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# taz.de -- Griechisch-türkische Beziehungen: Auf dem Markt von Ayvalık
> Jeden Donnerstag bringt eine Fähre Griechen von Lesbos zum Markt im
> türkischen Ayvalık. Dort sind die Waren billiger, seit die Lira
> abgestürzt ist.
Bild: Auf dem Markt von Ayvalık gibt es drei Schlüpfer für zehn Lira
An einem Donnerstag kurz vor Sonnenuntergang bricht eine kleine Fähre vom
türkischen Ägäis-Städtchen Ayvalık zur unmittelbar gegenüberliegenden Ins…
Lesbos auf. Zunächst müssen ein Schiebetürenschrank, ein Kinderbettgestell,
eine Kingsize-Matratze und sechs riesige Kisten sicher verstaut werden. Die
Passagiere sind morgens früh aufgebrochen und mittlerweile ziemlich
erschöpft, manche haben schon ihre Köpfe an die Scheiben der Fähre gelehnt
und sind eingenickt.
Wer noch Energie hat, zaubert etwas aus den Plastiktüten zwischen den
Beinen hervor und zeigt es den Mitreisenden oder trinkt auf die Müdigkeit
noch einen Schiffskaffee. Auf eine Person kommen fünf vollgestopfte Tüten,
Bettzeug, Decken, Morgenmäntel und jede andere Form der Bekleidung,
Duschköpfe, Kinderspielzeug, Töpfe, Fünflitertöpfe Wandfarbe. Die
Einwohner*innen der Hafenstadt Mytillini auf Lesbos kehren vom Wochenmarkt
in Ayvalık zurück und zeigen einander ihre Schnäppchen.
Das Wasser der Ägäis schimmert lilablau. Homers Odysseus musste auf dem Weg
nach Ithaka diese Wellen überwinden, auch die Piratenhändler des
Mittelalters. Seit dem letzten Jahrhundert spiegeln sich in diesen
Gewässern Bilder der Migration. 1923 haben die beiden Nachbarn Griechenland
und Türkei auf dem Papier die bilaterale Zwangsmigration beschlossen,
woraufhin die in Griechenland lebenden muslimischen Türk*innen auf die
andere Seite übersiedeln mussten und die in der Türkei lebenden
christlichen Griech*innen auch: Auf Schiffen über die Ägäis.
In die Taschen dieser Reisenden passten damals auch nur wenige
Habseligkeiten. Ihre Häuser, ihre Felder, die Erde mitsamt dem darüber zu
sehenden Himmel mussten sie zurücklassen und über Nacht auf der anderen
Seite ein neues Leben aus dem Boden stampfen. Ihre Wut und Bitterkeit, ihre
Ängste und Sorgen machten das Meer noch dunkler als es ohnehin schon war.
## Auf dem Markt in Ayvalık ist vieles billiger
Derzeit gibt es weltweit 258 Millionen Menschen, die in ein anderes Land
migriert sind. Das Wasser der Meere hat sich jüngst mit traurigen Bildern
in unser Gedächtnis eingebrannt: Ein syrisches Kind im Grundschulalter ist
mit seiner Familie vor dem Krieg geflohen, um mitten in der Nacht in einer
Bucht von Ayvalık in ein Plastikboot gepfercht zu werden, von dem es gern
in Mytillini an Land gehen würde. Aber die kleinen Boote schaffen das
manchmal nicht und die Familien verlieren einander im Wasser und auf dem
Meer schwimmt ein Kinderausweis. Die hastig zusammengepackten Taschen und
aus der Hosentasche gerutschten Schlüssel zu einem Ort, den niemand mehr
kennt, sinken auf den Meeresgrund.
Auf den Donnerstagsfahrten vom Hafen von Ayvalık nach Mytillini wirkt
niemand unglücklich. Dennoch lässt sich im Hintergrund des Gewimmels ein
Bild des Elends ausmachen, die Folgen der Schuldenkrise. Seit Jahren ist
jeden Donnerstag Wochenmarkt in Ayvalık, aber die Zahl der
Tagestourist*innen aus Midilli, wie die Insel auf Türkisch heißt, ist seit
der Schuldenkrise in Griechenland ab 2010 stark angestiegen. Landesweit
sind 25 Prozent der Griech*innen arbeitslos, die Jugendarbeitslosigkeit
liegt bei 50 Prozent.
Die Insel ist von der Krise besonders betroffen, da dort kaum etwas
produziert wird und die Einkünfte stark vom Dienstleistungssektor abhängen,
der auf die Tourismus-Saison zugeschnitten ist. Auf dem Markt von Ayvalık
ist von der Kleidung bis zu Lebensmitteln vieles billiger. Während in
Griechenland die Auswirkungen der Krise ein wenig abklingen, ist die Türkei
gerade in eine der gravierendsten Wirtschaftskrisen ihrer Geschichte
geschlittert.
Die türkische Lira hat so rapide an Wert verloren, dass Panos aus Mytillini
sich erinnert, im Oktober 2016 auf dem Markt von Ayvalık 100 Euro
gewechselt und dafür 340 Lira bekommen zu haben. Heute kann er für seine
100 Euro Waren im Wert von 700 Lira in seine Taschen stopfen. Für viele
Griech*innen bietet der Sturz der Lira – nach Jahren der schweren
Wirtschaftskrise im eigenen Land – die Möglichkeit, sich wieder etwas mehr
leisten zu können.
