# taz.de -- Debatte 20 Jahre Viagra: Diese Pille ist ein Segen | |
> Viele kritisieren, Viagra zwinge Männern das phallische Steilheitsmodell | |
> auf. Dabei hilft es ihnen dabei, sich kommunikationsfähig zu fühlen. | |
Bild: Stimuliert die Erektion nur, wenn grundsätzlich im Mann eine sexualisier… | |
Die taz schrieb damals etwas von einem Angriff auf die Frauen durch den | |
industriell-pharmakologischen Komplex: So war die Wahrnehmung in unseren | |
Kreisen, als die US-amerikanische Firma Pfizer vor zwanzig Jahren eine | |
Pille in die globalen Märkte lancierte, die Männern Hoffnung gab. | |
Der Name für dieses als Medikament bezeichnete Mittel, so schreibt die | |
Sozialwissenschaftlerin Claudia Sontowski in der Recherche zu ihrer | |
Doktor*innenarbeit, wurde aus Begriffen gemischt, „Vigor“, das bedeutet im | |
Englischen „Kraft“, und „Niagara“, was keine Übersetzung nötig hat und | |
nichts als mächtige Ströme signalisiert. | |
In Summe war es schließlich der Name, der auf Anhieb Furore machte: Viagra. | |
Ein Name, eine begriffliche Vorstellung, die allerdings auch nicht | |
überpräzise war. Was es macht, musste ausprobiert werden: niedlich babyblau | |
gefärbt, klassisch gepresst zu einer ansehnlichen Trapezförmigkeit. | |
Eigentlich hatte Pfizer die komplizierte Wirkstoffformel getestet, um | |
herzkranken Menschen zu helfen. Evaluiert wurde aber, dass es den Klienten | |
zwar auch koronar besser ging, diese jedoch vor allem, trotz | |
fortgeschrittenster Altersstufen, über tüchtig pulsierende Erektionen nach | |
Einnahme der Mittel berichteten. So kam Viagra in die Welt – als | |
Hilfsmittel, damit das Phallische nicht nur behauptet wird, sondern auch | |
tatsächlich erwächst. | |
Und was das Mittel für eine Karriere machte. Milliardenfach wurde es | |
gekauft, leider auch viel zu oft nicht auf ärztliche Rezepte, sondern per | |
Internet aus Asien: Meist sind in diesen Produkten falsche Bestandteile | |
enthalten – oft Streckmittel obskurster Art oder ecstasyähnliche | |
Komponenten. Gesund war und ist das nicht – aber gegen Viagra oder ähnliche | |
Mittel (Cialis, Levitra, Spetra) hat in der Regel eine ärztliche Person | |
etwas einzuwenden. Was sie nur immer wieder sagen, ist dies: Der | |
PDE-5-Hemmer, der diesen Medikamenten zugrunde liegt, stimuliert die | |
Erektion nur, wenn grundsätzlich im Mann eine sexualisierte Stimmung | |
vorhanden ist. Nehmen und auf Sexualisierung hoffen: Das geht einfach | |
nicht. | |
## Kulturkritik aus der feministischen Ecke | |
Viagra fand und findet weiträumigen Konsum in der Pornoindustrie, in | |
Sexclubs (gleich ob Homo oder Hetero), und in allen Sphären zeigt sich | |
dies: Ein Mann, der dem Sexuellen nachsteigt und auch in den richtigen | |
Moves ist – dann aber keinen hochkriegt – ist ein unglückliches Subjekt. | |
Jahrzehnte, ja, Jahrhunderte lang haben Männer versucht, die organischen | |
Folgen des Älterwerdens wenigstens manchmal zu lindern. Nashornpulver, | |
Schildplattpaste oder andere, durch die Bank nutzlose Mittel wurden von | |
Männern genommen, um sexuell nicht als alt, unfähig und impotent | |
wahrgenommen zu werden. | |
Die Kulturkritik an Viagra, gern aus feministischer Ecke, das Medikament | |
zwinge Männern das phallische Steilheitsmodell auf, auf dass sie Frauen | |
weiter vergewaltigen können, missachtete stets, dass Viagra Männern – | |
gleich, wo sie leben, gleich, welcher Klasse sie angehören – hilft, sich | |
kommunikationsfähig zu fühlen, auch erotisch und sexuell. | |
Die Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker kennt aus klinischer Praxis | |
die Leiden von Männern, die die körperlich-erotisierte Dimension von | |
Kommunikation nicht mehr anbahnen können, weil er nicht mehr stehen kann. | |
Sei es aus Stress oder aufgrund einer Erkrankung, sei es aus sonstigen | |
Gründen: Viagra sei jedoch nur, aber immerhin, möchte man sagen, „eine | |
Anschubfinanzierung“, um die Fähigkeit zur Erektilität überhaupt wieder zu | |
ermöglichen. | |
Was auch bei Sophinette Becker nur fragmentarisch durchschimmert, ist ja | |
zugleich auch dies: Sexualwissenschaftlich belastbare Untersuchungen zum | |
sexuellen Empfinden bei Frauen gibt es auch nicht viele, aber doch ein | |
öffentlich geäußertes Unbehagen an dem, was (in der Regel heterosexuellen) | |
Frauen durch Männer zugemutet wird. Die [1][#MeToo-Debatte] trägt das ihre | |
