# taz.de -- Sprache und Politik: Lingua AKP | |
> Ein in der Türkei neu erschienener Essayband untersucht, wie die Sprache | |
> der AKP-Regierung die Gesellschaft formt und verändert. | |
Bild: Zamanın Kelimeleri (Die Wörter der Zeit) ist eine Diskursanalyse der �… | |
Wie so vieles in der Türkei, ist auch die türkische Sprache Gegenstand | |
politischer Auseinandersetzungen. Die AKP will ihre eigene Sprache | |
schaffen. Dies geschieht aber nicht in Behördenbüros wie zu Zeiten | |
Atatürks, als mit dem Vorschlaghammer gegen osmanische Überreste | |
vorgegangen wurde, sondern in einem urbanen und digitalen Umfeld. Der | |
Istanbuler Germanist Tanıl Bora, als langjähriger Herausgeber der | |
Zeitschrift Birikim ein intellektuelles Schwergewicht der traditionellen | |
Linken, wagt in seinem soeben erschienenen Buch Zamanın Kelimeleri (Die | |
Wörter der Zeit) eine Diskursanalyse der „politischen Sprache der Neuen | |
Türkei“, so der Untertitel. | |
Bora macht sich den Ansatz Viktor Klemperers zu eigen, der in Lingua Tertii | |
Imperii (LTI) zeigt, dass die Wirkung der Sprache des Dritten Reiches | |
weniger in einzelnen spektakulären Reden zu suchen ist als vielmehr in der | |
allgegenwärtigen Wiederholung der immer gleichen, mit ideologischen | |
Vorstellungen aufgeladenen Begriffe. | |
Fast jeder der kurzen Essays in Die Wörter der Zeit behält die | |
verschiedenen Ebenen im Auge, auf denen Diskurs in der Politik, im | |
öffentlichen Raum, in Medienberichten, Alltagsgesprächen, Werbeerzeugnissen | |
und wirtschaftlichen Transaktionen auftritt und wirkt. Neben einem | |
naheliegenden Fokus auf die eigenwillige Sprache Erdoğans interessiert sich | |
Bora vor allem für die Konsumsphäre und die Formen, in denen auch | |
oppositionelle Menschen die politische Sprache der Neuen Türkei | |
mitsprechen. So konstatiert er beispielsweise, wie die Opposition die AKP | |
größer macht als sie ist, indem sie alles Neoliberale mit ihr gleich setzt, | |
wie es der Diskurs der neuen Türkei gebietet. | |
## Wer ist hier das „Opfer“? | |
Die „Neue Türkei“ selbst ist ein solcher Begriff. Er wurde nicht von der | |
AKP, sondern vom BBC-Korrespondenten Chris Morris geprägt, der 2005 mit The | |
New Turkey ein hoffnungsfrohes Buch über die modernisierende Kraft des | |
moderaten Islam vorlegte. Die AKP machte sich den Begriff erst um 2014 im | |
großen Stil zu eigen, um den Anspruch zu untermauern, „dass unser Land ab | |
jetzt in der Championsleague der Staaten und Nationen mitspielt“, wie der | |
damalige Kulturminister Ömer Çelik so schön formulierte. | |
Kernbegriffe des Konservativismus bekommen bei Bora gebührende | |
Aufmerksamkeit. Etwa die Phrase „heimisch und national“ (yerli ve milli) | |
als normative Anforderung an Denk- und Verhaltensweisen, als Abstammungs- | |
und Reinheitsdiskurs. Oder der Begriff „Treue“ (sadakat), bei dem der Autor | |
Verweise auf NS-Sprache mitliefert, aber nie mit dem Ziel, einen | |
umwerfenden Nazivergleich hinzulegen. Der Autor versteht es, einen | |
faszinierenden Bogen zwischen der großen Politik und dem kleinen Mann zu | |
spannen und dabei Nuancen herauszuarbeiten, die bei allen augenscheinlichen | |
Parallelen doch maßgebliche Unterschiede zur Welt von Klemperers LTI | |
aufweisen. | |
Zum Beispiel bei dem auch in Deutschland äußerst beliebten Begriff „Opfer“ | |
(mağdur): Erdoğan ist „Opfer“ des Putschversuches vom Juli 2016, während | |
der türkische Einzelhandel uns mahnt, kein „Opfer“ zu werden, wenn mal ein | |
Produkt nicht sofort verfügbar ist. Wie dieses Wort, das im Osmanischen | |