## Außer auf dem Markt hört man selten Griechisch
Nur drei Firmen bieten Fahrten zwischen den zwei Häfen an. Die älteste von
ihnen ist Jale Tur. Dort arbeitet Didem Ağaçdelen. Sie erzählt, dass seit
Ausbruch der Krise in der Türkei viel mehr Menschen aus Midilli
rüberkommen, bis zu 1.500 pro Tag. Als zusätzlichen Anreiz verkauft die
Firma ihre Tickets am Markttag nicht für die sonst üblichen fünfzehn Euro,
sondern für sieben. Und es gibt eine Woche, in der noch mehr Menschen
kommen, und das sagt viel über die sozio-ökonomische Lage aus: In
Griechenland wird das Arbeitslosengeld am 15. jeden Monats überwiesen, der
darauffolgende Donnerstag ist immer der geschäftigste Markttag.
In Ayvalık gibt es eine Anhöhe, die İlkkurşun Tepesi heißt, der Hügel der
ersten Kugel. Der Legende zufolge wurde hier 1919 die erste Kugel
abgefeuert, um den Vormarsch der griechischen Armee zu stoppen. Wer den
Hügel erklimmt, kann kaum der überdimensionierten türkischen Flagge
ausweichen, die dort im Wind flattert. Die historische griechische Kultur
der Gegend hat in Ayvalık nur in Form der “kretischen Knabbereien“
überlebt, das sind in erhitztem Sand geröstete Kichererbsen – und in den
Vitrinen der Maklerbüros, wo “griechische Häuser“ zum Kauf angeboten
werden.
In diesen Häusern haben früher Menschen gewohnt, die nach Griechenland
vertrieben worden sind. Der Begriff, der heute in der Immobilienbranche als
architektonischer Fachbegriff genutzt wird, erzählt die Geschichte von
menschlichem Leid – so denken auch die Enkel derjenigen, die umgekehrt aus
Griechenland in die Türkei zwangsumgesiedelt wurden.
Auf den Straßen von Ayvalık hört man heute ziemlich selten Griechisch. Nur
auf dem Markt schreien die Händler “έλα, έλα“ (komm!). Sie können d…
Zahlen und ein paar Verkaufssätze. Dieses “Marktgriechisch“ haben sich so
ziemlich alle türkischen Verkäufer angeeignet. Small, Medium und Large sind
ohnehin schon universell. Beim Handeln kommt der Taschenrechner zur
Geltung, auf dem Käufer und Verkäufer jeweils die Zahl eintippen können,
mit der sie noch zufrieden sind, und dem Anderen zeigen. “Ohne ein bisschen
Griechisch kommt man nicht klar“, sagt İlker, der seit 25 Jahren
Nachthemden verkauft. Er ist zufrieden, die Geschäfte laufen gut. Ein
anderer Verkäufer glaubt, das liegt daran, dass türkische und griechische
Frauen einen ähnlichen Geschmack hätten.
## Manche verkaufen die Waren in Griechenland weiter
Die Verkäufer Mine arbeitet seit zehn Jahren im Unterwäschegeschäft ihrer
Eltern. Sie war noch nie in Griechenland, aber sie weiß, dass Unterwäsche
dort teuer ist. Bei ihr kosten drei Schlüpfer zehn Lira. Hüseyin verkauft
Schuhe. Er erzählt, dass er wegen der Krise weniger türkische Kunden habe
und die Griechen ihn retten. Manche kaufen zehn paar Schuhe.
Hasan ist 25 Jahre alt und steht hinterm Bettwäschestand seines Vaters seit
er fünf ist. Er sagt, die Nachfrage sei gestiegen, weil auf Midilli nichts
produziert wird. “Die kommen und können gar nicht glauben, dass sie hier
ein Bettlaken für einen Euro fünfzig kriegen. Da gibt es natürlich welche,
die viel aufkaufen und drüben weiterverkaufen.“ Diese Weiterverkäufer kann
man auf dem Markt an ihren ungleich größeren Taschen erkennen. Sie wollen
aber nicht sprechen. Sie haben auch keinen Spaß beim Einkaufen wie die
Gruppen von drei oder fünf Frauen, die lachend mit den Händlern feilschen.
Eftychía ist um die 30 und arbeitslos. Sie erzählt sofort, dass ihr Name
“Glück“ bedeutet. Sie ist mit ein paar Freundinnen auf den Markt gekommen.
“In Griechenland gibt es eigentlich alles in billig. Das Problem ist nur,
dass auch das Billige für uns zu teuer ist“, sagt sie. Ihr Sohn Michail ist
sechs und schon dabei, mit seinem neuen Spielzeug-Gewehr imaginäre Feinde
abzuknallen. Seine Mutter sucht drei Paar Schuhe aus. “Guck mal wie schön“,
sagt Eftychía zu Michail. Sie sieht glücklich aus. Hüsyein, der
Schuhverkäufer, auch.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
15 Oct 2018
## AUTOREN
Pınar Öğünç
## TAGS
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