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# taz.de -- Erste Hilfe in Frankreich: Grenzenloser Zynismus
> Eine 22-Jährige stirbt an einem Herzinfarkt, nachdem sie beim Notdienst
> barsch abgewiesen worden war. In drei Städten finden Gedenkmärsche statt.
Bild: Notärzte kamen nicht zu der kranken Naomi Musenga
Paris taz | Mehr als tausend Menschen sind am Mittwochabend schweigend und
in stiller Wut durch das Zentrum von Straßburg marschiert. „Wahrheit und
Gerechtigkeit für Naomi“ stand auf dem Transparent an der Spitze des
würdevollen Umzugs. Auch in Paris und Valence fanden zur selben Zeit
Gedenkmärsche für Naomi Musenga statt.
Der Tod dieser 22-jährigen Mutter einer 18 Monate alten Tochter hat
Frankreich aufgerüttelt. Anlass der Empörung ist die schockierende Antwort,
mit der dieser jungen Frau bei der Notrufnummer 15 die dringend benötigte
Hilfe verweigert wurde. Ihre aus dem Kongo stammende Familie klagt vor
Gericht gegen die zuständigen Gesundheitsdienste in Straßburg wegen
unterlassener Hilfeleistung.
Die Eltern nahmen am Schweigemarsch in Straßburg teil, in einer kurzen
Ansprache mahnten sie die Anwesenden, im Gedenken an Naomi Ruhe zu
bewahren. „Weil Naomi nicht mehr sprechen kann, haben wir das Wort
ergriffen“, sagte die Mutter, die hofft, dass dank dieser Proteste etwas
bewirkt wird, damit nie wieder jemand wie Naomi wegen verweigerter Hilfe
sterben muss.
Womöglich wären die skandalösen Umstände von Naomis Tod nie publik
geworden, wenn ihre Eltern nicht mit einem Anwalt verlangt hätten, alle
Unterlagen einsehen zu können. Der makabere Ausgangspunkt war, dass das
Krankenhaus in Straßburg allem Anschein nach etwas zu vertuschen hatte.
## Leiche nicht gekühlt
Obschon es in einem solchen Fall normal wäre, mit einer Autopsie die exakte
Todesursache einer so jungen Frau abzuklären, blieb ihre Leiche fast eine
Woche ohne Kühlung. Als ihr Vater sie schließlich vor einer Autopsie sehen
durfte, befand sich der Körper nach seinen Angaben in einem Zustand der
fortgeschrittenen Verwesung. „Nicht einmal ein auf der Autobahn
überfahrenes Tier wird so behandelt“, sagte er während einer
Pressekonferenz mit seiner Frau und Naomis Schwester. Erst Monate später
erhielt die Familie dann Kenntnis der Aufnahme des Gesprächs zwischen Naomi
und einer Telefonistin der Notrufnummer 15.
Wer diese Notrufnummer in Frankreich wählt, benötigt Hilfe und in vielen
Fällen einen Krankenwagen. Das weiß jedes Kind. Als in Straßburg Naomi
Musenga anrief, bekam sie statt Hilfe eine abweisende, ja sogar höhnische
Antwort. Wenig später starb sie an den Folgen von zwei Herzinfarkten. Das
geschah am 29. Dezember 2017.
Erst heute weiß man, dass ihr Tod nicht einer Unachtsamkeit oder einer
Fehlinterpretation geschuldet war. Ihr Fall schockiert ganz Frankreich, er
wirft über den individuellen Skandal hinaus auch Fragen zur Organisation
der medizinischen Nothilfe und der Arbeitsbedingungen bei den zuständigen
Diensten auf.
Im Fernsehen, Radio und auf Online-Diensten kann Naomis Hilferuf gehört
werden. Sie sagt dabei mit einer schwachen Stimme zwei Mal der
Telefonistin: „Helfen Sie mir, Madame, ich habe große Schmerzen.“ Und sie
erhält von einer unwirsch klingenden Stimme als Antwort: „Dann rufen Sie
einen Arzt an!“
## Zynischer Hohn
Als Naomi um Hilfe fleht und sagt, sie werde sterben, wird sie mit
zynischem Hohn abgewiesen: „Natürlich werden Sie sterben, eines Tages, wie
wir alle.“ Ein letztes Mal empfiehlt die Beantworterin Naomi, einen Arzt
anzurufen, was sie selber an ihrer Stelle nicht tun könne oder werde.
Damit hat die betreffende Notrufbeantworterin nicht nur gegen die Regeln
verstoßen, die sie verpflichtet hätten, beim geringsten Zweifel den Anruf
an die ebenfalls anwesende Ärztin oder den Arzt für eine Einschätzung der
Situation weiterzuleiten.
Sie hat selber eine Entscheidung getroffen, die für Naomi tragische Folgen
hatte. Nachträglich versucht sie nun ihre Schuld durch die totale nervliche
Überlastung, der sie und ihre Kolleginnen täglich ausgesetzt sind, zu
relativieren. Auch Naomis Eltern sind diese unzumutbaren Arbeitsbedingungen
bekannt. Ein Trost ist das für sie nicht.
17 May 2018
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
Straßburg
Schwerpunkt Frankreich
Gesundheitspolitik
Herz
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