# taz.de -- Vom Filmkritiker zum Pfarrer: „Hier fühle ich mich als Regisseur… | |
> Alexander Remler war Filmkritiker. Erst mit Anfang 30 fand er den Mut, | |
> Theologie zu studieren. Heute ist er Pfarrer. Was haben beide Jobs | |
> gemein? Ein Gespräch. | |
taz: Herr Remler, wie kam das Schilfdach auf die Schilfdachkapelle? | |
Alexander Remler: Das ist ein bedeutender Teil der deutschen Geschichte. | |
Bitte erzählen Sie mal. | |
Die Kirche steht schon in Groß Glienicke und nicht mehr in Berlin. Die | |
Briten hatten hier 1945 den alten Militärflugplatz besetzt, die Rote Armee | |
stand in Groß Glienicke. Beide Militärleitungen haben gesagt: Okay, dann | |
ziehen wie die Grenze eben quer über den Groß Glienicker See rüber. Damit | |
wurden Kirchgemeinde und Kommune geteilt. Der damalige Gemeindepfarrer | |
beschloss, dass hier im Westteil eine neue Kirche gebaut wird. Die | |
Gemeindeglieder haben da viel ehrenamtliche Arbeit reingesteckt; sie bauten | |
aber auch so günstig, wie es ging. Beim Design hat man sich an einem | |
niedersächsischen Schafstall orientiert, draufgelegt hat man, was man am | |
See gefunden hat – den Schilf. | |
Und wie kommt das WLAN in die Kirche? | |
Die Kirche wird nicht nur von Montag bis Sonntag, sondern auch Samstagabend | |
besucht – von Jugendlichen hier aus Kladow. Die setzen sich da hin und | |
trinken hoffentlich vor allem nichtalkoholische Getränke. Wir hatten zwei | |
Möglichkeiten: Sie entweder zu verscheuchen oder zu sagen: „Leute, wisst | |
ihr was? Bleibt hier, seid hier, aber benehmt euch einigermaßen. Und wenn | |
ihr wollt, kriegt ihr WLAN.“ Jetzt hat die Kirche einen Repeater. | |
Gibt es eine Zusammenarbeit mit den Jugendlichen? | |
Grundsätzlich haben wir eine lebendige Konfirmandenarbeit mit vielen | |
Jugendlichen aus Kladow. Aber mit diesen Jugendlichen vor der Kirche gibt | |
es nicht wirklich Begegnungen. Wir fühlen uns gut damit, dass die sich hier | |
zu Hause und wohl fühlen. Sie machen nicht so viel Ärger, wie sie mal | |
gemacht haben. Hier gibt es recht wenig Angebote für Jugendliche. Und wenn | |
sich irgendwelche Nachbarn beschweren, dann sagen die auch, wir haben mit | |
dem Pfarrer gesprochen. | |
Sie waren nicht immer Pfarrer, sondern Journalist und Filmkritiker … | |
… die Krone der Publizistik! | |
Was war für Sie wichtig im Kino? | |
Wie im gesamten Journalismus: was das Leben beschreibt. Es ist jetzt 20 | |
Jahre her, dass ich selbst bei der taz war, meine erste Station. Ich war im | |
Feuilleton, schrieb Filmkritiken und Reportagen. Das ist etwas, was mich | |
bei allen Brüchen in meiner Biografie immer am meisten interessiert hat: | |
mich mit dem Leben zu beschäftigen. | |
Die Kapelle könnte ja auch als Filmkulisse durchgehen. | |
Neulich war hier eine Filmproduktionsgesellschaft, die drehen wollte. Ich | |
habe gehofft, dass die sich dafür entscheiden – für eine Schweinemenge | |
Geld. Dummerweise haben sie es nicht getan. | |
Fühlen Sie sich hier als Regisseur? | |
Ja. Die darstellenden Künste haben eine enge, lange Beziehung zur Liturgie | |
im Gottesdienst. Das eine ist aus dem anderen hervorgegangen. Insofern | |
inszenieren wir tatsächlich jeden Sonntagvormittag unser Stück – das seit | |
2.000 Jahren immer die gleiche Geschichte erzählt und immer wieder neu | |
gedeutet wird. | |
Welcher Film ist das? | |
Das Leben. Und Gott ist der Hauptdarsteller. | |
Zieht der nicht die Strippen? | |
Zumindest gibt er Raum und Rahmen vor. Mit dem „Strippenzieher“ ist das so | |
eine Frage, da geht es um den freien Willen – da habe ich meine | |
Schwierigkeiten. Ich sehe mich nicht als seine Marionette. Obwohl ich davon | |
ausgehe, dass er überall seine Finger im Spiel hat. | |
Während des Filmdrehs ergeben sich immer Szenen, in denen die Darsteller | |
