| # taz.de -- Kurzgeschichte über eine Begegnung: Isireider – was ist das? | |
| > Zwei Männer sind in Brandenburg, in einer Pension, im Wintergarten. Über | |
| > die Gründe ihrer Anwesenheit kommen sie miteinander ins Gespräch. | |
| Bild: „Da dachte ich mir, fährst einfach in die Provinz raus, nicht zu nah, … | |
| Er saß an einem der Fenster, füllig, klein. Er hatte das Frühstück beendet | |
| und sah hinaus. Bleiern der Himmel, manchmal fielen Regentropfen. Es war zu | |
| fühlen, dass ein steter Wind wehte. | |
| Beine unter dem Stuhl gekreuzt, Arme vor der Brust, blaues Hemd, roter | |
| Pullunder, Kunstlederschlappen. Ein älterer Herr, und als er den Kopf | |
| drehte, um zu sehen, wer da wohl hereinkäme, sagte ich Guten Morgen. Er | |
| grüßte zurück. Dann blickte er auf die Wand vor sich. | |
| Den Abend zuvor war ich in der Kleinstadt angekommen. An einem der ersten | |
| Wochenenden des Jahres, für die der Wetterbericht schöne Temperaturen | |
| angekündigt hatte. Deshalb war ich mit dem Rad hinaus aus Berlin und in die | |
| brandenburgische Provinz hinein. | |
| Die Pension hatte ich gleich am Ortseingang gesehen. Einfamilienhaus, | |
| Ziegelbau, schräges Dach, große Fenster, großer Hof. Fünf Tische im | |
| Wintergarten, der bis elf Uhr Frühstücksraum war. | |
| Ich setzte mich an den Tisch neben dem Mann. Ich dachte daran, dass ich | |
| nach dem Frühstück los wollte. Sah zum Fenster hinaus und streifte dabei | |
| mit dem Blick den Mann. Er bemerkte meinen Blick, der nicht ihm galt, aber | |
| in seine Richtung ging, und folgte ihm. | |
| „Ob das heute noch besser werden wird“, sagte ich. | |
| „Es soll“, sagte er. „Angesagt ist es.“ Er schob den Kopf vor, schütte… | |
| ihn. | |
| „Am Vormittag noch schlecht, aber zu Mittag hin Sonne, haben die gesagt“, | |
| sagte ich. | |
| Der graue Schleier war da, aber statt einzelner großen Tropfen fiel nun | |
| feiner Regen. In einer Stunde wollte ich los, in den nächsten Ort, nicht | |
| sehr weit entfernt. Den wollte ich mir ansehen, dann zurück nach Hause, | |
| nach Berlin. | |
| Der Mann seufzte, sagte: „Also, wenn das noch besser werden soll, dann | |
| müsste es jetzt anfangen.“ Er sah auf die Uhr am Handgelenk. „Halb elf. | |
| Wird heute damit sonst nichts mehr werden.“ | |
| ## Der Mann sah mich an | |
| Er schob die Unterlippe vor und sah wieder an die Wand vor sich. | |
| „Sehen Sie, dort hinten, hinter den Strommasten, da“, sagte ich und zeigte | |
| auf einen schmalen gleißenden Streifen, waagerecht am Horizont. | |
| Der Mann sah mich an. | |
| „Nun“, sagte er, „bis das hier ist und alles aufgerissen hat.“ Er nahm … | |
| Arme von der Brust und legte sie links und rechts neben den Teller. „Bis | |
| dahin ist der Tag vorbei. Wir haben doch noch März.“ | |
| „Wahrscheinlich haben Sie recht damit“, sagte ich. „Wir sollten froh | |
| darüber sein, dass es dieses Jahr schon so mild ist. Wenn ich da ans letzte | |
| Jahr um dieselbe Zeit denke.“ | |
| Sehr kalt war es letztes Jahr um dieselbe Zeit gewesen. | |
| „So ist es“, sagte der Mann. „Ich komme jedes Jahr um die Zeit hierher, u… | |
| ich kann mich an sehr viele sehr unangenehme Tage erinnern.“ Er hatte die | |
| Arme wieder vor der Brust verschränkt, gemütlich, entspannt. | |
| ## Er besucht das Grab der Mutter | |
| „Sie kommen jedes Jahr hierher? Weil Ihnen die Stadt gefällt? Die Umgebung, | |
| die Menschen? Das Wetter?“ Ich lachte. Zu laut, wie ich fand. Er nahm das | |
| Lachen auf, lachte aber still. Dann war das Lachen weg, und der Mann | |
| blickte erneut an die Wand vor sich. | |
| „Besuche das Grab meiner Mutter.“ Er beugte sich zu mir herüber. „Seit s… | |
| tot ist, besuche ich sie hier auf dem Friedhof. Jedes Jahr, zu Ostern und | |
| zu Weihnachten, manchmal auch zwischendurch, so wie jetzt gerade. Als sie | |
| noch gelebt hat, habe ich sie natürlich auch besucht. Alle Festtage, | |
| Weihnachten, Ostern, Pfingsten, immer.“ Er unterbrach sich. | |
| „Sie sind hier geboren?“ Ich stemmte die Füße auf den Boden, schob den | |
| Stuhl nach hinten weg. Das Wetter war regnerisch und würde wahrscheinlich | |
