# taz.de -- Eine Weihnachtsgeschichte: Heiligabend im Puff | |
> Aras krächzen am Tannenbaum, Prostituierte sämtlicher Geschlechter | |
> tummeln sich. Ein Einblick in das beste Bordell der Welt. | |
Bild: Ein Engel beim fröhlichen Bondage-Spiel | |
„Das erste Mal hier, hm?“, fragte mich freundlich mein Nebenmann. Ich hatte | |
ihn leise angesprochen, wo denn die Klingel wäre. Dabei hatte ich mich | |
verstohlen umgeblickt, denn für mich war es in der Tat der allererste | |
Heilige Abend im Puff. | |
Sonst hatte ich immer bei Mutti gefeiert mit Kwas und Falschem Hasen, doch | |
sie konnte diesmal nicht, weil sie gestorben war. Der erfahrene Freier | |
lächelte ob meiner knabenhaften Geziertheit. „Klingel brauchste heute | |
nicht. Bei dem Hochbetrieb ist alles durchgehend offen. Nimm einfach die | |
Schwingtür. So, bitte schön!“ | |
Er hielt mir eine der vier gläsernen Doppeltüren auf, die ins Innere des | |
hell erleucheten Gebäudes führten. Gemeinsam betraten wir den Puff. Dann | |
ließ er mich allein. | |
Ich schaute mich um. Von der mich umgebenden Pracht war ich wie geblendet. | |
Das hätte ich nicht erwartet. Ich stand in einem riesigen Foyer, links und | |
rechts an den Seiten sah man Wandelgänge aus blitzendem Marmor, wie die | |
Ränge eines Theaters, die sich hoch bis in den sechsten, siebten Stock | |
hinauf erstreckten; bis unters Dach, wo in einem geräumigen Käfig ein paar | |
bunte Aras krächzten. | |
Eine bestimmt dreißig Meter hohe und mit tausenden elektrischen Lichtern | |
bestückte Tanne reichte etwa bis zum fünften Stock. Die markante | |
Leuchtschrift über dem festlich geschmückten Infotresen wünschte „unseren | |
lieben Freierinnen und Freiern ein gesegnetes Weihnachtsfest 2018.“ | |
Geschäftig liefen Prostituierte sämtlicher Geschlechter hin und her, zu | |
erkennen an den Namensschildern und den purpurfarbenen Uniformen. Sie | |
wiesen Neuankömmlinge ein, reichten Tabletts mit Begrüßungs-Proseccos oder | |
fegten einfach nur den Boden. Alles musste blitzeblank sein. Die Botschaft | |
war klar: Dies war nicht nur der beste Puff der Welt; es war obendrein der | |
beste Puff der Welt an Weihnachten. Um das zu überbieten, hätte schon | |
Jupiter volle Sahne mitten in die Sonne donnern müssen. | |
Ich war etwas nervös, deshalb griff ich dankbar nach dem Prosecco, den mir | |
ein distinguierter Prostituierter mit einem langen, aber gepflegten weißen | |
Bart hinhielt. Ich hoffte, dass mir niemand ansah, dass ich noch nie zuvor | |
im Puff gewesen war, und dass die weiteren Abläufe selbsterklärend wären. | |
Doch meine Ängste waren unbegründet. Die Weihnachtsatmosphäre hatte die | |
Menschen hilfsbereit gestimmt. | |
## Mutti hätte es hier garantiert gefallen | |
Ich musste noch nicht mal zum Informationsschalter. Die anderen Freier | |
nahmen mich Neuling gern bei der Hand, führten mich herum und zeigten mir | |
alles: den Konferenzraum. Das Billiardzimmer. Die Hupfballarena. Den | |
Kreidemalraum. Das Bällebad. Yogazentrum, Schwimmhalle und das Outlet für | |
Winterstiefel. Natürlich auch die Kostümkammer, in der sich jeder nach | |
Herzenslust verkleidete. Auch ich ließ nun endlich alle Scheu fahren und | |
warf mich in das Gewand eines gestiefelten Katers. | |
Prustend stolzierte ich herum. Eine Prostituierte hielt mir den Spiegel hin | |
und lobte mein Aussehen. Mutti hätte es hier garantiert gefallen. In diesem | |
Moment hätte ich mich ohrfeigen können, dass wir Weihnachten immer | |
schweigend auf dem Sofa verbracht hatten. | |
Mutiger geworden, erkundete ich nun das ganze Haus. Überall scherzten gut | |
aufgelegte Freier und Prostituierte miteinander, im dritten Stock gab es | |
einen Excel-Kurs, den eine Gastprostituierte von der TU Berlin abhielt. | |
Über die Zooabteilung und das Hasenbrotlager erreichte ich knapp unter dem | |
Dach schließlich einen kleineren und fast dunklen Raum. | |
Ich staunte. Hier oben war es ja noch viel gemütlicher. Und auch ein | |
bisschen mehr so, wie ich mir einen Puff vorgestellt hätte. Irgendwie | |
unprätentiöser. Auf einem Adventskranz aus Fichtenzweigen brannten vier | |
Kerzen. Das hatte schon etwas Verruchtes. Mein Schlund fühlte sich auf | |