etwas lockerer mit dem Stoff umgehen. | |
Ich sage mal: Lars von Trier [dänischer Regisseur, d. Red.]. Improfilme | |
sind mir eigentlich die liebsten Filme. Die nicht geplanten, spontanen | |
Dinge im Gottesdienst machen manche Kollegen ein bisschen nervös. Mich | |
hingegen selten. Denn da bricht das Leben durch. Das sind oft die | |
spannendsten Momente. | |
Was sind das für Augenblicke? | |
Neulich habe ich ein Kind getauft, das ist dann vom Taufbecken einfach | |
weggerannt – glücklicherweise erst nach der Taufe. Da konnte ich dann | |
sagen: „Tut mir leid, Leute. Aber getauft ist getauft.“ Das hat zumindest | |
für einen Lacher gesorgt. | |
Ihre Texte erschienen außer in der taz auch in der Berliner Morgenpost, der | |
Frankfurter Rundschau, in der Welt am Sonntag. Sie waren recht erfolgreich. | |
Warum die abrupte Neuorientierung? | |
Ich wollte schon nach dem Abitur Theologie studieren, aber mir hat der Mut | |
gefehlt. Ich bin in einem relativ kirchenfernen Haushalt groß geworden. | |
Auch meine damalige Freundin hatte mit Kirche nichts am Hut. Glaube und | |
Kirche haben bei den Freunden überhaupt keine Rolle gespielt. Ich bin | |
belächelt worden. | |
Ihre damalige Partnerin war Assistentin bei Christoph Schlingensief. Der | |
war doch immerhin Messdiener gewesen. | |
Ja. Und er hat auf dem Sterbebett ein sehr kluges, schönes Buch | |
geschrieben, in dem er sich intensiv mit der Frage nach Gott und dem | |
Unendlichen beschäftigt. Aber im laufenden Betrieb an der Volksbühne war | |
das nur schwer erkennbar – zwischen Kettensägenmassaker und Schwimmsport | |
mit Behinderten. Ich habe mich dann für Religionswissenschaft und | |
Philosophie entschieden, eine Zeit lang auch Film in New York studiert. Ich | |
dachte, ich werde Filmregisseur, dann wurde ich aber nur Filmjournalist. | |
Es gibt Filmkritiker, die Regisseur geworden sind: Eric Rohmer und Wim | |
Wenders zum Beispiel. | |
Gibt es Regisseure und Filmkritiker, die Pfarrer geworden sind? | |
Nein. Deswegen bin ich ja gekommen. | |
Im Reportage-Ressort von Morgenpost und Welt war ich als Kirchenonkel für | |
die ganz existenziellen Themen verschrien. Wenn es irgendwo eine große | |
Katastrophe gab, hieß es: „Alexander, geh du mal da hin.“ | |
Sie schreiben nicht mehr. | |
Nein. Aus dem Tageszeitungsjournalismus bin ausgestiegen, als ich Anfang 30 | |
war, mit der Entscheidung, Theologie zu studieren. Um das Studium zu | |
finanzieren, stieg ich in die Unternehmenskommunikation für die Berliner | |
Flughäfen ein. | |
Was denken Sie beim Thema Flughäfen in Berlin? | |
Da braucht man auch eine Menge Gottvertrauen. | |
Hat Ihnen die Darstellung Gottes im populären Kino gefallen? | |
Das ist recht breit gefragt. Ich hatte einen starken Bezug zu einem | |
hochreligiösen Regisseur, Martin Scorsese. Den Erlösungsfantasien, die er | |
in Filmen wie „Taxi Driver“ verarbeitet, habe ich mich nahe gefühlt: zum | |
Eigentlichen durchzudringen, koste es, was es wolle. Darüber habe ich mein | |
eigenes existenzielles Thema gefunden – die Unmittelbarkeit, der direkte | |
Kontakt zu Gott. | |
Braucht die Seele eine ganz bestimmte Sorte Film? | |
Eine ganz bestimmte Sorte Geschichte: die Heldengeschichte. Das wissen ja | |
alle, die ein gutes Buch schreiben, die einen guten Film drehen, genauso | |
wie alle, die auf der Kanzel stehen und diese guten Geschichten aus der | |
Bibel nacherzählen. Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wo will ich hin? Ich | |
glaube, das verbindet alle, die wie auch immer versuchen, das Leben zu | |
beschreiben. Gott ist ja letztendlich auch nur ein Symbol für das | |
Unmittelbare, für das, was uns im Kern ausmacht als Menschen. | |
Sie sagen, der Gottesdienst ist eine Inszenierung. | |
Jeder Gottesdienst, jeder Sonntagsdienst im Kirchenjahr hat ein sogenanntes | |