| regnerisch bleiben, und ich hatte die Gesellschaft eines Mannes, der viel | |
| unterwegs war und seine Mutter liebte. Es war egal. | |
| „Richtig“, sagte er. „Hier geboren und aufgewachsen. Dann, noch bevor die | |
| Mauer kam, bin ich nach Bayern rüber. Lebe jetzt schon sehr lange Zeit | |
| dort. Aber ich komme immer wieder hierher.“ | |
| Dann war er es, der fragte. | |
| „Wo kommen Sie her?“ Er legte die Hände auf die Oberschenkel. | |
| ## Berlin? Kennt er | |
| „Berlin“, sagte ich, „und das Wetter sollte schön werden, war es gestern… | |
| Samstag auch, und da dachte ich mir, fährst einfach in die Provinz raus, | |
| nicht zu nah, nicht zu fern, und jetzt bin ich da.“ | |
| Der Mann griff nach der Kaffeekanne auf seinem Tisch, schwenkte sie, fühlte | |
| Flüssigkeit darin herumschwappen. Goss sich davon ein. | |
| „Berlin“, sagte er. „Kenne ich.“ | |
| „Tatsächlich?“ | |
| „Aber nur das Zentrum, und nur ein einziges Mal.“ | |
| „Neulich erst?“ | |
| Er bewegte die Hand. „Lange her.“ | |
| „Zehn Jahre? Zwanzig? Wie viel?“ | |
| „Warten Sie. Lassen Sie mich nachdenken.“ Er warf den Kopf zurück, blickte | |
| an die Decke, hob die Hände von den Oberschenkeln und verschränkte sie | |
| wieder vor der Brust. „Das muss, ja, das muss Ende der Sechziger gewesen | |
| sein. Fünfundsechzig, siebenundsechzig.“ Handbewegung. „So was in dem | |
| Dreh.“ Hand zum Kinn, reiben. „War bestimmt gerade mal zwanzig damals.“ | |
| „War da nicht Elvis Presley?“ | |
| „War der nicht früher? Ich weiß gar nicht, wer war denn da?“ Kinnreiben. | |
| „Vergessen. Weg.“ | |
| Die Hand fuhr durch die Luft. | |
| ## „Easy Rider“ kennt er nicht | |
| „Schuhe mit dicken Sohlen waren modern, das weiß ich noch, und die Mädchen | |
| hatten keine Büstenhalter an. Das piekte in die Augen, und wir waren junge | |
| Burschen und wollten Schuhe mit dicken Sohlen, weil wir die Mädchen mit | |
| ohne Büstenhalter wollten. Die Schuhe habe ich mir in Berlin gekauft. | |
| Deswegen war ich da, am Kurfürstendamm.“ | |
| Ich versuchte ihn mir vorzustellen, wie er als junger Bursche gewesen war, | |
| mit dicken Schuhsohlen und zusammen mit den Mädchen. Es gelang mir nicht. | |
| Aber das hatte nichts zu besagen. | |
| „‚Easy Rider‘“, sagte ich. „Kennen Sie ‚Easy Rider‘?“ | |
| „Nein“, sagte er, „Isireider. Was ist das?“ | |
| Ein Film aus den Endsechzigern, wollte ich sagen, ein Film über die | |
| Freiheit. Mit Dennis Hopper, Jack Nicholson, Peter Fonda. Peter Fondas | |
| Schwester Jane hatte auch genauso nie einen Büstenhalter unter ihren | |
| Oberteilen an. In „Easy Rider“ macht sie aber nicht mit. | |
| In dem Moment hörte der Regen auf. Die Sonne kam raus. „Nichts weiter“, | |
| sagte ich, „nichts weiter als ein Wort“. Ich stand auf, nickte dem Mann zu. | |
| Er nickte ebenfalls und wandte sich wieder der Wand zu. | |
| ## Wir schüttelten uns die Hände | |
| Ich hätte ihm den ganzen Film ganz genau erzählen müssen, und er hätte es | |
| dann doch nicht verstanden, und am Ende wäre bloß die Sonne weg gewesen. | |
| Hin aufs Zimmer, die Tasche packen. Dann an die Rezeption und die Rechnung | |
| bezahlen, dann in den Hof, wo das Rad war. Da sah ich den Mann wieder. | |
| Hinten an der Remise stand er, an seinem Wagen, einem BMW. Der Mann sah zu | |
| mir herüber. Er guckte nur. | |
| Ich fuhr durch die Stadt hindurch. Saubere, gerade Straßen und Menschen, | |
| die alle Windjacken anhatten und Jeans, an denen die Hosenbeine auf | |
| Schuhoberkante gekürzt waren. | |
| Am Ortsausgang war plötzlich ein Wagen neben mir, ein BMW, er blieb auf | |
| meiner Höhe. Ich sah hin und sah, dass der Mann im Wagen war. Er überholte | |
| mich, bog in einen Feldweg ein. Hielt an, stieg aus. | |
| Als ich heran war, gab er mir die Hand und sagte, wie angenehm ihm die | |
| Begegnung beim Frühstück gewesen war, und dann sagte ich es auch. Wir | |
| schüttelten uns lange die Hände. Der Mann stieg in den Wagen, wendete, fuhr | |
| zurück in die Stadt. Und ich weiter in meine Richtung. | |
| 27 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Feix | |
| ## TAGS | |
| Kurzgeschichte | |
| Brandenburg | |
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