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# taz.de -- Alltag im Gazastreifen: Zwischen Hammer und Amboss
> In Gaza drohen die Lichter auszugehen. Israel und Ägypten verschärfen die
> Krise. Auch der Machtkampf in den eigenen Reihen trägt dazu bei.
Bild: Protestaktion in einem Flüchtlingslager in Gaza gegen die Stromsperren A…
Gaza taz | Das Verwaltungshaus der UNRWA liegt im Zentrum der Stadt
Dschabalijah, an die ein Flüchtlingslager unmittelbar angrenzt. Dicht an
dicht stehen dort die drei- bis vierstöckigen Häuserreihen mit kaum einem
Meter Zwischenraum. Oft sind die obersten Stockwerke nur halb fertig
gebaut. Auf den Dächern stehen Wasserkanister, in die das Trinkwasser
gepumpt wird, wenn, was selten passiert, Wasser und Strom gleichzeitig
durch die Leitungen fließen. Auf unverputzten Mauern werden Teppiche
gelüftet. Die Straßen sind vermüllt. Ein durchgelaufener Schuh liegt dort,
leere Plastiktüten und eine Windel. An einer Straßenecke sitzen drei Frauen
auf Holzkisten und schlagen die Zeit tot.
80.000 Menschen leben im Flüchtlingslager von Dschabalijah. Genau hier
begann vor 30 Jahren die erste Intifada, der Volksaufstand der
Palästinenser gegen die israelische Militärbesatzung.
Die UNRWA, Abkürzung für Hilfswerk der Vereinten Nationen für
Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, unterhält Schulen und Kliniken für
die palästinensischen Flüchtlinge im Gazastreifen und Westjordanland, im
Libanon, in Syrien und in Jordanien. Waren es 1948 bei der ersten
Vertreibung nach Israels Staatsgründung 700.000 Menschen, die die UNO
versorgte, so wuchs die Zahl mit der zweiten Vertreibung nach dem
Sechstagekrieg 1967 an. Vor allem aber werden alle direkten Nachkommen von
Flüchtlingen ebenfalls als solche erfasst, was infolge der hohen
Geburtenrate dazu geführt hat, dass die UNRWA heute über 5,3 Millionen
palästinensische Flüchtlinge zählt. Nirgendwo sonst auf der Welt vererbt
sich der Flüchtlingsstatus von Generation zu Generation. Weder ihre eigene
Führung noch die Vereinten Nationen haben jemals nach einer Hilfe zur
Selbsthilfe für sie gesucht. Das Problem wird so verstetigt.
Die Menschen sind zum Nichtstun und zur Armut verdammt. Von ausländischen
Spenden zu leben gilt als völlig normal. Knapp drei Viertel der insgesamt
zwei Millionen im Gazastreifen lebenden Menschen sind Flüchtlinge oder
deren Nachkommen. Die große Mehrheit ist weitgehend auf die
Nahrungsmittelhilfen der UNRWA angewiesen.
## Neun Kilogramm Reis für drei Monate
Sharaf hat nur einen Sohn, was für den kinderreichen Gazastreifen sehr
ungewöhnlich ist. Die Ration der Familie umfasst für drei Monate: drei
Säcke Mehl mit jeweils 30 Kilogramm, neun Kilogramm Reis, drei Kilogramm
Zucker, sechs Liter Öl und 15 Dosen mit Fischkonserven. Dazu kommen
umgerechnet 120 Euro pro Monat Sozialhilfe, die die Palästinensische
Autonomiebehörde in Ramallah an den schon seit vielen Jahren arbeitslosen
Familienvater zahlt.
„Die Vereinten Nationen sind für die Flüchtlinge verantwortlich“, sagt
Sharaf. Wenn man in New York das Problem lösen würde, „bräuchten wir die
Hilfe nicht mehr“. Weder er selbst noch sein Sohn, der gerade Abitur macht,
hätten Aussicht auf eine Stelle. Ein Passant, der seinen Mehlsack auf einer
Handkarre nach Hause schiebt, hört das Gespräch und schüttelt
niedergeschlagen den Kopf. „Keine Arbeit, kein Leben“, sagt er.
