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# taz.de -- Wahlen in der Türkei: Die Stimmen, die entscheiden werden
> Die Türkei steht vor den wichtigsten Wahlen ihrer jüngeren Geschichte.
> Entschieden werden sie auch im Südosten des Landes – wo vor allem Kurden
> leben.
Bild: Eine Anhängerin von Selahattin Demirtaş, Präsidentschaftskandidat der …
Vor jeder Wahl in der Türkei gibt es Geschenke – so auch dieses Mal.
Mitarbeiter des Landkreises bringen Säcke mit Kohle in die Altstadt Sur im
südosttürkischen Diyarbakır. In den schmalen Gassen, über denen schwer die
Sommerhitze liegt, greifen Frauen nach ihnen und tragen sie auf ihren
Schultern in ihre Häuser. Ein Bild, das sich in der AKP-Ära seit 2002 immer
wieder wiederholt und das die bevorstehenden Wahlen ankündigt.
Am 24. Juni werden in der Türkei der Präsident und das Parlament gewählt.
Es sind die wohl wichtigsten Wahlen in der jüngeren Geschichte der
türkischen Republik. Nachdem Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan mit
seinem Sieg beim Referendum im April 2017 den Weg zum Präsidialsystem
geebnet hat, könnte er am nächsten Sonntag seine im Ausnahmezustand ohnehin
schon weitreichenden Machtbefugnisse zementieren und weiter ausbauen.
Die vorgezogenen Neuwahlen sollen den Systemwechsel von der
parlamentarischen Demokratie zum Präsidialsystem besiegeln. Wenn Erdoğan
eine absolute Mehrheit bekommt, wäre er nicht nur Staats-, sondern auch
Regierungschef und könnte dann per Dekret regieren. Entscheiden wird sich
das im Südosten und Osten des Landes, wo mehrheitlich KurdInnen leben.
Das liegt am türkischen Wahlsystem: Der einfachste Weg für die AKP, im
Parlament wieder die absolute Mehrheit zu holen, ist nämlich, die
kurdisch-linke HDP unter der Zehnprozenthürde zu halten. Denn wenn die HDP
an der Zehnprozenthürde scheitert, werden ihre Mandate auf die anderen
Parteien umverteilt. Das würde der AKP die absolute Mehrheit sichern. Die
kurdischen WählerInnenstimmen werden auch erheblichen Einfluss auf die
Präsidentschaftswahl haben. Laut aktuellen Umfragen hat Selahattin
Demirtaş, der aus dem Gefängnis heraus für die HDP kandidiert, keine
Chance, in die Stichwahl zu kommen, sollte Erdoğan die absolute Mehrheit
nicht auf Anhieb erreichen. Aber die Stimmen derer, die in der ersten Runde
Demirtaş gewählt haben, könnten in der zweiten Runde den Ausschlag geben.
## Kalaschnikows auf den Straßen
Diyarbakır ist die inoffizielle Hauptstadt der KurdInnen – wer wissen will,
wie sie abstimmen, muss sich hier umhören. Der beinahe zwei Jahre
andauernde Ausnahmezustand und die Gefechte zwischen Militär und kurdischen
Rebellen haben in der historischen Altstadt Sur ihre Spuren hinterlassen.
Zahlreiche Häuser sind zerstört, überall kontrolliert die Polizei. Die
Menschen sind daran gewöhnt, Kalaschnikows auf den Straßen zu sehen. Manche
sagen, dass sie nicht mehr ins Bürgeramt gehen, seit die türkische
Regierung einen neuen Oberbürgermeister eingesetzt hat. Denn jeder Amtsgang
bedeutet, am Eingang von bewaffneten Polizisten abgetastet zu werden.
Fuat Kardaş, ein Händler, der an seinem Obststand Wassermelonen und
Kirschen verkauft, wird die HDP wählen, die Demokratische Partei der
Völker. Aus Sicherheitsgründen soll sein echter Name nicht in der Zeitung
stehen – Menschen, die sich öffentlich kritisch äußern, sind vor allem kurz
vor den Wahlen sehr gefährdet. Auch die anderen Namen im Text sind deshalb
geändert; sie sind der taz aber bekannt. „Hier wird mit toten Soldaten
Politik gemacht“, sagt Kardaş. „Die Regierung droht damit, dass wieder
Gefechte ausbrechen. Sie ist korrupt und nimmt uns unsere Häuser weg.“
Das Haus des Obsthändlers wurde Ende 2015 zerstört, als in Diyarbakır und
anderen kurdischen Städten das türkische Militär und kurdische Rebellen
monatelang gegeneinander kämpften. Die Altstadt von Diyarbakır war mehr als
ein Jahr von Ausgangssperren betroffen, ganze Straßen wurden zerstört. In
acht Stadtvierteln von Sur dauern die Ausgangssperren weiterhin an. Die
Regierung hat Kardaş für sein zerstörtes Haus 70.000 Türkische Lira
angeboten, etwa 13.000 Euro. Eine Summe, die so niedrig ist, dass er das
Angebot ausgeschlagen hat.
