# taz.de -- Fußball in St. Petersburg: Die WM braucht diese Stadt | |
> Die Metropole an der Newa steht für Heldenmythen, aber auch für eine | |
> ausufernde Korruption. Ein Blick ins neu gebaute Stadion genügt. | |
Bild: Auf dem Höhepunkt der „Weißen Nächte“: Feier in St. Petersburg | |
ST. PETERSBURG taz | Leningrad – Heldenstadt. Wer nach St. Petersburg | |
reist, dem wird an den Bahnhöfen, auf dem Weg vom Flughafen ins Zentrum in | |
großen Lettern unmissverständlich klargemacht, dass Großes geschehen ist in | |
dieser Stadt. Der Einzug der russischen Auswahl ins Achtelfinale, der durch | |
ein 3:1 gegen Ägypten im neuen Stadion der Stadt vollbracht worden ist, | |
auch er wird gewiss eingehen in die heldenhafte Geschichte dieser Stadt. | |
Die wahrhaft große Heldengeschichte der Stadt, die bis 1992 Leningrad hieß, | |
ist so unglaublich, dass es den Besuchern schier die Sprache verschlägt, | |
wenn sie das Museum der Verteidigung und der Blockade Leningrads besuchen. | |
871 Tage hat die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg die Stadt | |
belagert, sie buchstäblich ausgehungert und so eine der größten | |
Kriegsverbrechen der Geschichte begangen. Eine Million Menschen sind in | |
Leningrad verhungert. Bis heute wird kein Leningrader ein noch so kleines | |
Stückchen Brot wegwerfen, bis heute bestimmt die Erinnerung an die | |
Blockadetage das Bewusstsein der Stadt. | |
Legenden werden daraus gestrickt. Eine sagt, dass sich das Erbgut der | |
Leningrader durch die Hungerjahre verändert habe. Petersburger seien | |
besonders klug und widerstandsfähiger als andere Russen. | |
Wladimir Wladimirowitsch Putin ist Petersburger. Das lässt niemand | |
unerwähnt, der diese Legende verbreitet, ganz gleich, was er von der | |
Geschichte hält. Wladimir Putin regiert von Moskau aus sein Land, doch | |
seine Stadt hat er nie vergessen. | |
## Irrwitzige 472 Meter hoch | |
Über den halbstaatlichen Energiekonzern Gazprom, der in St. Petersburg | |
seinen Firmensitz hat, nimmt er Einfluss auf die Politik etlicher | |
Nachbarstaaten. Wie ein drohender Finger ragt das Lakhta Center, in das die | |
Konzernführung bald einziehen wird, im Norden der Stadt an der Ostsesküste | |
in den Himmel. | |
Irrwitzige 472 Meter ist der Turm hoch, von dem keiner so genau weiß, was | |
er kostet. Vom WM-Stadion, das nicht weit weg vom neuen Wahrzeichen der | |
Stadt liegt, weiß man das auch nicht. Von umgerechnet 800 Millionen Euro | |
ist die Rede. Die Arena ist längst zum Sinnbild für Korruption in der Stadt | |
geworden. | |
Doch auch wenn jeder weiß, dass etliche halbseidene Geschäftsleute, die zu | |
der Petersburg-Connection des Staatspräsidenten gehören, sich bereichert | |
haben an dem Projekt, so ist es doch für die Fußballfans der Stadt zu einem | |
regelrechten Magneten geworden. | |
Fast 44.000 Zuschauer sind in der abgelaufenen Saison zu den Spielen von | |
Zenit St. Petersburg gekommen, obwohl der Klub eine verhältnismäßig miese | |
Spielzeit hingelegt hat und am Ende nur Fünfter war. Ins alte Stadion auf | |
der Petrowski-Insel unweit der prachtvollen Mitte der ehemaligen Hauptstadt | |
waren im Schnitt nur 18.000 Besucher gekommen. | |
Die Fußballleidenschaft der Petersburger ist durch das neue Stadion noch | |
einmal kräftig befeuert worden. Wer in die Arena kommt, wird sich wundern, | |
