# taz.de -- Videobeweis im Fußball: Verzögerte Ejakulation | |
> Der Videobeweis tötet das echte Erleben. Ihn mit dem Argument | |
> Gerechtigkeit zu begründen, ist ein Missverständnis. Zeit, ihn | |
> abzuschaffen. | |
Bild: Emotionen zurückgepfiffen. Im Stadion in Hamburg, September 2017 | |
Der Ball war im Tor, und ich fühlte nichts. Unfassbar. | |
Wenn du im Stadion bist, deine Mannschaft das 1:0 macht, und du spürst | |
nichts mehr, dann läuft etwas fundamental schief. | |
Früher genügte ein Sekundenbruchteilblick zum Schieds- oder Linienrichter, | |
dann überschwemmte einen das mit fulminanter Wucht daherkommende | |
Fußballgefühl. Riesige Freude, riesiger Ärger, Wut, Entsetzen. Das ist | |
vorbei, seit es in der Fußball-Bundesliga den sogenannten Videobeweis gibt. | |
Man kann sich aus dem Moment heraus weder freuen noch kann man sich ärgern, | |
weil man nicht mehr weiß, ob das eine Gefühl angebracht ist oder das | |
gegenteilige. | |
In einem Keller in Köln sitzt nämlich irgendjemand vor einem Fernseher, ein | |
sogenannter Videoassistent. Wir im Stadion sehen ihn nicht. Aber wir | |
wissen, dass er sich womöglich die gerade Vergangenheit gewordene Gegenwart | |
in Zeitlupe ansieht und dann dem Schiedsrichter über das Headset mitteilt, | |
dass die TV-Aufzeichnung seine Entscheidung zweifelhaft erscheinen lässt. | |
Kein Foul, doch Foul, Abseits übersehen, kein Abseits, Handspiel, kein | |
absichtliches Handspiel? Worauf der Schiedsrichter zum Spielfeldrand rennt, | |
sich das selbst am Fernseher noch mal anschaut und dann das Tor zurücknimmt | |
oder bestätigt. Die Idee folgt einem 2017er Wahlplakat der SPD: „Mehr | |
Gerechtigkeit für alle“ (Der Kandidat wurde übrigens abgewählt). | |
Diese Videoüberwachung des Schiedsrichters führt zu verschiedensten neuen | |
Sachproblemen, die in den Sportteilen der Zeitungen ausführlich behandelt | |
wurden. | |
## Das Auge sieht die Wirklichkeit anders | |
Weitreichender sind die Aspekte, die über den Fußball hinausgehen. Was ist | |
Wirklichkeit? Während man die Wirklichkeit von Abseits-, Seiten- oder | |
Torentscheidungen mit Fernsehzeitlupen relativ einvernehmlich klären kann, | |
sehen Fouls in Zeitlupe anders aus als in der Realität. | |
Einzelne Bilder sehen anders aus als die ganze Sequenz in der Realität. | |
Grundsätzlich: Das Auge sieht Wirklichkeit anders, als es die Zeitlupe | |
zeigt. Wir haben es mit anderen Bildern zu tun, aber nicht notwendigerweise | |
mit richtigeren. Die Zeitlupe ist nicht die Realität, darum geht es. Und | |
die Realität ist in vielen Fällen Auslegungssache. | |
Der Philosoph Markus Gabriel hat in seinem gleichnamigen Buch sehr präzise | |
zusammengefasst, „Warum es die Welt nicht gibt“. Es gibt meine Wahrnehmung | |
der Welt und deine Wahrnehmung der Welt, aber dahinter ist nicht so etwas | |
wie eine objektiv reale Welt. | |
So ist es auch beim Fußball. Es gibt die Welt des Schiedsrichters, die Welt | |
des Spielers, die Welt des Fans, die Welt des Fernsehzuschauers. Der | |
Freiburger Profi Çağlar Söyüncü wurde Ende Oktober in Stuttgart nach | |
Intervention aus dem Kölner Keller vom Platz gestellt, weil ihm beim | |
Verteidigen der Ball an die Hand gesprungen war. | |
In der Welt der Stuttgarter total gerecht, weil Söyüncü deutlich sichtbar | |
den Ball mit der Hand wegwedelte und damit eine Torchance verhinderte. In | |
der Weltsicht der Freiburger himmelschreiend ungerecht, weil er doch klar | |