eine Rechtskategorie war, in die heutige Kundenansprache eingegangen ist, | |
spürt Bora in Online-Kundenbewertungen nach, wo der kleine Mann in einem | |
Fünf-Sterne-Hotel „Opfer“ eines unzureichenden Frühstücksbüffets geword… | |
ist. | |
In der inflationären Verwendung des Begriffes „Opfer“ macht Bora ein | |
doppeltes strategisches Anliegen aus: Erstens im andauernden Geltendmachen | |
von eigenen Verlusten seine privaten Ansprüche durchzusetzen und zweitens | |
die Erfahrungen von Menschen, die wirklich schwerer staatlicher oder | |
familiärer Gewalt ausgesetzt sind, zu relativieren und zu entwerten. Bora | |
geht an dieser Stelle auf Kritik der Menschenrechtsstiftung TIHV an der | |
Arbeit des staatlichen Amtes für Opferhilfe ein, das Folteropfer als | |
„atypisch“ marginalisiert und einem „paternalistischen Staatsverständnis… | |
folgend anhand von Sonderkriterien statt universeller Rechte bestimmt, wer | |
Opfer ist und wer nicht. | |
## „Mein allernatürlichstes Recht“ | |
Adorno hatte in der Phrase „Das kommt überhaupt gar nicht in Frage“ | |
potentiell schon die Machtergreifung der Nationalsozialisten ausgemacht. | |
Der private Wille, gestützt auf Befugnisse oder bloße Frechheit, wird als | |
unmittelbare, objektive Notwendigkeit dargestellt und lässt keinen | |
Einspruch mehr zu. Bora findet in Wendungen wie „mein allernatürlichstes | |
Recht“ (en doğal hakkım) die Machtergreifung der AKP. | |
Gas gegen Demonstrierende einzusetzen wird als „allernatürlichstes Recht“ | |
der Polizei proklamiert, so wie der parteipolitische Machtausbau durch | |
Missbrauch des Amtes des Staatspräsidenten Erdoğans „allernatürlichstes | |
Recht“ ist. Es ist die Fülle an Werbeslogans von Möbelhäusern und | |
Istanbuler Shoppingmalls á la „Mich besonders zu fühlen, ist mein | |
allernatürlichstes Recht“, kraft derer aus der eigenwilligen Phrase ein | |
Artefakt eines totalitären Diskurses wird. Die Privatinteressen einer | |
verwöhnten urbanen Mittelschicht, die sich immer für zu kurz gekommen hält, | |
treten im Gewand des Naturrechts auf, das Einsprüche und die sie Erhebenden | |
beseitigen muss, so Bora. | |
Die Befunde des Autors sind faszinierend, aber auch er hat seine blinden | |
Stellen. Wenn er beispielsweise Überlebende staatlicher Gewalt oder | |
inhaftierte kurdische Politiker*innen zitiert, wie sie einzelne Begriffe | |
aus der Lingua AKP benutzen, hält er sich kaum bei der Frage auf, ob sie | |
diese bloßstellen, parodieren oder aneignen wollen. Dabei bewegt sich auch | |
Bora selbst nicht außerhalb der Netze des Diskurses. | |
Er schlägt die Übersetzung „Overmind“ für üst akıl vor. Overmind ist im | |
Science Fiction eine Art Megacomputer, aber üst akıl meint, dass hinter | |
allem, was passiert – sozialen Bewegungen, Finanzmarkteinbrüchen, | |
Bombenanschlägen – immer ein unsichtbarer, höherer Verstand steckt. Ganz in | |
der Tradition der antiimperialistischen Linken lässt sich Bora auf die | |
Erklärung ein, dass damit irgendwie der Westen gemeint sein könnte. Dabei | |
hat Marc Baer in der taz [1][überzeugend gezeigt], dass diesem Begriff (den | |
er mit „Strippenzieher“ wiedergab) eine Kernfunktion im Antisemitismus der | |
AKP, aber auch weiten Teilen der Opposition, zukommt. Wenn wir alle | |
irgendwie verstrickt sind, hilft nur, dass wir uns gegenseitig auf unsere | |
Blindheit hinweisen. | |
17 Apr 2018 | |
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## AUTOREN | |
Oliver Kontny | |
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