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# taz.de -- Sportler Freimuth nimmt sich Auszeit: Wenn das Ich auf der Schulter…
> Der Silbermedaillengewinner der letzten WM braucht eine Pause. Warum der
> Zehnkämpfer Rico Freimuth mit einer kreativen Sinnkrise kämpft.
Bild: Nimmt sich bis Herbst eine Auszeit vom Kugelstoßen: Rico Freimuth
Still! Wir wollen in eine Seele schauen. Das ist der Beginn einer Erzählung
Thomas Manns, „Ein Glück“ aus dem Jahr 1904. Oder ist das ein
unangemessenes literarisches Pathos, wenn man sich fragt, was da in dem
Menschen Rico Freimuth wirklich vor sich gegangen ist, als der Zehnkämpfer
beim nun sechs Wochen zurückliegenden Mehrkampfmeeting im österreichischen
Götzis ohne Verletzung und in aussichtsreicher Position auch für die
Qualifikation für die Europameisterschaft in Berlin (7. bis 12. August)
nach der siebten Disziplin unvermutet verkündete: „Schluss, ich höre auf.“
Sollte das alles viel simpler sein, als manche der Auguren vor Ort
mutmaßten, die eine tiefe Krise, gar das Ende der Karriere am Horizont
aufscheinen sahen? „Ich hatte keinen Spaß“, sagt der
Silbermedaillengewinner der letzten Weltmeisterschaft 2017 in London, und
dann spricht er von seinem mental set und davon, dass er seit 2011 bei
allen großen Leichtathletik-Meisterschaften dabei gewesen sei, „immer
extrem aggressiv meiner Psyche und meinem Körper gegenüber“.
Eine jahrelange Akkumulation auch von Stressfaktoren, die in dem heute
30-Jährigen einfach ihre Spuren hinterlassen haben. „Mental müde“, so
lautete seine erste Erklärung in Götzis. Die Entscheidung, aufzuhören, sei
auch nicht so spontan gewesen, wie es vielleicht den Anschein hatte, schon
am ersten Tag in Götzis habe er da „eine innere Stimme“ vernommen, und nach
dem Diskuswerfen „saß da plötzlich mein Ich auf der Schulter und hat mir
gesagt: Mach Schluss.“
Er macht einen reflektierten Eindruck, und doch kann man sich der Ahnung
nicht erwehren, dass das an den Tag gelegte Selbstbewusstsein vielleicht
auch eine Maske sein könnte, hinter der sich eine überspielte Unsicherheit
verbirgt. Zwei Mal sagt er: „Ich bin ein sehr intelligenter Athlet.“ Er ist
redefreudig und zugleich verschlossen. Wo er nach Götzis Urlaub gemacht
hat, will er nicht verraten.
Erleichterter Geist
Er macht sich zum Subjekt seiner Beobachtung, wenn er sagt: „Ich fand
selber interessant, wie Körper und Geist in Götzis reagiert haben.“ Und wie
haben sie reagiert? „Mit Erleichterung“, sagt er. Er brauche einfach eine
Pause. Die Sommersaison ist für ihn gelaufen. Das Ich sitzt nicht mehr auf
der Schulter, sondern hat sich in seinen Träger zurückverwandelt, der mit
sich selbst im Reinen zu sein vorgibt. Den Entschluss von Götzis habe er
nicht bedauert, „keine Sekunde lang“, es sei keine Kurzschlussreaktion
gewesen, kein Blackout.
„Ich hatte immer einen extrem hohen Anspruch an mich selbst“, sagt er, „i…
wollte der Beste sein.“ Wann er seinen nächsten Zehnkampf bestreiten wird
und ob dann dieses Ich vielleicht doch wieder seine Stimme erheben wird,
weiß er heute noch nicht. „Ich wollte immer selbstbestimmt sein“, sagt er,
und dazu gehöre der Mut zu großen Zielen.
Die sind ihm geblieben, trotz der Zäsur von Götzis. „Ich habe noch keine
olympische Medaille gewonnen, das war immer mein Traum“, sagt er. „Und
dabei bleibt es.“ Aufgeben und Aufhören sind nicht identisch, Rico Freimuth
schaut nach vorne, und doch hat man den Eindruck, dass es auch ein Blick in
das Gesicht der Sphinx ist, von der man nicht weiß, ob sie ihr Geheimnis
verrät. Aber er ist ja auch kein Prophet, sondern Athlet. Ob er sich mit
der Aufgabe von Götzis einen mentalen Rucksack auf die Schulter gepackt
hat, wird erst die Zukunft weisen müssen.
Er habe in seinem Umfeld nur Verständnis für seine verblüffende
Entscheidung erfahren, sagt er, die ja auch ganz handfeste und profane
Konsequenzen nach sich hätte ziehen können. „Alle meine Sponsoren stehen zu
mir“, sagt er und man spürt die Erleichterung des Sportsoldaten, der für
den SV Halle an den Start geht und dort als Heimtrainer von Wolfgang Kühne
betreut wird, der gleichzeitig auch noch Bundestrainer der Zehnkämpfer ist.
Ruhe bis Herbst
Dieser plant weiterhin mit seinem Schützling Rico Freimuth, ohne ihn zu
sehr unter Druck zu setzen. „Wir sind so verblieben“, sagt er, „dass ich
ihm bis zum Herbst Ruhe gebe und wir uns dann zusammensetzen und überlegen,
wie es weitergeht.“
Bis dahin will er sich einer alten Passion hingeben. Er hat ein Angebot vom
Fußball-Verbandsligisten FC Romonta Amsdorf. „Ich bin begeisterter
Fußballer und möchte einen Sport betreiben, an dem ich Spaß habe“, sagte er
der Mitteldeutschen Zeitung und fügte an: „Ich bin schneller als Mbappé und
will Torschützenkönig werden.“ In der nächsten Saison will er für den
Sechstligisten auflaufen. Seine Ziele als Zehnkämpfer will er darüber aber
nicht aus den Augen verlieren.
Zehnkämpfer gelten als große Familie und doch als Individualisten. Die
Gemeinsamkeit einer über zwei Tage verteilten körperlichen Anstrengung bis
an die Grenzen der Leistungsfähigkeit und manchmal darüber hinaus schafft
ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Und doch ist eine Entscheidung wie die
von Rico Freimuth in Götzis ein Akt der Einsamkeit.
Die Geschichte von Thomas Mann endet nach wenigen Seiten, ob die Karriere
von Rico Freimuth noch eine Fortsetzung finden wird, ob sie ein Happy End
hat und, wie es bei Mann heißt, in diesen „Schauer von Rausch und Glück“,
einmündet, wird die Zukunft zeigen müssen.
21 Jul 2018
## AUTOREN
Paul Frommeyer
## TAGS
Olympischer Sport
Leichtathletik-EM
Sexuelle Übergriffe
Tour de France
Schwerpunkt Rassismus
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