| # taz.de -- Menschenrechtlerin in der Türkei: „Ich könnte keine Ruhe finden… | |
| > Die Anwältin Eren Keskin verteidigt seit Jahrzehnten Menschenrechte in | |
| > der Türkei. Gegen sie laufen 143 Verfahren. Trotzdem macht sie weiter. | |
| Bild: Eren Keskin entschied mit 13 Jahren, Anwältin zu werden | |
| 26. März 1995. Flankiert von zwei Gendarmen folgt eine junge Anwältin im | |
| Staatssicherheitsgericht Istanbul aufmerksam der Urteilsverkündung gegen | |
| sich. Der Richter verurteilt sie zu 30 Monaten Freiheitsstrafe, weil sie in | |
| einem Artikel für die Zeitung Özgür Gündem das Wort „Kurdistan“ verwend… | |
| hatte. | |
| Die Angeklagte in diesem Prozess war die Rechtsanwältin Eren Keskin. In den | |
| folgenden Jahren verteidigte sie Menschen, die staatlichen Repressionen | |
| ausgesetzt waren. In ihren Prozessen ging es immer um | |
| Menschenrechtsverletzungen: Vertreibung von Dorfbewohner*innen in den | |
| mehrheitlich kurdisch bevölkerten Regionen, das umstrittene | |
| Dorfschützersystem (Bewaffnung, Ausbildung und Bezahlung von | |
| paramilitärischen Milizen im Südosten der Türkei beim Kampf gegen die PKK, | |
| Anm.d.Red.), staatliche Morde. Dutzendfach wurde sie selbst angeklagt und | |
| immer wieder von regierungsnahen Medien zur Zielscheibe gemacht. Sogar ein | |
| Anschlag wurde auf sie verübt. | |
| Seit dem Urteil des Staatssicherheitsgerichts ist beinahe ein | |
| Vierteljahrhundert vergangen. Keskin ist inzwischen Co-Vorsitzende des | |
| türkischen Menschenrechtsvereins IHD. Aktuell laufen 143 Verfahren gegen | |
| sie. Zuletzt wurde sie im März wegen „Herabwürdigung staatlicher Organe“ | |
| und „Beleidigung des Staatspräsidenten“ zu 7,5 Jahren Haft verurteilt, weil | |
| sie aus Solidaritätsgründen als Herausgeberin der verbotenen Tageszeitung | |
| Özgür Gündem im Impressum stand. Geldstrafen von insgesamt 456.000 Lira | |
| wurden gegen sie verhängt, für 108.000 Lira sind die Urteile rechtskräftig. | |
| ## Stets mit einem Bein im Gefängnis | |
| Keskin sitzt in ihrem schlichten, großen Büro in Istanbul. Hier ist auch | |
| die „Rechtshilfestelle gegen sexuelle Belästigung und Vergewaltigung in | |
| Polizeigewahrsam“ ansässig, die sie nach der Hafterfahrung 1995 | |
| mitgründete. Sie raucht und erzählt: „Die Strafen zahle ich in 23 Raten ab. | |
| Zum Fenster hinausgeworfenes Geld.“ | |
| Auf dem großen Schreibtisch hinter ihr stapeln sich Papiere. Die Regale an | |
| den Wänden quellen über mit Büchern und Akten. In Keskins Arbeitszimmer | |
| erwarten die Besucher*innen nicht wie anderswo beliebt protzige | |
| Bürogarnituren, sondern bequeme, einladende Sessel. Keskin wirkt gelassen, | |
| gar nicht wie jemand, der stets mit einem Bein im Gefängnis steht. „Einmal | |
| habe ich mich mit einer Rate verspätet“, erzählt sie weiter, „da wurde ich | |
| sofort zur Fahndung ausgeschrieben.“ | |
| Keskin wurde 1959 als eines von zwei Kindern eines Bankinspektors und | |
| seiner Ehefrau im westtürkischen Bursa geboren. In der Familie war die | |
| Tagespolitik ständig Gesprächsthema. Ihr Vater ist Kurde aus Sivas, stammt | |
| allerdings aus einer, wie sie es nennt, „assimilierten“ Familie. Mit seiner | |
| Versetzung kam die Familie 1973 nach Istanbul. Bereits als Kind hatte | |