dazu bei, das wirkliche Wollen von Frauen im Sexuellen zu erörtern. | |
G-Punkt, klitoraler oder vaginaler Orgasmus, erogene Zonen – Frauen und | |
ihre Probleme werden als komplex und unüberhörbar wahrgenommen, gut so. | |
Aber Männer? Es gibt definitiv keine langfristig angelegte, breit | |
gesampelte Untersuchung zu den sexuellen Vorstellungen, Fantasien und | |
Hoffnungen, die sich den Männern im Speziellen widmet. Öffentlich bleibt so | |
der Eindruck: alles Penis, alles Schwanz, alles schnell und mit Schuss. | |
Dass das nicht die Realität männlicher Lebensweisen trifft, wissen am | |
allerbesten Sexarbeiterinnen, die davon erzählen können, wie empfindsam ein | |
männlicher Körper reagiert – und wie beschämend es für einen Mann ist, | |
sexualisiert keinen erigierten Penis zu haben. | |
## Das Selbstvertrauen, sexuell fähig zu sein | |
Insofern war die Einführung von Viagra ein Segen – und ist es noch. Es ist | |
kein Medikament, wie es in vielen medialen Geburtstagsständchen anklingt, | |
der neoliberalen Selbstoptimierung, ein Doping unstatthafter Art, ein | |
chemisch-pharmakologischer Streich wider die Natur. Solche Vorstellungen | |
leben von der grausigen Idee, Männer sollen nicht mehr Sex haben können, | |
wenn sie zu alt sind, wenn sie das juvenile Hochhormonlevel verlassen haben | |
– und wenn sie geraucht und getrunken und entgrenzt gelebt haben. | |
Denn ein steifer Schwanz, so berichten es Patienten in der intimen | |
Situation therapeutischer Settings, sei ja auch der Partnerin, der | |
Geliebten gegenüber ein Zeichen, dass er sie noch will, dass er präsentabel | |
ist, dass er, wie es landläufig heißt, „noch seinen Mann steht“. Gegen | |
diese archaischen Bilder mit vulgär-feministischer Kritik angehen zu wollen | |
– so von wegen: ach, kommt doch nicht drauf an, schmusen ist doch auch | |
schön – verkennt den Kern psychischer Gesundheit von Erwachsenen. Denn die | |
speist sich auch aus dem Selbstvertrauen, sexuell fähig zu sein. | |
Die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau räumte im taz-Gespräch vor drei Jahren | |
mit der Mär auf, Viagra sei ein Mittel der alten Säcke: Aus ihrer Praxis | |
weiß sie, dass auch Jüngere das Mittel parat halten. Aus diesem kleinen | |
Hinweis ließe sich eine wahrhaftige Kulturkritik basteln: Dass Junge, | |
gleich ob Frauen oder Männer, offenbar denken, dass Sexuelles wie ein | |
Maschinenwerk zu verrichten sei. | |
Dabei meint Sexuelles viel mehr, als Christen es wünschen: Vor allem | |
Begehren muss vorhanden sein, Verlangen, Wunsch nach Überwältigung und | |
Überwältigtwerden. Dass es dies nicht eben oft im Leben gibt, wäre mal ins | |
Bewusstsein zu werfen. Dass stupendeste Geilheit, wahrhaftige Raserei um | |
das Verlangen der anderen Person ein rares Gut ist – aber im Alter, auch | |
dann, gelegentlich eine gewisse pharmakologische Hilfe nötig hat. | |
Und wenn das einmal akzeptiert ist, dass eben Viagra and all that jazz ein | |
Segen sein können, ließe sich endlich über das Sexuelle bei Männern reden. | |
Worauf sie abfahren, was sie stimuliert, was sie möchten – und nicht mögen. | |
Schnelles auch, nicht nur Schmusiges. Ambulantes, Hitziges – nicht nur | |
Balanciertes. Jedenfalls gäbe es garantiert Überraschungen zu erfahren, | |
weil dann nicht mehr nur in den üblichen Klischees gedacht werden könnte. | |
## Thema mit größter Beschämungsfähigkeit | |
Die Vermutung, Viagra sei eine Lifestyledroge, ist pure Unterstellung: Die | |
Angst der Männer vor Impotenz, die Freude über die körperliche Fähigkeit, | |
Erregung auch plastisch zu dokumentieren, gehört zum identitären Kern der | |
Selbstvorstellung von dem, was ein Mann ist. Und nicht nur, welchem | |
Lebensstil er frönt. | |
Insofern ist es auch kein Wunder, dass es kein echtes Reden, weder unter | |
Männern noch von diesen mit Frauen, über Furcht vor sexueller | |
Unzulänglichkeit gibt. Und Impotenz gilt als größte unter ihnen: Sexuelle | |
Potenz ist ein Thema mit größter Beschämungsfähigkeit, viel mehr als nur | |
eine Sache, die „untenrum“ ist. | |
Der kulturkritische Missmut zum Thema Viagra jedenfalls verdeckt die | |
eigentliche Not: Nicht wirklich etwas über das Sexuelle von Männern, in all | |
ihren Verschiedenheiten, zu wissen. Darüber mit wissenschaftlicher Akribie | |
mehr herauszufinden, es würde lohnen! | |
31 Mar 2018 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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