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# taz.de -- Zum Tag der Pressefreiheit: Ein Fanzine aus dem Knast
> Erdal Süsem ist einer der am längsten inhaftierten Medienschaffenden in
> der Türkei. Aus dem Gefängnis bringt er ein Fanzine heraus. Ein Porträt.
Bild: Anschreiben gegen die Enge des Gefängnisses
Renas Süsem ist gerade einmal neun Jahre alt, aber er ist reflektierter als
so mancher Erwachsene. Fragen ihn Lehrer in der Schule, was seine Eltern
von Beruf sind, antwortet er: “Meine Mutter arbeitet bei der
Stadtverwaltung und mein Vater ist inhaftierter Journalist“.
Der Vater von Renas, Erdal Süsem, ist nicht nur einer der 180 inhaftierten
Journalisten in der Türkei – sondern nach 17 Jahren hinter Gittern nach
Angaben der [1][Media and Law Association] auch einer der am längsten
gefangenen Journalisten und Medienmacher der Türkei. Wegen versuchten
Umsturzes zu lebenslanger Haft verurteilt, saß er von 1999 bis 2007 zum
ersten Mal im Gefängnis. Das zweite Mal kam er 2010 hinter Gitter und dort
muss er noch heute sein Leben verbringen. Mittlerweile hat der 41-Jährige
nahezu die Hälfte seines Lebens in Haft verbracht, in den Jahren auf freiem
Fuß hat er geheiratet und seinen Sohn Renas bekommen.
Süsem kam 1977 als dritter Sohn einer Familie von sieben Kindern in Erzurum
im Nordosten der Türkei zur Welt. Seine Frau Eylem bezeichnet ihn als einen
“empathischen, gutherzigen“ Journalisten. Mit acht Jahren zog Süsem mit
seiner Familie nach Istanbul, später studierte er Maschinenbau im
südosttürkischen Diyarbakır. Das Studium brach er bald ab, weil ihn die
Literatur mehr interessierte.
Die Zeitschrift “Eylül“
Süsem wusste, was ihn als oppositioneller Journalist erwartete, als er die
ersten Schritte in seinem Beruf machte. „Als ich als Journalist zu arbeiten
begann, tätowierte ich mir in mein Bewusstsein, dass Journalismus dazu
dient, die Fahne der Meinungsfreiheit in der Gerichtssälen der Justizsäle
wehen zu lassen“, erinnert er sich in einem Brief aus dem Gefängnis.
Diese Fahne ließ Erdal Süsem sogar im Gefängnis wehen. Aus dem Gefängnis
heraus brachte Erdal Süsem mit vier weiteren Mitinsassen ab 2006 das
Fanzine Eylül heraus. Der Name des Fanzines spielt auf das linke Trauma
durch den Militärputsch im September 1980 an, in dem Tausende
Oppositionelle verhaftet und gefoltert wurden. „Ein Fanzine ist dreist, es
deckt Verstecktes auf und schreit das heraus, worüber geschwiegen wird“,
schrieb er. Handgeschriebene Texte füllen die ersten vier Ausgaben, die
vollständig im Gefängnis entstanden. Häftlinge verteilten sie dort und
Besucher schmuggelten sie schließlich nach draußen.
Ein Jahr später kam Süsem überraschenderweise frei, die Anklage blieb
jedoch bestehen. Ab der fünften Ausgabe konnte er die Zeitschrift in einer
professionellen Druckerei verlegen lassen. Er veröffentlichte weiterhin
Gedichte, Kurzgeschichten, Essays und Artikel von Inhaftierten und
ehemaligen Inhaftierten. Insgesamt sind es 16 Ausgaben in loser
Reihenfolge, die er privat und mit der Hilfe von Freunden und Verwandten
finanzierte. “Unterstützer verteilen die Zeitschrift ehrenamtlich. In den
kurdischen Gebieten werden sie deshalb inhaftiert. Wer einmal eine
Zeitschrift verteilt hat, kann die nächste schon nicht mehr verteilen, weil
ihm Verhafung droht“, erklärt Süsem den hinkenden Vertrieb der Zeitschrift,
die mit knapp 500 Exemplaren eine eher kleine Auflage hatte.
2009, kurz nach der Geburt seines Sohnes Renas, haben sie Süsem erneut
inhaftiert. Während der Haft kümmerte sich seine Frau Eylem um Eylül.
Gefängnisinsassen wurde sie noch drei Jahre kostenlos per Post zugestellt
oder von Besuchern mitgebracht. Inzwischen musste Eylem Süsem die
Zeitschrift einstellen: Es fehlte das Geld.
Warum wird Erdal angeklagt?
Laut 12. Strafgericht in Istanbul ist Süsem ein Mitglied in der Türkei
verbotenen „Kommunistischen Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch“
(TKP/ML) und somit ein gefährlicher Terrorist. Die Beweislast dafür ist
allerdings dürftig: Ein Verdächtiger nannte in den Vernehmungen seinen
Namen, Zeugen beschuldigten ihn, Mitglied einer illegalen Organisation zu
sein, änderten aber im Laufe des Prozesses ihre ursprünglichen Aussagen.
Dass Süsem während der Verhöre gefoltert wurde, wurde ihm sogar ärztlich
attestiert. Trotzdem lautete das Urteil: lebenslange Haft. Das höchste
Gericht der Türkei, der Kassationshof, hob diese Entscheidung bereits zwei
Mal auf. Trotzdem hielt sich das Strafgericht, dass das Urteil gesprochen
hatte, nicht an die Maßgabe des höheren Gerichts. Nun klagen die Anwälte
Erdal Süsems vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Nach 17 Jahren bleibt Süsem nichts weiter als darauf zu hoffen, dass ein
Gericht seinen Fall erneut verhandelt. “Ich wünsche und erhoffe mir, dass
wir bald mit allen Inhaftierten wieder unter euch sein werden“, sagt Süsem,
„aber unterkriegen lassen wir uns nicht.“
Aus dem Türkischen von Ebru Taşdemir
3 May 2018
## LINKS
[1] https://medyavehukuk.org/
## AUTOREN
Barış Altıntaş
## TAGS
taz.gazete
Schwerpunkt Türkei
Recep Tayyip Erdoğan
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