Früher einmal durften zigtausende Palästinenser aus dem Gazastreifen zur
Arbeit nach Israel fahren, bis der Grenzverkehr schrittweise gestoppt
wurde. Israel versperrte die Tore aus Angst vor terroristischen Anschlägen,
und die Hamas erlaubt nur in Ausnahmefällen die Ausreise via Erez, den
streng bewachten Grenzübergang. „Israel sperrt uns ein“, schimpft Sharaf
mit heiserer Stimme und räumt ein, dass nicht allein den Besatzern die
Schuld für die Not der Menschen zuzuschreiben sei. „Wir hatten so große
Hoffnungen“, als die Nachricht von einer Einigung zwischen der Hamas in
Gaza und der im Westjordanland herrschenden Fatah bekannt wurde. Gerade
vier Monate ist es her, dass die beiden großen palästinensischen Bewegungen
die Streitaxt begruben. „Ich weiß nicht, warum die Versöhnung nicht
funktioniert“, sagt Sharaf ratlos.
Die Autonomiebehörde unter Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der
gleichzeitig Chef der Fatah ist, sollte im Zuge der Versöhnung die
Beamtengehälter wieder bezahlen, hieß es im letzten Oktober, und sie sollte
auch die Zuständigkeit für den Grenzübergang Rafah Richtung Ägypten
erhalten, der dann wieder geöffnet werden würde. Doch nichts davon ist
geschehen. Die Regierung in Kairo hielt sich nicht an das Versprechen, den
Übergang zu öffnen. Abbas hat noch immer nicht mit der Zahlung der
Beamtengehälter begonnen. Auch die einst von der Fatah angestellten rund
50.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Gaza bekommen seit Monaten
nur einen Bruchteil ihres Gehalts.
## Die Hamas gibt sich unschuldig für die Lage
„Wir haben alle unsere Verpflichtungen erfüllt“, sagt Abdel Latif al-Kanua,
Sprecher der Hamas. Aus Perspektive der Islamisten liegt der Ball im Feld
der Fatah. Kanua sitzt im Haus des Innenministeriums, dem seit dem Krieg
vor vier Jahren die komplette Frontseite fehlt. Die vordere Zimmerreihe ist
nach einem Luftangriff der israelischen Armee wie abgesägt. Nur das
Treppenhaus wurde notdürftig verputzt, und die hinteren Büroräume haben
neue Fenster. Kanua trägt ein Jacket über dem karierten Wollpullover. In
seinem Büro ist es kühl und duster. Schon am Vormittag fällt über Stunden
der Strom aus. Zwar zahlt die Autonomiebehörde in Ramallah seit einigen
Wochen wieder die Rechnungen für die Stromversorgung öffentlicher
Einrichtungen, trotzdem fließt der Strom nur sporadisch. Der
Versöhnungsprozess der beiden über zehn Jahre lang zerstrittenen Fraktionen
„geht langsam voran“, seufzt Kanua, der die Lage im Gazastreifen als
„miserabel“ bezeichnet. Die Schuld dafür gibt er allein der
Autonomiebehörde.
Was dem Gazastreifen fehlt, ist ein zahlungsfähiger und -williger Hausherr.
Die Autonomiebehörde zögert damit, die Rechnungen zu übernehmen, denn die
Hamas hat zwar offiziell die Verantwortung für die Versorgung der Bürger
Gazas abgegeben, de facto sind die Islamisten aber unverändert die Chefs.
Auf den Straßen prägen die schwarzen Uniformen der Hamas-Beamten das Bild.
Präsident Abbas hält die Gehälter der Beamten zurück, um den Druck auf die
Hamas zu verstärken.
Autonomiebehörde und Hamas sind die größten Arbeitgeber im Gazastreifen,
gefolgt von der UNRWA, die 13.000 palästinensische Mitarbeiter beschäftigt,
davon knapp 10.000 allein an den Schulen. In den Flüchtlingslagern können
alle Jungen und Mädchen Abitur machen, während im benachbarten Ägypten über
ein Drittel der Bevölkerung Analphabeten sind. Die palästinensische Jugend
ist gut geschult, aber das nützt ihr wenig. 70 Jahre nach Beginn des
Flüchtlingsproblems gibt es noch immer keinen wirtschaftlichen Masterplan,
keine Industrieanlagen und keine Ausbeutung der natürlichen Gasvorkommen,
die vor der Küste des Gazastreifens vermutet werden.
