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# taz.de -- Kardinal Lehmann gestorben: Der liberale Katholik
> Sein Herz pochte für Reformer, bei aller Scharfzüngigkeit hatte er
> Charme. Kardinal Lehmann wurde geliebt. Auch von unserem Autor.
Bild: Kardinal Lehmann blieb bei aller Kritik immer konziliant
Berlin taz | Eigentlich gehört sich das nicht. Es ist im Journalismus
Konsens, Menschen, die man interviewt, nicht sofort großartig zu finden, ja
insgeheim zu bewundern. „Kritische Distanz“, das ist das Zauberwort im
Journalismus. Und wer sagt, er halte zum Objekt seiner Berichterstattung
eben dies: „kritische Distanz“, dem ist das allseitige Nicken und
vielleicht sogar ein Lob der Chefredaktion sicher – was will man mehr?
Deshalb hier das Bekenntnis: Ich habe zu Kardinal Karl Lehmann, der nun in
Mainz gestorben ist, nie „kritische Distanz“ gehalten, oder besser: fast
nie. Ich konnte es nicht. Ich fand diesen Mann, sobald ich das erste Mal
über ihn las und erst recht, sobald ich ihn das erste Mal interviewen
konnte, schlicht großartig und liebenswert. Und er vertrat immer den Teil
meiner Kirche, der lange, lange Jahre im Hintertreffen war, obwohl er,
meiner Meinung nach, [1][auf der richtigen Seite stand].
Kardinal Lehmann war über Jahrzehnte der wichtigste Mann der Kirche, der in
Deutschland die Reformen und den Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils
hoch hielt – vor allem gegen die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt
XVI., die wesentliche Früchte der großen Kirchenreform am liebsten auf
kaltem Wege rückgängig machen wollten. Der Bischof von Mainz hielt mit
seiner massigen Gestalt dagegen, blitzgescheit, scharfzüngig, aber
konziliant im Ton. Man musste bei ihm zwischen den Zeilen lesen, auf die
Zwischentöne seiner knarzigen Stimme hören. Dann dachte man sich: Wow! Was
für ein mutiger Mann! Legt sich notfalls mit allen an, die Macht haben.
Wenn ich nun an ihn zurück denke, fällt mir als erstes das Interview ein,
das ich mit ihm vor 18 Jahren für die taz führen durfte – denn es war im
Grunde eine verrückte Idee und sagte viel über ihn: Bischof Lehmann (damals
noch nicht zum Kardinal ernannt) war bereit, auf Vermittlung der taz hin
mit der multireligiös-schwärmerischen Punk-Pop-Sängerin Nina Hagen über
Glaubensdinge zu sprechen – bei edlem Gebäck im schicken Bischofshaus von
Mainz.
## Menschenfischer im besten Sinne des Wortes
Sie: wallend bunt gekleidet, irgendwie indisch oder so, mit viel Schminke
und fettem Lippenstift auf ihrem riesigen Mund, er mit seinem dicken Bauch
in schwarzem Hemd mit weißem Priesterkragen. Ich weiß gar nicht mehr genau,
was die beiden eigentlich gesagt haben. Aber der respektvolle Ton im Umgang
miteinander, die Heiterkeit und die Ernsthaftigkeit, mit der sie in diesem
Glaubensgespräch voneinander lernen wollten, obwohl sie in Sachen
Biographie und Umfeld fast nichts verband. Das hat mich stark beeindruckt,
ja bewegt. So, dachte ich, muss Kirche sein: Sie muss mit allen reden,
richtig zuhören, ohne sich zu verbiegen. Beschwingt fuhr ich zurück nach
Berlin.
So ging mir das immer mit Kardinal Lehmann, jedes Mal, wenn ich ihn traf,
beobachtete oder interviewen konnte. Denn diese Begegnungen und Gespräche
hatten, auch wenn es nie darum ging, sondern immer um ein ernstes, meist
aktuelles Thema, jedes Mal auch einen feinen spirituellen Unterton. Der war
wahrscheinlich von Lehmann gar nicht intendiert, aber fehlte niemals – wie
das eben so ist bei Menschenfischern im besten Sinne des Wortes.
Mit seiner Lebensfreude, seinem immensen Charme und seinem Humor
versinnbildlichte Lehmann zwanglos das Beste, was die katholische Kirche
selten, sehr selten, aber eben doch manchmal noch zu vermitteln vermag:
dass die uralte Botschaft Jesu auch nach 2.000 Jahren immer noch eine
Botschaft der Freude und der Menschenfreundlichkeit ist. Gleich neben dem
Bischofsdom von Mainz gibt es eine Bäckerei, die seit Jahren „Lehmännsche�…
eine Art süßes Brötchen, wenn ich mich recht erinnere, verkauft. Ich
glaube, es gibt für einen Bischof kaum eine größere Ehre und Bestätigung
als diesen Ausweis neckender Zuneigung, ja Liebe.
Diese Liebe und Anerkennung hat sich Kardinal Lehmann sauer verdient, denn
sein halbes Leben war ein Kampf. Angefangen hat es 1936 in Sigmaringen in
ländlichen, recht einfachen, aber bildungsbürgerlich angehauchten
Verhältnissen. Der hoch begabte Junge Karl brillierte in katholischen
Schulen, wurde von Anfang an gefördert – und durfte schließlich an der
römischen Kaderschmiede Germanicum Theologie studieren.
