es, mit Genre-Bezeichnungen zu
winken, als sei Musikmachen Kuchenbacken: man nehme eine Prise Funk und
vermenge sie mit House. Für 79.5 sind schon Marken wie Soul, R&B und
Psychedelicpop im Umlauf. Das ist zwar nicht ganz falsch; nur besagt das
leider nichts aus, denn das Wunder dieser Band sind die Freiheit und der
Humor, mit denen sie alte Vorbilder aufgreifen und gegenwartsfähig machen.
Man kann bei diesem Album an Girlgroups der Fünfziger denken, wie an den
Seidenlakensänger Billy Ocean. Dem kommt aber immer eine Querflöte
dazwischen! Da darf man sich veralbert fühlen oder auch gerade nicht:
Gerade die Querflöte konnte ja im Fusionsound der frühen Siebziger
hochintellektuell wirken.
Und weil der Sound von 79.5 so angenehm verspielt und leichtfüßig
daherkommt, regt er umso mehr dazu an, über das Politische im ganz privaten
Musikgenuss nachzudenken. Vordergründig wird hier nur von der nächsten
Liebschaft gesungen, die elf Songs sind Musik für eine endlose Party. Das
Saxofon wirkt auch noch wie direkt aus der Langnese-Eiscreme-Werbung zu
neuem Leben erweckt. Hört man genauer hin – und das wird man, weil die
Musik von 79.5 süchtig macht und insofern Powerplay bekommt –, ist da doch
mehr als die etwas zu glatte gute Laune.
## Softpop Saxofon
Das überdrehte „Hello, Hello, Hello? – Yeeees?“ auf dem Song „Wavy“ …
nur jene Art von Parodie auf Girlgroups sein, denn ihre Wut mag unter viel
Sirup versteckt sein, aber anders als die Girlgroups von einst ist alles an
79.5 selbstbestimmt. Im Song „Facing East“ zitiert das Saxofon den
Softpop-Hit „Baker Street“ von Gerry Rafferty (1978), aber wie alles bei
dieser Band nur beinahe, nur als ironische Andeutung. Denn die Musik von
79.5 lacht immer über die Zuhörenden oder auch mit ihnen. Drums und
Keyboard sind verzerrt, als drehe jemand absichtlich zu weit an den
Reglern.
Ein kluger Feminismus steckt immer in all diesen so vermeintlich
leicht-lässigen Songs. Allein schon ein überzeugtes „And I know in my
body“, da wird das Liebesgefühl in die Körperintelligenz verlagert, hat
man bis jetzt selten gehört. „I’m mad, I’m sad, I’m all of it“, hei�…
auf „Sisters Unarmed“ und dann noch: „Why should I change!“ Vor vierzehn
Jahren rollte ein anderes, nicht typisch maskulin dominiertes Musikphänomen
durch die Popwelt, die Scissor Sisters. Doch das Quintett aus der New
Yorker Schwulenszene musste noch ganz andere Arbeit leisten, nämlich wie
ein Presslufthammer durch die Popwelt bohren, mit dreifacher Kraft dafür
sorgen, an die Spitze zu kommen.
79.5 darf das heute viel sanfter und übrigens in niedrigerem Tempo machen,
mit so etwas wie Selbstzweifeln. Aber sie stehen mit dem gleichen Stolz und
ähnlichem Glitzer da, auf ihren Fotos, die vier Frauen und zwei Männer. Die
Girlgroup eines neuen Zeitalters ist nun offiziell erfunden.
„Boy don’t be afraid“ singen die drei Frauen von 79.5 jetzt, das ist die
Antwort auf all jene Trottel, die nach #MeToo klagten, man dürfe ja nun
wohl überhaupt nicht mehr auf eine Frau zugehen und sie womöglich attraktiv
finden. Es klingt wie eine freundliche Einladung. Aber Vorsicht: Dann
singen die Frauen im Chor: „Boy don’t“ – also doch lass es bleiben?
Egal, „I’m falling in love“ kommt ja auch noch – ob Ironie oder nicht, …
Musik von 79.5 strahlt eine so großherzige Wärme aus, sie nimmt in den Arm
wie ein weiches Badehandtuch, da kann man nur aufgeben. Und für die eine
Hälfte der Hörer gilt dann eben: Es ist gar nicht so schwer, seine
männliche Gender-Rolle an der Garderobe aufzugeben – und nach dem Konzert
nie wieder abzuholen.
23 Dec 2018
## AUTOREN
Thomas Lindemann
## TAGS
79.5 Band
Disco
Golden Pudel Club
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