| Keskin einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie war dreizehn, als 1972 | |
| der Anführer der Studentenbewegung Deniz Gezmiş hingerichtet wurde. Da | |
| entschied sie sich dafür, Rechtsanwältin zu werden. | |
| ## „Dann redet die ganze Welt darüber“ | |
| Sie erinnert sich an den Moment, in dem ihr die Existenz der kurdischen | |
| Minderheit in der Türkei bewusst wurde, die der Staat leugnete und zu | |
| vernichten versuchte. Der Konflikt zwischen der kurdischen Bevölkerung und | |
| dem Staat in der Südosttürkei sei in den westlichen Regionen damals einfach | |
| kein Thema gewesen. Keskin hörte zum ersten Mal von einem Cousin davon. | |
| „Ich muss dreizehn gewesen sein. 'Wir sind Kurden’, sagte er. 'Vergiss das | |
| nie.’ Damals fragte ich mich, ob das eine gute oder eine schlechte Sache | |
| sei“, sagt sie. Sie begann sich für die Emanzipationsbestrebungen der | |
| Kurd*innen zu interessieren. „So habe ich mich gewissermaßen kurdisiert, | |
| die Familie zog später nach.“ | |
| In den darauf folgenden 40 Jahren kamen und gingen Regime; Keskin aber | |
| engagierte sich unermüdlich für die Verteidigung von Menschenrechten. | |
| Einfach war das nicht. „In der Türkei ist der Staat außerordentlich | |
| totalitär strukturiert. Die große Mehrheit geht damit konform“, sagt sie | |
| nüchtern. | |
| Trotz einer ganzen Reihe von Angeboten aus dem Ausland hat Keskin sich | |
| entschieden, in der Türkei zu bleiben. „In internationalen | |
| Menschenrechtskreisen bekannte Menschen wie ich sollten nicht ins Ausland | |
| gehen“, findet sie. Denn der Kampf für die Meinungsfreiheit sei derzeit im | |
| Land kaum ein Thema. „Muss ich aber ins Gefängnis, dann redet die ganze | |
| Welt darüber, so dass es auch für mich einen Sinn hätte. Selbstverständlich | |
| will ich nicht ins Gefängnis, aber ich könnte keine Ruhe finden, wenn ich | |
| ins Ausland gehe.“ | |
| ## „Niemand ist verpflichtet, all das durchzumachen“ | |
| Personen, die sich zur Ausreise entschieden, kritisiert sie nicht. | |
| „Selbstverständlich hat jeder das Recht zu gehen. Niemand ist verpflichtet, | |
| all das durchzumachen. Beide Seiten, die, die gehen, und die, die bleiben, | |
| setzen den Kampf ja fort. Auch in Europa engagieren sich die Leute weiter. | |
| Genau wie hier. Das hält uns auf den Beinen, auch das ist ein Fakt.“ | |
| Damit Keskin nicht ins Gefängnis muss, läuft eine Kampagne gegen die | |
| Attacken der türkischen Justiz gegen sie. Mehrere Einrichtungen in der | |
| Türkei und Deutschland, darunter der Menschenrechtsverein IHD, die | |
| türkische Menschenrechtsstiftung TIHV und das Türkisch-Deutsche Kulturforum | |
| versuchen, die verhängten hohen Geldstrafen gemeinsam zu schultern. | |
| Für alle Fälle aber hat Keskin bereits Vorkehrungen für ihre 85-jährige | |
| kranke Mutter und ihre drei Katzen getroffen. „Wenn ich ins Gefängnis | |
| komme, wird das eine enorme mentale Belastung für meine Mutter sein, das | |
| weiß ich. Außerdem habe ich drei Katzen. Wir haben besprochen, wer die | |
| Katzen nimmt. Meine Mutter und meine Katzen liegen mir besonders am Herzen. | |
| Jetzt ist für alle gesorgt.“ | |
| Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
| 6 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Barış Altıntaş | |
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