Kardinal Lehmann erlebte das Konzil der Jahre 1962 bis 1965, das die Kirche
im großen und ganzen vom Mittelalter oder der Frühen Neuzeit in die Moderne
katapultierte, als Assistent von Karl Rahner. Der katholische
Jahrhundert-Theologe war peritus, also offizieller theologischer Berater
des Zweiten Vatikanischen Konzils – und natürlich pochte Lehmanns Herz für
Rahner und die Reformer. Dass die beim Konzil am Ende in fast allen
Bereichen die Oberhand gewannen, war ein großes Glück für ihn und für die
Kirche, vielleicht sogar für die ganze Welt. Denn die Kirche Roms ist mit
ihren heute rund 1,2 Milliarden Mitgliedern die größte Glaubensgemeinschaft
der Erde. Ein Lehrschreiben wie etwa „Laudato si“ von Papst Franziskus über
globale Umweltfragen kann Weltpolitik mit gestalten.
Allerdings ging es Kardinal Lehmann wie so vielen Menschen, die früh in
ihrem Leben etwas Neues, Großartiges und Bewegendes, ja atemberaubenden
Fortschritt erleben: Wenn es Rückschritte gibt, wenn die Feinde dieser
Zukunft alles zurück drehen wollen und damit oft auch Erfolg haben, dann
wird es bitter. Spätestens seit 1978, der Wahl von Karol Wojtyla zum Papst
Johannes Paul II., und bis zur Abdankung von dessen Nachfolger und engen
Mitarbeiter Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) 2013, war Kardinal
Lehmann in Rom in wichtigen Kreisen fast so etwas wie persona non grata.
In deren Augen war er eben der alte liberale Sack, der ihnen als Bischof
von Mainz und Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz (von 1987 bis
2008) das Leben schwer machte. Fast schon biblische Ausmaße hatte etwa kurz
vor der Jahrtausendwende das Ringen Kardinal Lehmanns zum Verbleib der
katholischen Beratungsstellen im staatlichen System der
Schwangerenkonfliktberatung. Papst Johannes Paul II. dekretierte:
Aussteigen, sonst verblasst die reine Lehre der Kirche, dass wir
Abtreibungen strikt ablehnen! Kardinal Lehmann dagegen argumentierte: Wir
müssen drin bleiben, sonst erreichen wir nicht mehr die Frauen, die sich
vielleicht doch für ihr Kind entscheiden! Aber Kardinal Lehmann beugte sich
nach hartnäckigem Kampf doch der Order aus dem Vatikan. Er war eben bis zu
seinem Lebensende auch dies: ein treuer Sohn seiner Kirche. Er konnte gar
nichts anderes sein.
Kardinal Lehmann war ein großer Theologe – seine Publikationsliste als
Professor der Theologie und auch später als Bischof von Mainz ist schier
uferlos, seine Hausbibliothek ein Gesamtkunstwerk unfassbaren Ausmaßes. Wer
je das Glück hatte, mit ihm an den Regalen mit seinen angeblich rund
100.000 Büchern entlang zu gehen, wobei Lehmann ab und zu mit sicherer Hand
ein Werk heraus griff und kurz den Inhalt referierte, der wird das nicht
vergessen. Am Ende war dieser Gang mit ihm mühsam, die Knie waren kaputt.
Kardinal Lehmann hat seine Gesundheit seiner Mission geopfert, am
Schreibtisch und am Altar. Oft Nächte lang.
## Das Brodeln nicht gehört
Wie anfangs angekündigt: Das ist kein Nachruf der „kritischen Distanz“ –
und er muss persönlich sein, alles andere ist belanglos. Kardinal Lehmann
hatte natürlich auch seine Fehler und machte Fehler – so hat er
beispielsweise das untergründige Brodeln des Missbrauchsskandals in der
katholischen Kirche vor 2010, als alles ans Tageslicht kam, nicht gehört,
wobei er damals auch nicht mehr Vorsitzender der deutschen
Bischofskonferenz war. Seine Lebensbilanz aber ist so eindeutig positiv,
dass es fast schäbig erscheint, noch mal alles zu erwähnen, was ihm nicht
glückte und wo er irrte. Es war nicht sehr viel.
Das späte Glück des Kardinal Lehmann war es, am Ende seines Lebens noch zu
erleben, wie Papst Franziskus wieder an das Konzil anknüpft – ja es um eine
lateinamerikanische, globale Sicht des 21. Jahrhunderts erweitert. Auch dem
jetzigen Papst glückt vieles nicht, auch er irrt in manchem. Aber die
Richtung stimmt, und auch er wird, wie Lehmann, dafür geliebt. Das ist kein
Zufall.
Vor knapp zwei Jahren hatte ich das letzte Mal die Möglichkeit, Kardinal
Lehmann in seinem Bischofshaus zu interviewen. Es war wie immer anregend
und heiter und schön. Und doch hatte ich die Ahnung: Es könnte das letzte
Mal sein, so gebrechlich, wie er schon wirkte. Vor dem Interview hatte ich
mir etwas irgendwie Verrücktes vorgenommen: Danach bitte ich ihn, mich zu
segnen – darum habe ich noch nie jemanden gebeten. Aber ich Idiot habe mich
am Ende nicht getraut. Ein kleines theologisches Buch hat er mir jedoch ein
paar Monate später noch geschickt. In der Widmung steht „Gottes Segen!“ Das
Buch liegt mir nahe am Herzen.
11 Mar 2018
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## AUTOREN
Philipp Gessler
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