Die Angestellten der UNRWA gelten als privilegiert, viele haben
Dienstfahrzeuge, vor allem aber sind sie die Einzigen, die ihr volles
Gehalt beziehen. Noch. Denn US-Präsident Donald Trump reduziert die
Beitragszahlungen an die UN-Organisation. Washington trug bisher fast ein
Drittel der Kosten. Trump hat die Mittel um 65 Millionen US-Dollar gekürzt.
## Viele Läden müssen schließen
Schritt für Schritt gerät der dicht bevölkerte Gazastreifen in einen
Lähmungszustand. Noch vor wenigen Monaten war in dem Verkehrschaos der
Stadt Gaza kaum ein Durchkommen. Inzwischen sind viel weniger Privatwagen
unterwegs. Es dominieren die Dienstfahrzeuge der Hamas-Funktionäre, der
UNRWA, einiger Nichtregierungsorganisationen, Taxis, ein paar Motorräder
und Pferdewagen. Zwei von drei Läden bleiben geschlossen. Früher halfen
sich die Leute mit Generatoren, um Strom zu produzieren, nun kann sich kaum
noch jemand den Treibstoff leisten. Kleidung und Schuhe sind Luxusartikel
geworden. Grund für die erkennbar wachsende Armut ist, dass selbst die, die
Arbeit haben, nicht mehr bezahlt werden.
„Seit zehn Jahren lässt uns die Hamas bluten. Die politische Führung hat
versagt“, schimpft Mohammad Altaluli, der zusammen mit einer Gruppe von
rund 50 Künstlern gegen die Zustände protestiert. Er selbst schreibt
Gedichte. Guevara nennen ihn die Leute im Lager von Dschabalijah. Das Bild
des kubanischen Rebellen hängt an der Wand hinter Altalulis Schreibtisch
zusammen mit Nelson Mandela, Fidel Castro, Jassir Arafat und Scheich Ahmed
Jassin, dem Gründer der Hamas. „Alles Männer, die ihr Leben für den
Widerstand gaben“, erklärt Altaluli, der seinem größten Vorbild auffallend
ähnlich sieht. Wie Che Guevara trägt der 25-jährige Palästinenser einen
Vollbart und dunkle Locken, die er mit einer Sonnenbrille zurückhält, damit
sie ihm nicht ins Gesicht fallen. Er ist mager, scheint nur von Kaffee zu
leben und ab und zu einer Zigarette, wenn er sie sich leisten kann. „Früher
gab es Reiche und Arme im Gazastreifen“, sagt er. „Heute sind fast alle
arm.“ Nicht weniger als 170.000 Leute protestierten Anfang letzten Jahres
für mehr Strom, für Arbeit und offene Grenzen.
Sechs Mal hat die von der Hamas kontrollierte Polizei ihn seither zu
Verhören geladen. „Beim ersten Mal haben sie mir die Haare geschnitten“,
lächelt er bitter und zieht ein Foto hervor. „Das Frustrierendste ist, wenn
dich die eigenen Leute so behandeln.“ Auf dem Bild trägt er einen
Bürstenschnitt. Sein dritter Prozess steht unmittelbar bevor. „Missbrauch
sozialer Medien“, so lautet die Anklage. Altaluli nimmt kein Blatt vor den
Mund, wenn es darum geht, Hamas-Funktionäre zu kritisieren, die Einzigen,
„für die das Leben in Gaza aushaltbar ist“, wie er sagt. Die sozialen
Medien sind seine Bühne.
## Kaninchenzucht auf dem Dach
Altaluli ist der älteste Sohn von insgesamt 18 Geschwistern, das jüngste
ist gerade drei Jahre alt. Mohammads Vater verlor bei Auseinandersetzungen
mit israelischen Soldaten vor 25 Jahren ein Bein, kann seither nicht mehr
arbeiten und nahm sich trotzdem eine zweite Frau. Die Familie steht auf der
Liste der UNRWA und erhält regelmäßig Nahrungsmittelpakete. Die Männer
schlafen auf Matratzen im Wohnzimmer, für die Mädchen gibt es einen
Nebenraum, und auf dem Dach züchtet die Familie Kaninchen. „Die essen wir“,
sagt Sohn Mohammad und packt eins der Tiere am Kragen.