Proprium, etwas, was für jeden Sonntag speziell ist. Dann gibt es ein | |
Ordinarium – etwas, was immer gleich bleibt. Aus dieser Kombination gilt es | |
immer wieder die gleiche Geschichte neu zu erzählen. Ich bitte alle | |
möglichen Leute – Konfirmanden, Lektoren und andere Gemeindeglieder – im | |
Gottesdienst aufzutreten, um ihn lebendiger zu machen, den | |
Gemeinschaftsgedanken zu fördern. Der soll keine One-Man-Show sein. | |
Überhaupt Kanzel: Das ist ja auch schon ein Statement. Warum muss ich mich | |
selber erhöhen, um von oben herab zu den Leuten zu reden? Wenn es doch | |
eigentlich darum geht – gut lutherisch gesprochen –, den Leuten aufs Maul | |
zu schauen. Es ist angemessener, auf Augenhöhe durch die Reihen zu gehen. | |
Wie viel Besucher kommen so? | |
Zu einem ganz normalen Gottesdienst zwischen 60 und 80. | |
Kirche ist nicht sonderlich populär in Berlin. | |
Nein. Im vorigen Jahr haben wir im Raum unserer Landeskirche, der zurzeit | |
noch knapp 1 Million Mitglieder angehören, ungefähr 18.000 Menschen | |
verloren, knapp 2 Prozent. Das ist rund eine Gemeinde pro Monat. | |
Viele Tageszeitungen verlieren mehr als 2 Prozent Abos im Jahr. | |
Da gibt es eine Parallele: Wir arbeiten beide in sterbenden Industrien. Sie | |
sind Journalist, ich bin Pfarrer: Gleichzeitig glauben wir an das, was wir | |
machen. Insofern ist die Zeitung nicht so ein schlechtes Beispiel. Die | |
Leute lesen ja trotzdem, sie lesen nur anders. Und da bin ich genauso | |
überzeugt: Nur weil die Leute aus der Kirche austreten, heißt das nicht, | |
dass sie weniger religiös sind. Ich glaube nur, dass die religiösen | |
Ausdrucksformen im Wandel begriffen sind. Dies zu identifizieren, erkennbar | |
zu machen, wahrzunehmen und womöglich zu verarbeiten und in die Kirche | |
zurückzuholen, das ist die große Herausforderung. | |
Die ehemaligen Zeitungsleser lesen umsonst im Internet. Glauben die Leute, | |
die aus der Kirche austreten, umsonst im Internet weiter? | |
Gottes Liebe ist ein Geschenk. Es gibt eine enge Beziehung zu den | |
strukturellen Veränderungen in unserer Gesellschaft. Alles, was im Sinne | |
von Individualisierung, Pluralisierung und Privatisierung passiert in | |
unserer Gesellschaft, hat eine direkte Auswirkung auf die Kirche. Dem | |
können wir uns nicht entziehen. Und solche Entwicklungen lassen sich nicht | |
einfach rückgängig machen. Als Kirche sind wir gesellschaftlicher Akteur, | |
nicht unabhängig von der Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte. Wir leiden | |
auf der einen Seite daran; andererseits ist das ein immerwährender, | |
spannender Anpassungsprozess, der uns aufgenötigt wird: zu erkennen, wo | |
diese Gesellschaft hingeht, und die Sehnsüchte und Wünsche der Menschen | |
wahr- und aufzunehmen. | |
Letztes Jahr war Lutherjahr. | |
Gefühlt die letzten zehn Jahre! | |
Wie gehen Sie mit dem Stifter Ihres Religionszweigs um? | |
Luther ist als Theologe ist eine hochambivalente Figur. Aus leidvoller | |
Erfahrung wissen wir, dass viele seiner vor allem antisemitischen Ausfälle | |
Teil deutscher Schuldgeschichte geworden sind. Vor allem seine Spätschrift | |
1543 „Von den Juden und ihren Lügen“ ist als Quelle der antisemitischen | |
Propaganda im 20. Jahrhundert missbraucht, nein, was sage ich: gebraucht | |
worden. Er hat zugleich eine unrühmliche Rolle in den Bauernkriegen seiner | |
Zeit gespielt, in denen er sich im Zweifelsfall immer auf die Seite der | |
Herrschenden und nicht der Unterdrückten gestellt hat. Das ist die eine | |
Seite. Auf der anderen ist er derjenige – so weit würde ich schon gehen –, | |
der die Menschen des ausgehenden Mittelalters durch die Betonung des | |
Begriffs der Freiheit in die Moderne geführt hat. | |
Sie sind da eine zerrissene Figur. | |
