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# taz.de -- Doku über Massensuizid im II. Weltkrieg: Mütter töten kollektiv …
> Wie erzählt man von einem Massensuizid, von dem es keine Bilder gibt?
> Martin Farkas’ Dokumentarfilm „Über Leben in Demmin“ hält sich ans He…
Bild: Ein besorgter Bürger (Szene aus dem Film)
Nun käme er aber weit vom Thema ab, sagt eine ältere Frau zu ihrem Ehemann,
der gerade – vom Hundertsten ins Tausendste gekommen – die städtebauliche
„Flickschusterei“ von Demmin beklagt. Ja, meint der Mann, der seinen
Ansichten mit breiten Gesten Gewicht gibt, aber das sei ihm egal.
Die Frau hat recht: Tatsächlich hat sich ihr Gatte ordentlich aus dem Thema
hinausmonologisiert. Es ist aber, anders betrachtet, ganz und gar nicht
egal, was er da erzählt – es ist zumindest Regisseur Martin Farkas nicht
egal, denn der schneidet diese thematische Abdrift nicht nur nicht aus
seinem Film heraus; er schneidet sie sogar ganz bewusst in ihn hinein – und
zwar an den Anfang von „Über Leben in Demmin“.
Demmin liegt in Mecklenburg-Vorpommern, knapp 60 Kilometer südlich von
Stralsund. Wie in vielen Kleinstädten in Ostdeutschland schrumpft die
Einwohnerzahl seit Jahrzehnten, aus der Mitte verschwinden die Geschäfte,
am Stadtrand stehen die Discounter. Im Zentrum liegt ein langgezogener
Marktplatz brach; dahinter steht neben dem Rathaus eine wuchtige
Backsteinpfarrkirche aus dem 13. Jahrhundert, viele Gebäude strahlen hier
im hanseatischen Rot, in der Früh hängt der Morgentau zwischen den Dächern.
Demmin ist im Schnitt nicht höher als dreistöckig bebaut, durchzogen und
umschlossen von drei Flüssen: Peene, Trebel und Tollense. Das ist Demmin
heute: eine im Laufe der Nachkriegszeit geflickschusterte Kleinstadt, die
sich mit vielen anderen vergleichen lässt.
Aber in Demmin ist dennoch etwas anders. Man kann es nicht genau benennen,
erst recht nicht lokalisieren, aber man hat den Eindruck, dass die
Katastrophe, die sich hier zu Kriegsende ereignete, in den Ort
eingespeichert wurde, dass sie in den Häusern, im Stein, in der Baulichkeit
noch nachzittert.
## Mehrere hundert Tote
Nachdem die Wehrmacht kampflos aus Demmin abgezogen war und hinter sich die
Peene-Brücken sprengte, um den Vormarsch der Rotarmisten zu verzögern, kam
es mit mehreren hundert Toten zu einem der größten Massensuizide der
Geschichte. Aus Angst vor der Brutalität eines rachsüchtigen Feindes banden
sich zahlreiche Mütter ihre Kinder um den Leib und ertränkten sich; andere
trugen Rasierklingen mit sich, um sich jederzeit das Leben, das genommen
werden könnte, nehmen zu können.
Farkas’ Film ist eine Art dokumentarische Gradmessung dieses
geschichtlichen Nachzitterns in Demmin. Für das, was geschah, gibt es keine
Bilder außer denen, die sich 73 Jahre später vom Ort des Geschehens
fotografieren lassen. Und das meint sowohl die Aufnahmen der Zeitzeugen,
die ihre Erlebnisse – immer gebrochen durch den Filter der Erinnerung und
der Erinnerbarkeit – im Gespräch mit dem Regisseur schildern, als auch die
Szenen der Neonaziaufzüge, die alljährlich am 8. Mai durch den Ort führen,
um am Zielpunkt ihrer kopfgesenkten Märsche die bedingungslose Kapitulation
mit scheußlich-pastoralem Trauergebaren zu beschmerzen.
Einmal bittet ein Zeitzeuge Farkas um Hilfe: „Erklären Sie es mir, ich
verstehe es nicht!“ Wie konnte dieser Punkt erreicht werden, an dem Mütter
kollektiv ihre eigenen Kinder töteten? So gibt es keine Bilder und noch
nicht einmal ein Verstehen. Und genau deshalb ist „Über Leben in Demmin“
auch immer dann am stärksten, wenn er den Ort sichtbar macht, so wie er
heute dasteht – eingenebelt, hanseatenrot, geflickschustert; wenn er uns
eine Hüpfburg zeigt, die sich auf dem Marktplatz langsam, aber sicher mit
Luft füllt und geraderichtet; wenn er zeigt, was auf dem Boden (ent-)steht,
in dem die Zeit begraben liegt, wenn er um 73 Jahre am Thema vorbeifilmt.
26 Mar 2018
## AUTOREN
Lukas Stern
## TAGS
Demmin
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Nazis
Doku
Dokumentarfilm
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