In Diyarbakır konkurrieren die AKP und die HDP um die Stimmen der
KurdInnen. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 wurde die HDP hier mit 79
Prozent die stärkste Partei vor der AKP, die nur 14 Prozent der Stimmen
erhielt. Die anderen Parteien spielten in der zweitgrößten Stadt im
mehrheitlich kurdischen Südosten der Türkei keine nennenswerte Rolle.
## Folgen der Zwangsverwaltung
Im Vergleich zu den Vorjahren läuft der Wahlkampf in Diyarbakır eher
verhalten an. Grund dafür ist der Ausnahmezustand, der nach dem
Putschversuch im Juli 2016 landesweit verhängt wurde. Unzählige gewählte
HDP-Abgeordnete wurden seitdem wegen Terrorvorwürfen verhaftet, darunter
die beiden damaligen Kovorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen
Yüksekdağ. Einen Monat, nachdem der Ausnahmezustand 2016 ausgerufen wurde,
erließ die Regierung ein Notstandsdekret, das es ermöglichte,
BürgermeisterInnen ihres Amts zu entheben und Kommunen unter
Zwangsverwaltung zu stellen.
Ein Dekret, das vor allem die kurdischen Gebiete traf. Diyarbakır steht
seit fast zwei Jahren unter Zwangsverwaltung, die beiden
OberbürgermeisterInnen sitzen im Gefängnis. Die Aggressivität, mit der die
türkische Regierung ihre Macht demonstriert, ist für den Obsthändler Fuat
Kardaş ein Zeichen der Schwäche. „Die, die uns regieren, leben in Angst“,
sagt er. Unweit von Fuat Kardaş’ Obststand hat die HDP einen Stand
aufgebaut; ihre Wahlkämpfer verteilen Flyer. Die Polizei greift ein,
beschlagnahmt die Broschüren. Ihre Begründung: Die Flyer seien auf
Kurdisch, und man müsse sie deshalb kontrollieren, bevor sie verteilt
werden dürfen.
Es ist Zeit für das Freitagsgebet. Die Ulu-Moschee wird von der AKP als
Wahlkampfarena genutzt. Der von der Regierung eingesetzte Oberbürgermeister
Cumali Atilla kommt gerade vom Gebet, die Bodyguards schirmen ihn von den
anderen BesucherInnen ab. Am Ausgang werden Flyer für die kommende
Wahlkampfveranstaltung von Staatspräsident Erdoğan verteilt.
Der 63-jährige Musa Güzel, der in einem Teehaus arbeitet, steht am Ausgang
der Moschee und hört das kurdische Programm des staatlichen türkischen
Senders TRT. Das Radio hat er an seinem Fahrrad befestigt. Er sieht auf den
Flyer, den er gerade in die Hand gedrückt bekommen hat. Er werde auf jeden
Fall zu der Wahlkampfveranstaltung gehen, sagt er. Er ist der Meinung, dass
das Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen in der Stadt der AKP zu
verdanken sei, er lobt die Sicherheitspolitik der Regierung. „Wenn es die
AKP nicht gäbe, wäre unser Land auseinandergebrochen“, sagt er. Mehmet
Deniz, der direkt neben ihm steht und auch in einem Teehaus arbeitet,
widerspricht: „Das Herz der Altstadt ist sowieso schon
auseinandergebrochen. Wovon redest du?“ Beide fangen an, laut zu streiten.
## Wahlen unter neuen Voraussetzungen
Konservative KurdInnen wählen oft die AKP. Ein Grund dafür ist die
Überzeugung, dass der muslimische Glaube und seine Werte sunnitische
KurdInnen und TürkInnen verbinde. Erdoğan war das erste Staatsoberhaupt,
das öffentlich von einem „Kurdenproblem“ sprach. Die Regierungschefs vor
ihm hatten stets die Existenz einer kurdischen Minderheit geleugnet.
Außerdem verabschiedete die Partei Reformen zu Minderheitenrechten.
Mittlerweile wird Kurdisch als Wahlfach an staatlichen Schulen und
Universitäten gelehrt. Regulärer Unterricht auf Kurdisch bleibt jedoch
verboten.
Der Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der PKK, der von
2013 bis Sommer 2015 anhielt, bescherte beiden Parteien einen
Stimmenzuwachs. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 brach die HDP einen
Rekord, als sie mit landesweit 80 Abgeordneten als erste prokurdische
Partei direkt ins Parlament einzog. Die AKP wiederum gewann als Partei, die
den Friedensprozess in Gang gebracht hatte, in den kurdischen Gebieten
Vertrauen und neue konservative WählerInnen.
Die kurdischen WählerInnen ziehen jedoch unterschiedliche Konsequenzen aus
dem Scheitern des Friedensprozesses. Es gibt in Diyarbakır Menschen, die
2015 der HDP ihre Stimme gegeben haben und die dieses Mal die AKP wählen.
Weil sie denken, dass die HDP die Kämpfe zwischen der PKK und dem Militär
nicht verhindern konnte. Oder weil sie sich durch die Polizeikontrollen
wieder sicher fühlen. Andere haben genug von der Zwangsverwaltung und den
Enteignungen unter der AKP und wählen deshalb HDP.