So wie Luther eine zerrissene Figur ist. Er hat seine ganz eigenen | |
Schattenseiten gehabt, die er dann „Anfeindungen“ genannt hat. Er hatte | |
aber auch eine Seite, die ihn dazu inspiriert hat, für viele Menschen | |
vorbildhaft zu sein im Glauben wie im Leben. Viele der bürgerlichen | |
Freiheitsbestrebungen sind nicht zu denken ohne die Ergebnisse der | |
Reformation. | |
Schattenseiten – ein gutes Stichwort. Glaube wird wichtig, wenn man mit | |
Unglück konfrontiert wird. Wie ist das hier? | |
Mehrmals in der Woche sind Leid und Tod ein großes Thema, die Trauer und | |
der Umgang damit. Es gehört zu den faszinierenden Erlebnissen im Pfarramt, | |
dass es Situationen im Leben gibt, die Menschen dazu bewegen, ihren Glauben | |
zu verlieren. Und ich begegne dem auch mit Respekt und Akzeptanz. Ich kann | |
das nachvollziehen, wenn jemand sagt: „Warum musste das passieren? Wie kann | |
Gott das wollen?“ Und zu den faszinierenden Erfahrungen gehört es ebenso, | |
dass die gleichen Situationen bei anderen Menschen dazu führen, zum Glauben | |
hinzufinden. Und ich kann bei keinem vorher sagen, ob das eine oder das | |
andere passiert. | |
Was ist das Verrückteste, was Ihnen im Job passiert ist? | |
Gar nicht so viel. Ich habe zum Beispiel noch keinen Exorzismuswunsch | |
erlebt. Dinge, die mich am meisten berühren, sind existenzielle Krisen, | |
außeralltägliche Erfahrungen und wie Menschen damit umgehen. | |
Gibt es viele Exorzismuswünsche in Berlin? | |
Davon lese ich mehr in der Zeitung, als dass sich so was in meinem direkten | |
Umfeld ereignet. Sollte dies dann mal der Fall sein, würde ich doch eher | |
dazu tendieren, jemand auf einen Psychotherapeuten zu verweisen. | |
Das geht nicht – da müssen Sie ran. Das ist dann auch eine Inszenierung, | |
und was für eine! | |
Ich glaube, diese Rollenerwartung würde ich enttäuschen. Wenn ich alle | |
Erwartungen, die an mich als Pfarrer gestellt werden, erfüllen würde … | |
Wie sehen Sie Ihre Zukunft? | |
Ich bin auf Lebenszeit berufen. Selbst wenn mein Dienst endet, also der | |
Pfarrdienst in einer Gemeinde, bleibe ich trotzdem Pfarrer. Deswegen gibt | |
es so viele Pfarrer im Ruhestand, die immer mal Lust haben, einen | |
Gottesdienst zu machen. Ein Glück! An dem einen freien Wochenende im Monat | |
vertritt mich ein Pfarrer im Ruhestand. Das kann ich mir für mich auch gut | |
vorstellen. Letzten Endes hat die Suche, die mich motiviert hat, Theologie | |
zu studieren, Pfarrer zu werden, mich immer wieder mit dem christlichen | |
Sinnhorizont auseinanderzusetzen, kein Ende. Wenn ich meine, ich hätte | |
gefunden, wonach ich gesucht habe, sollte dies Anlass für Skepsis sein. | |
Wird einem das nicht manchmal zu viel, diese ganzen sinnhaften Tätigkeiten: | |
Entsteht da nicht die Sehnsucht nach was total Unsinnigem? | |
Ein bisschen rumzublödeln und gute Laune zu haben – da habe ich nichts | |
dagegen. | |
Blödsinn macht Spaß. | |
Ja, super! Auch das ist, glaube ich, gottgewollt. Jesus war ein begnadeter | |
Feierer, Weintrinker und Fleischesser, das steht schon in der Bibel. Der | |
hat gerne Party gemacht, dieser Aspekt ist im evangelischen Raum gern | |
unterbelichtet. Er hat vor allem die Gemeinschaft geliebt: zusammen zu sein | |
mit seinen Kumpels und dann irgendwie zu sitzen und zu essen. Und zu | |
trinken. Und ich möchte wetten, auch zu tanzen. | |
Gehen Sie noch ins Kino? | |
Wenig: Ich habe drei kleine Kinder. Ich würde liebend gern öfter gehen. Ich | |
denke immer wieder an die Zeit zurück, als ich auf der Berlinale war. Jetzt | |
10 Tage lang 40 Filme gucken, geil! | |
8 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Kiontke | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Berlinale | |
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