einmal ganz trocken an. Ich musste unwillkürlich schlucken. Zum Glück gab | |
es auch hier Prostituierte, die Prosecco nachschenkten und Postkarten | |
verkauften, die aber keiner nehmen musste. Das war, wie alles im Puff, | |
einfach nur ein Angebot. | |
## „Kackwurst, Doofschwein, Penisschwanz!!“ | |
Doch ausgerechnet hier gab es dann beinahe einen Eklat. „Kackwurst, | |
Doofschwein, Penisschwanz!!“, grölte eine junge Frau im Einhornkostüm. Sie | |
hatte offenbar zu viel Prosecco getrunken. Es wurde still und die | |
Umsitzenden blickten einander indigniert an: Sollte man da was sagen? Sich | |
einmischen? Oder besser nicht? Waren wir zu spießig? Aber es war doch | |
Weihnachten. | |
„Ey, hallo?“, brach eine etwa Gleichaltrige das Schweigen. „Geht’s noch? | |
Das kannst du echt nicht bringen. Hier sind doch auch Kinder.“ Sie zeigte | |
in die Spielecke, wo die Kleinen in einem Tipi mit Spielzeugautos, | |
Dinosauriern und Lego hantierten. Daran und an ihren ernsten | |
Gesichtsausdrücken sah man gleich, was sie spielten: „Mama geht in den | |
Puff.“ | |
„Soooory Maaaan!“ Die Einhornfrau rülpste. Dann kicherte sie munter. Das | |
Eis war gebrochen. Nun lachten wir alle fröhlich. | |
„Eine rauchen?“, fragte mich der ältere Herr, den ich in der vom | |
Weihnachtsmann einfühlsam moderierten Vorstellungsrunde als Günther | |
kennengelernt hatte. Er trug ein schulterfreies Ballkleid, eine Eselsmütze | |
und Turnschuhe aus Taft. | |
„Sehr gerne.“ Eine Zigarette konnte ich jetzt gut gebrauchen. Das | |
Weihnachtsfest zusammen mit so vielen fremden Menschen zu verbringen, hatte | |
mich gehörig aufgewühlt. Von der fußballfeldgroßen Dachterrasse blickten | |
wir über das Häusermeer. Alles schien so friedlich. Unten die Lichter der | |
Armen und Einfallslosen, die Weihnachten allein zu Hause feiern mussten. | |
Hier oben zwei kleine Glühwürmchen. | |
## Mit Radieschen geschmückte Puffmutter | |
„Seit meine Inge nicht mehr lebt, komme ich jedes Jahr hierher“, sagte | |
Günther, als die Stille anfing, unangenehm zu werden. Ich fühlte mich | |
peinlich berührt. Too much information. „Es könnte ruhig auch mehr zu essen | |
geben“, fuhr er sachlicher fort. „Dann wären manche Freier nicht so | |
betrunken und es gäbe weniger schlimme Szenen wie die eben. Aber vielleicht | |
ist das auch zu viel verlangt. Sonst ist das hier ja wirklich ein | |
exzellenter Puff. Und immerhin ist alles umsonst. Es wird immer gern auf | |
den Staat geschimpft, aber das ist natürlich toll.“ | |
„Ja, das ist toll“, sagte ich matt. Ich fühlte mich plötzlich hundeelend. | |
Zum Glück wurden wir von einer Zebrapantomime (vermutlich zwei Personen) | |
unterbrochen, die auf die Terrasse gestürmt kam und rief: „Leute, alle | |
runterkommen: Es fängt an!“ | |
Unten steuerte die Party auf ihren Höhepunkt zu. Die über und über mit | |
Pfauenfedern und Bündeln frischer (um diese Jahreszeit!) Radieschen | |
geschmückte Puffmutter wurde von zehn winzigen Zuhältern – der | |
Verkleidungen wegen konnte man nicht sehen, ob es sich eventuell auch um | |
Kinder handelte – im Triumphzug durch das Foyer getragen. Alle sangen nun | |
aus voller Kehle mit, sicher so ein Insider-Ding. | |
Ich fiel zögernd mit ein, obwohl ich den Text nicht genau verstand. Der | |
Refrain ging jedenfalls so ähnlich wie: „Bumsfallera, nun lasst uns mehlig | |
sein …“ Dann knallten die Korken, alle schrien „Frohe Weihnachten“, und… | |
Puffmutter wurde in die Luft geworfen. Unsanft landete sie auf dem Boden, | |
doch gleich rappelte sie sich wieder auf, klopfte sich lachend das | |
Leopardenkostüm ab und rief: „Trinkt, Kinder, so schön wird es nie mehr | |
sein.“ Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. | |
Längst war meine gute Laune wieder hergestellt. Draußen drückten sich | |
Schaulustige an den Fenstern neidisch die Nasen platt. Die Glastüren waren | |
schon lange wegen Überfüllung geschlossen worden. Denn vor allem an | |
Heiligabend heißt es im Puff: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. | |
24 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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