Der in Diyarbakır lebende Soziologe Cuma Çiçek geht allerdings davon aus,
dass es auch bei den konservativen Kurden, die zuvor die AKP gewählt haben,
zu einer Verschiebung kommen werde, und dass viele unzufriedene Wähler zur
islamistischen Saadet-Partei abwandern werden. Im Wahlkampf tritt die
islamistische Partei für muttersprachlichen Kurdischunterricht ein und
wirbt für eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts.
## Neue Pflichten für Beamte
Das Teehaus neben der Ulu-Moschee ist bis auf den letzten Platz gefüllt.
Einer der Kellner hat 23 Jahre lang in leitender Position bei der Stadt
gearbeitet, mit der Zwangsverwaltung wurde er entlassen. Er sagt, er habe
keine Aussicht auf eine andere Stelle. Deshalb will er die HDP wählen, die
„Partei der Unterdrückten“.
Ein Beamter, der seit 35 Jahren beim Provinzamt für Jugend und Sport
arbeitet, setzt sich neben ihn. Als das Gespräch auf den Auftritt von
Erdoğan kommt, reagiert er verhalten. Seinen Namen will er nicht nennen.
„Wir Beamten sind verpflichtet teilzunehmen“, sagt er, und: „Ich kann nic…
einfach darüber sprechen, Sie müssen mich verstehen.“
Nachdem die Kommunen unter Zwangsverwaltung gestellt wurden, wurden die
Beamten dazu verpflichtet, an allen AKP-Veranstaltungen teilzunehmen. Das
ging so weit, dass der Staatspräsident die Beamten im März höchstpersönlich
dazu verpflichtete, zum Provinzkongress in Diyarbakır zu kommen. Ihre
Anwesenheit sollten sie mit Handyvideos beweisen, die sie an ihre
Vorgesetzten schickten.
Beobachter glauben, dass Erdoğan nicht einfach abwarten wird, wie das
Volk bei der Wahl abstimmt. Vielmehr fürchten sie Wahlmanipulationen. Beim
Referendum im April 2017, das den Weg zum Präsidialsystem ebnete, gab es
zahlreiche Unregelmäßigkeiten. Internationalen WahlbeobachterInnen zufolge
besteht der Verdacht, dass bis zu 2,5 Millionen Stimmen manipuliert wurden.
In einem Bericht der zivilgesellschaftlichen Wahlbeobachtungsorganisation
Hayır ve Ötesi heißt es, in den Ost- und Südostprovinzen hätten sich
Sicherheitskräfte „offenkundig in die Stimmabgabe der Bürger eingemischt“.
## Weiter Weg bis zur Urne
Ein kürzlich verabschiedetes Wahlgesetz erlaubt es der Hohen
Wahlkommission, „aus Sicherheitsgründen“ in 19 Provinzen im Südosten
Wahllokale zusammenzulegen. Der Beschluss betrifft 144.000 WählerInnen und
vor allem Hochburgen der HDP.
In Diyarbakır müssen die WählerInnen in 8 von 17 Bezirken weite Wege auf
sich nehmen, um ihre Stimme abzugeben. Einer dieser Bezirke ist Kocaköy, wo
die HDP bei den Wahlen im Juni 2015 95 Prozent der Stimmen bekam. Die
WählerInnen wurden bisher nicht informiert. Schon beim Referendum 2017
erfuhren einige erst am Wahltag, dass ihr Wahllokal in ein anderes Dorf
verlegt worden war.
Die Menschen müssen nun bis zu 20 Kilometer auf der Landstraße zurücklegen,
um ihre Stimme abgeben zu können. Zwischen den Dörfern gibt es Checkpoints,
bei denen sich am Wahltag Warteschlangen bilden können. Die Infrastruktur
ist schlecht, wer kein Auto hat, muss zu Fuß gehen.
„Das wird schwierig für uns“, sagt die 73-jährige Hanım Kılıç aus Koc…
als sie von der Reporterin erfährt, dass ihr Wahllokal in ein Nachbardorf
verlegt wird. Dennoch ist sie entschlossen, der HDP ihre Stimme zu geben.
„Ich werde mich morgens mit meinem Mann auf den Weg machen und die vier
Kilometer zu Fuß gehen.“
Ein paar Meter weiter sitzt der 75-jährige Mehmet Üçakan mit einer Gruppe
von Männern vor der Moschee und unterhält sich über die Wahlen. Auch er
hört zum ersten Mal, dass sein Wahllokal verlegt wird. „Sie wollen unsere
Stimmen klauen. Und wenn mein Wahllokal nach Amerika verlegt wird – ich
gehe wählen“, sagt er. Auch er wird seine Stimme der HDP geben. „Egal wer
gewinnt, Hauptsache Erdoğan stürzt.“
Aus dem Türkischen von Elisabeth Kimmerle und Volkan Ağar
15 Jun 2018
## AUTOREN
Figen Güneş
Elisabeth Kimmerle
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