„Mustamera“, zu Deutsch: „Es geht weiter“, so nennt sich die Bewegung d…
jungen Palästinenser. Gemeint ist, dass „die Revolution weitergeht“.
Theaterleute, Maler, Dichter, Rapper und Karikaturisten gehören dazu,
„allesamt revolutionäre Künstler“. Altaluli pflegt sein Image als
Intellektueller. Er trägt eine Weste über dem karierten, bis zum Hals
zugeknöpften Hemd und ein dunkles Jackett. Auf seinem Schreibtisch stapeln
sich Bücher von Edward Said, dem palästinensischen Literaturprofessor, und
anderer palästinensischer Denker. Ohne die Hilfe der UNRWA wäre seine
Familie verloren, gibt er zu, aber die Nahrungsmittelhilfe verändere
nichts. Die Leute sehnten sich nach Kultur und Theater. „Wenn wir noch zehn
Jahre in diesem Gefängnis hocken, ohne Kultur, ohne Bildung, dann werden
wir explodieren und uns alle dem IS anschließen.“
Zehn Jahre sind eine beinahe noch rosige Perspektive im Vergleich zu einem
Bericht der Vereinten Nationen, der schon vor Jahren festhielt, dass der
Gazastreifen bis 2020 unbewohnbar sein würde. In zahlreichen Krankenhäusern
gilt bereits der Ausnahmezustand. Wegen Mangel an Treibstoff mussten „drei
Hospitäler und zehn Kliniken die Stromgeneratoren stoppen“, teilt das
palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza mit. Immer wieder kommt es
zu Streiks wegen der ausbleibenden Gehaltszahlungen. Das Pflegepersonal des
Schifa-Hospitals musste jüngst im Slalom mit den Betten um die Mülltüten
fahren, die das Reinigungspersonal stehen ließ, als es die Arbeit
niederlegte.
Die Organisation „Ärzte für Menschenrechte“ berichtet, dass die
Autonomiebehörde zwar „22 Lastwagenladungen mit Medikamenten, Instrumenten
und Babynahrung“ nach Gaza geschickt habe, trotzdem fehlten aber
„grundlegende Arzneimittel“. Der Umfang der Lieferung sei „unbedeutend,
angesichts der chronischen Mangellage“. Offensichtlich macht Präsident
Abbas die Hilfebedürftigsten und Kranken zum Joker in seinem Machtkampf mit
der Hamas. Das Gesundheitsministerium in Ramallah ist für die Versorgung
der Krankenhäuser in den gesamten Palästinensergebieten zuständig, also
auch im Gazastreifen. Dafür zahlt die Europäische Union jährlich Hunderte
Millionen Euro nach Ramallah.
## Die Bereitschaft zum Spenden sinkt
Bei der Al Falah, der größten Wohlfahrtsorganisation in Gaza, stehen die
Leute an für Nahrungsmittel oder Medikamente. „Wir helfen ohne Unterschied
“, sagt Projektleiterin Hala Ham. Es gibt Handarbeitskurse und
Nähmaschinen, und auch bei der Vermarktung hilft die Al Falah, die zudem
regelmäßig 2.000 Waisenkinder mit Nahrungsmittelpaketen versorgt. Viel mehr
sei im Moment kaum machbar, heißt es. „Wir können kaum zwei Prozent des
Bedarfs decken“, sagt Ham, eine schlanke, große Frau in schwarzem Kaftan
und mit fest anliegendem Kopftuch. Immer mehr Menschen bräuchten Hilfe, und
immer weniger Geld fließe in die Kassen.
„Die Motivation, für Gaza zu spenden, ist nicht mehr so groß wie 2014“,
nach dem Krieg mit Israel. „Wir tun, was wir können“, sagt die studierte
Pädagogin, die angesichts des wachsenden Elends mitgenommen wirkt. Die
Belagerung Gazas habe die Leute mürbe gemacht. „Unsere Jugend hat keine
Perspektive, kein Geld, um zu heiraten, kaum Nahrung für die Kinder.“
Logisch, so sagt es Ham, dass Ägypten die Grenze geschlossen hält. „Wenn
wir könnten, würden wir alle hier abhauen.“
26 Feb 2018
## AUTOREN
Susanne Knaul
## TAGS
Gaza
Hamas
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