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# taz.de -- Kommentar Ende des Ausnahmezustands: Ein ganz normaler Ausnahmezust…
> Als die AKP an die Macht kam, war die sie stolz darauf, den
> Ausnahmezustand beendet zu haben. Heute ist sie die Partei, die den
> Ausnahmezustand normalisierte.
Bild: Eine Aufnahme von der Yüksel-Protestbewegung in Ankara, zu der auch der …
Der Ausnahmezustand ist zu Ende gegangen, im neuen System verändern sich
die Verhältnisse jedoch kaum. Warum zahlen Linke wie ich den Preis für den
Putschversuch, wenn es doch niemand sonst als die Regierenden selbst waren,
die jene als Putschisten bezichtigte Personen im Staat installierten? Hinzu
kommt dass die Zuständigen, die den Coup hätten voraussehen und verhindern
müssen, befördert und belohnt wurden.
Obwohl alle „Putschisten“ verhaftet und nur noch Regierungsanhänger auf der
Straße sind, wurde der Ausnahmezustand von der AKP weiter als Instrument
benutzt, um ihre Macht zu erweitern. Um das Bewusstsein in der Bevölkerung
zu vernebeln und für Schweigen im Land zu sorgen, wurden die Bajonette des
Militärs aus früheren Ausnahmezuständen durch die allgegenwärtige Gewalt
der Polizei ersetzt. Als der Ausnahmezustand verhängt wurde, hieß es, er
würde „nur kurz“ gelten, man würde die „Putschisten-Verräter“ bekäm…
ihn dann gleich wieder aufheben. Letztendlich wurde der Ausnahmezustand
sieben Mal um drei Monate verlängert. Am Ende hat er ganze zwei Jahre
gedauert.
## Vom Ausnahmezustand profitieren
Soldaten und Zivilisten, die etwas mit dem Putsch zu tun hatten, wurden
verhaftet, darüber hinaus wurden aber auch 130.000 Angestellte ohne jede
Ermittlung aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Es heißt zwar, diese
Maßnahmen würden sich gegen die Infiltrierung des Staates durch die
Gülen-Terrororganisation richten, doch unter den Entlassenen sind auch
5.500 Mitglieder der linken Gewerkschaft KESK. Der Ausnahmezustand schaffte
die Möglichkeit, Arbeitskämpfe per Gerichtsbeschluss verbieten zu lassen.
Erdoğan sagte den Unternehmern: „Wir nutzen den Ausnahmezustand, um
unverzüglich sämtliche Streiks zu unterbinden.“ Damit machte er deutlich,
dass der Sonderstatus de facto nichts mit dem Putschversuch zu tun hatte.
Den Gerichten, auch dem Verfassungsgericht, wurden ihre Kompetenzen
entzogen. Sie funktionieren nicht mehr. Es gibt keine einzige Instanz mehr,
vor der die 130.000 Entlassenen, zu denen auch ich gehöre, ihr Recht
einfordern könnten. Und die EU, die mit der AKP um Geflüchtete schachert,
benutzt den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof als eine Art
Handelsgericht.Die Anträge wegen der Entlassungen in der Türkei wurden dort
abgelehnt, die Antragsteller an eine „Ausnahmezustandskommission“
verwiesen, die keinerlei rechtliche Grundlage hat und keine Urteile fällen
kann. Der Ausnahmezustand wurde benutzt, um etliche Menschen in Not und
Unrecht zu stürzen.
Am 15. Juli 2016 konnte die Demokratie zwar einen „Sieg“ feiern, als der
Putsch verhindert wurde – aber im Anschluss wurden Rechte und Freiheiten
abgeschafft, die im Laufe von hundert Jahren mühsam errungen worden waren.
Unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes wurde schließlich zwei Mal
gewählt. Am Ende war das Ein-Mann-System abgesegnet. Und die Tatsache, dass
das Kapital nicht in Länder investiert, die sich im Ausnahmezustand
befinden, zwang die AKP nach zwei Jahren dann doch dazu, ihre Taktik zu
ändern.
## Ist der Ausnahmezustand beendet?
Der Ausnahmezustand wurde kein achtes Mal verlängert, aber die repressiven
Maßnahmen dauern an. Unter dem Ausnahmezustand konnte ich nicht dagegen
klagen, dass ich entlassen wurde. Auch künftig werde ich diese Möglichkeit
nicht haben.
Als die AKP an die Macht kam, brüstete sie sich damit, den Ausnahmezustand
aufgehoben zu haben, zum Beispiel 2002 in Diyarbakir. Jetzt ist sie die
Partei, die den Ausnahmezustand zum Normalzustand gemacht hat.
Wirtschaftlicher Druck und Unrecht werden aber naturgemäß zu
gesellschaftlichen Spannungen führen. Derzeit wird der kleinste Protest mit
Tränengas und Polizeiknüppel unterdrückt, dennoch wird es Widerstand in der
Gesellschaft geben – auch wenn diese Gesellschaft gegenwärtig zum Schweigen
gebracht zu sein scheint.
Napoleon Bonapartes Außenminister Talleyrand sagte einmal: „Mit Bajonetten
kann man alles erreichen, aber man darf sich nicht darauf setzen.“ Wenn
Mächtige es mit der Gewalt übertreiben, werden ihre bequemen Posten
irgendwann zu Bajonetten. So viel Leid, wie der Ausnahmezustand und seine
normal gewordenen Maßnahmen der Gesellschaft zufügen, so viel Furcht, Leid
und Paranoia werden sie letztendlich auch der AKP bringen.
20 Jul 2018
## AUTOREN
Veli Saçılık
## TAGS
taz.gazete
Recep Tayyip Erdoğan
Schwerpunkt Türkei
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