# taz.de -- Finale des Festivals MaerzMusik: Losgelöst von der Chronometrie | |
> „The Long Now“ zum Abschluss der MaerzMusik bietet über 30 Stunden | |
> ungewöhnliche Musik in den riesigen Hallen des Kraftwerk Berlin. | |
Bild: Wer will kann vor Ort auch in bereitgestellten Betten übernachten | |
Die seltsame Art und Weise, wie die Zeit vergeht, beschäftigt die Menschen | |
seit jeher. Dass man auf immer divergierenderen Zeitachsen unterwegs ist, | |
macht die Sache nicht leichter. Da sind zum Beispiel Vorstellungen einer | |
guten alten Zeit, die als Idee recycelt wird und uns etwa in Form von | |
Retro-Phänomenen begegnet. Und die einer zukünftigen Zeit, die naturgemäß | |
abstrakt und trotzdem zunehmend bedrohlich erscheint, angesichts vieler | |
tickender Zeitbomben, ob ökologischer oder demografischer Art | |
Es gibt die Zeit, die in unserer Wahrnehmung nicht vergehen will. Und die, | |
die galoppiert. Letztere scheint immer öfter zu gewinnen, aber das hat | |
bekanntlich mit dem Lebensalter zu tun. Und während sich die | |
Raum-Zeit-Bindung unserer Lebenswelt durch die Digitalisierung auflöst, | |
sind wir alltagschronologisch zunehmend eingetaktet und von | |
Zeitfresser-Gerätschaften umgeben. Trödeln ist zum Luxus geworden. | |
Löcher-in-die-Luft-Gucken erst recht. | |
Viele Gründe also, mit der subjektiven und objektiven Zeiterfahrung ein | |
bisschen zu spielen. Was bietet sich dafür besser an als die 30 Stunden | |
dauernde Abschlussveranstaltung „The Long Now“ des avantgardistischen | |
Festivals MaerzMusik? Schließlich trägt die Veranstaltungsreihe diesen | |
Anspruch seit vier Jahren im Titel, nach dem Bindestrich nennt sich | |
MaerzMusik nämlich „Festival für Zeitfragen“. Bis 2014 hieß es übrigens | |
„Festival für aktuelle Musik. | |
Der Fokus passt, steckt doch auch der Zeitbegriff der Avantgarde voller | |
Ambivalenzen. Zum einen ist der Anspruch, der Zeit voraus zu sein, im | |
ursprünglichen Wortsinn verankert. Woraus in der Praxis bisweilen geworden | |
ist, dass sich Avantgarde-Kunst erlaubt, über der Zeit oder ihrem Geist zu | |
stehen, also eher Zeitloses zu schaffen. | |
## „Music offers time a centre“ | |
In diesem Jahr stellen die Festivalmacher gar die Hypothese auf, dass | |
„Krieg herrscht zwischen den Zeitlichkeiten“. Und Musik soll das mal wieder | |
schlichten. Zumindest beruft man sich auf ein Diktum des letztes Jahr | |
verstorbenen britischen Schriftstellers, Autors und Malers John Berger: | |
„Music offers time a centre“ – Musik bietet der Zeit einen Mittelpunkt. | |
Sich über Musik in Raum und Zeit verankern: bei „The Long Now“ kann das | |
tatsächlich gelingen. Nicht zuletzt dank der Location des Kraftwerks | |
Berlin, die über zwei Abende, eine Nacht und einen Tag mit Live-Musik, | |
Sound- und Videoinstallationen bespielt wird. Die Programmpunkte rücken | |
angesichts des Überwältigungspotenzials dieses kathedralenhaften | |
Industrierelikts bisweilen in den Hintergrund. | |
Obwohl diese in diesem Jahr ganz schön gut sind, mit The Necks (am | |
Samstagabend) oder auch Colin Stetson (am Sonntagsabend) und diversen | |
spannenden Präsentationen zwischendurch, etwa dem Stück „Capricon’s | |
Nostalgic Crickets“ des rumänischen Komponisten Horatiu Radulescu. Das wird | |
ausschließlich mit gleichen Instrumenten gespielt, in diesem Fall sieben | |
Klarinetten. | |
Das Publikum ist eingeladen, über das Maß an Zeit hinaus zu verweilen, das | |
man üblicherweise dem Besuch einer Kulturveranstaltung zugesteht. Sogar | |
Betten werden bereitstehen. Wer sich also etwa beim extralangen Konzert der | |
Necks auf eine andere Zeitwahrnehmung einschwingt, darf ruhig noch den Rest | |
der 30 Stunden bleiben. | |
Bei dem Trio handelt es sich um eine Art Ambient-Jazz-Band aus Australien, | |
manche sagen auch Dark Jazz zu ihrer zugänglichen und doch fordernden Musik | |
– auch wenn dem Schlagzeuger Tony Buck dieses Etikett missfällt, | |
schließlich habe man aus einer „Unzufriedenheit mit dem Jazz“ heraus | |
zusammengefunden. Seit gut 30 Jahren spielen sie zusammen und lassen sich | |
selbst immer wieder überraschen, was so entsteht. Für gewöhnlich stehen sie | |
zu dritt auf der Bühne, bei „The Long Now“ allerdings werden sie mit dem A… | |
Trio auftreten – vier Stunden lang. | |
## Einstündige Stücke | |
Auch bei kürzeren Gastspielen geben The Necks ihrer Musik viel Zeit und | |
Raum. Die Stücke sind nicht selten eine Stunde lang, halten aber auf | |
erstaunliche Weise die Spannung – so, dass die New York Times das Trio | |
schon einmal „eine der besten Band der Welt“ nannte und ganz | |
unterschiedliche Künstler – Brian Eno, Karl Hyde (vom Elektronik-Duo | |
Underworld) oder die Drone-Noise-Band Swans – mit ihnen arbeiten wollten. | |
Auch der Saxofonist Colin Stetson pflegt eine Nähe zum Popbetrieb – Feist, | |
Arcade Fire, Bon Iver oder TV on the Radio sind nur ein Ausschnitt der | |
Liste seiner Kollaborationen. Vor allem aber ist er eine Instanz im | |
Avantgarde- und Jazz-Betrieb. Mit einer speziellen Atemtechnik und der | |
eigenwilligen Mikrofonierung schichtet er einen „wall of sound“ auf, sodass | |
man bei seinen Auftritten fast vergisst, wie sein Instrument eigentlich | |
klingt. | |
Durch die Nacht führt das Duo Elodie mit einem eher | |
reduziert-minimalistischen Sound. Und spätestens frühmorgens darf man sich | |
dann fragen, ob nicht auch auf einer Veranstaltung wie dieser alles | |
irgendwie seine Zeit hat – etwa, wenn die Japanerin Tomoko Sauvage mit | |
Klängen experimentiert, die sie mit Wasser gefüllten Keramikschalen | |
entlockt. Das klingt doch nach sanftem Gewecktwerden. | |
Wissen wird man es erst, wenn man erlebt, inwiefern sich Mitternacht in | |
diesem eindrucksvollen Ambiente anders anfühlt als der Frühstücks-Slot. | |
Allein dafür lohnt es sich, das Angebot dieser ungewöhnlichen | |
Veranstaltungsdramaturgie anzunehmen. | |
Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
immer Donnerstags in der Printausgabe der taz | |
23 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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Kunst | |
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