dass die Zwischendecken im teuersten Stadion der Welt alles andere als eben | |
sind, dass die wuchtigen Stahlträger des Dachs schon ein Jahr nach der | |
Eröffnung unübersehbare Rostspuren tragen und dass die Parkplätze vor dem | |
Stadion nach einem Wolkenbruch wie Schwimmbecken aussehen, weil man | |
offensichtlich vergessen hat, Gullis zu installieren. Und so ist sicher, | |
dass dieser Tempel der Vetternwirtschaft in Russland weiter von sich reden | |
machen wird. | |
## Diebstahl von Steuergeldern | |
Vor allem junge Menschen sind es, die sich nicht damit abfinden wollen, | |
dass über Korruption in Russland so gesprochen wird, als sei es eine | |
Staatsform, die in der Verfassung festgeschrieben sei und gegen die man | |
sowieso nichts machen könne. | |
Tausende haben in den vergangenen beiden Jahren in der Stadt gegen den | |
organisierten Diebstahl von Steuergeldern demonstriert, nachdem der Blogger | |
und Antikorruptionsaktivist Alexej Nawalny dazu aufgerufen hatte. Hunderte | |
Protestierende wurden festgenommen, darunter jede Menge Jugendliche. | |
Die Verabredung mit einem 16-jährigen Schüler, der sich schon etlichen Male | |
nach Demonstrationen in Polizeigewahrsam wiederfand, platzt. Der junge Mann | |
ruft aus einem Polizeiwagen an. Man habe ihn gerade wieder festgenommen, | |
sagt er, es könne später werden. Am Ende platzt der Termin ganz. Einen | |
Fußballfrieden scheint es nicht zu geben in Russland. Ungeniert tut die | |
Staatsmacht, was sie immer tut. | |
Die Fans aus Brasilien, die den Newski-Prospekt, die schicke Einkaufs-, | |
Party- und Flaniermeile der Stadt, vor dem Spiel gegen Costa Rica fluten, | |
werden sich darüber keine Gedanken machen. Sie promenieren die ganze weiße | |
Nacht auf den breiten Trottoirs und freuen sich, dass es nicht wirklich | |
dunkel wird. | |
Weil auch die Petersburger ihre hellen Mittsommernächte im Freien verleben | |
wollen, ist es in diesen Tagen noch voller in der Stadt als üblich. Die | |
Innenstadt scheint aus allen Nähten zu platzen. | |
## Sich selbst genug | |
Eines ist schnell offensichtlich. Die Stadt braucht die Weltmeisterschaft | |
nicht. Sie ist sich selbst genug in ihrem Stolz auf die schmucken Bauten, | |
die goldenen Kuppeln der Kirchen und Klöster, die wohlgestalteten Gärten | |
und Paläste aus der Zarenzeit. | |
Eher ist es umgekehrt. Die Weltmeisterschaft braucht eine Stadt wie St. | |
Petersburg – für Bilder mit Fans vor historischer Kulisse. Das gelbe Trikot | |
der Brasilianer macht sich ganz gut vor dem hellen Grün des Winterpalastes. | |
Vor dem riesigen Nobelkaufhaus Gostiny Dwor auf dem Newski-Prospekt schreit | |
ein mäßig begabter Entertainer unter einem Baldachin in Fifa-Farben. Er | |
möchte Passanten zur Teilnahme an einem albernen Fußballquiz animieren. | |
Die einheimischen Passanten ziehen nicht so recht mit. Die Gäste aus | |
Brasilien, die sich um den Stand mit dem aufdringlichen Moderator drängen, | |
würden wohl schon wollen. Sie müssen ja auch noch einen ganzen Tag hinter | |
sich bringen, bis ihr Team wieder spielt. Weil sie kein Russisch können, | |
bleibt ihnen die Heldenrolle als Quizkönig versagt. Ihre Helden haben am | |
vergangenen Freitag gegen Costa Rica gewonnen. Mit 2:0 – in der | |
Nachspielzeit. | |
26 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
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