vom Stuttgarter Gegenspieler geschubst wurde und eben keine Torchance | |
verhinderte. In der Welt des Schiedsrichters sah es zunächst so aus, dann | |
nach Blick in die Fernsehwelt anders, nach Spielende eher wieder so als | |
anders. | |
Kein Mensch kann sagen, wie es „wirklich“ war. | |
Der Schiedsrichter muss in seiner Welt leben, schauen und entscheiden und | |
nicht in einer anderen. Dort bekommt er eine anderen Blick, aber keinen | |
besseren, er kann keine richtige Entscheidung treffen, sondern nur eine | |
andere Fehlentscheidung. | |
Und damit zum fundamentalen Problem: Die angestrebte Gerechtigkeit läuft | |
nicht nur deshalb ins Leere, weil es sie nicht gibt. Sie widerspricht auch | |
den Bedürfnissen der Leute. Kein Mensch geht ins Stadion, um Gerechtigkeit | |
zu bekommen. | |
Der Mensch geht ins Stadion, um sich zu spüren. Was soll er mit einem „zu | |
Recht“ nicht gegebenen Tor für seinen Club anfangen? Ein „zu Unrecht“ ni… | |
gegebenes Tor für den Gegner dagegen ist sein großes Glück. Aber auch ein | |
„zu Unrecht“ zurückgepfiffenes Tor für sein Team gehört dazu, weil auch … | |
Gefühl des Pechs etwas ist, was man im Stadion intensiv wie kaum sonst wo | |
und dabei doch relativ gefahrlos erleben kann. | |
## Kafkaesker Raum | |
Die großen und bleibenden kollektiven Fußballgefühle werden auch durch | |
Ungerechtigkeitsgefühle konstituiert und ganz sicher nicht von der | |
Erfüllung eines Gerechtigkeitsbedürfnisses. Die Schwalbe von Rudi Völler, | |
die zum WM-Titel 1990 führte, war aus deutscher Sicht gerecht. Siege sind | |
immer gerecht. | |
Das dritte Tor der Engländer 1966 war eine Sauerei. Völlers Schwalbe ist in | |
Deutschland nie Thema gewesen, über das Wembley-Tor und den sowjetischen | |
Linienrichter regen sich heute noch Leute auf. Und nun noch eine Stufe | |
höher: | |
Der Mensch inmitten der Digitalisierung und globalisierten Warenströme und | |
Arbeitsplätze, der komplizierten und oft nicht mehr zu durchschauenden | |
politischen Macht- und Ordnungsverhältnisse. Jetzt wird auch beim Fußball | |
noch eine technologische Ebene der Scheinobjektivität eingezogen, die vor | |
allem den Stadionerlebenden vollends marginalisiert. Auch die | |
Entscheidungen in seiner Fußballwelt werden nicht mehr dort getroffen, wo | |
der Mensch ist, sondern irgendwo und für ihn unsichtbar in einem kafkaesken | |
Raum. | |
## Das Stadion wird entwertet | |
Zwar hat man an den Spielfeldrand den Fernseher gestellt, zu dem der | |
Schiedsrichter dann läuft, wenn er aus dem Bunker gesteuert wird, um | |
symbolisch zu bekunden, die letzte Entscheidung falle weiter im Stadion. | |
Aber das ist eine Illusion. Was kann denn der Schiedsrichter sehen, wenn | |
sein Überwacher ihm gesagt hat, er liege falsch? | |
Die ganze Videogerechtigkeitsnummer läuft auf Zuspitzung des Entertainments | |
für den TV-Kunden hinaus, dessen Produkt „Fernsehfußball“ eh schon stark | |
über die Frage verkauft wird, ob Schiedsrichter richtig oder falsch | |
entschieden haben. Das Ziel ist offensichtlich: Das Fernsehen soll nicht | |
mehr Medium sein, sondern unabdingbarer Teil des Spiels und mit ihm so | |
verschmelzen, dass es keinen Fußball ohne Fernsehbilder mehr gibt. | |
Das Stadion wird weiter entwertet und damit auch das Leben. Das ist die | |
Dystopie unserer digitalen Gesellschaft. Dass man im analogen Leben | |
irgendwann nur noch rumsitzt und darauf wartet, dass an einem unsichtbaren | |
Ort etwas passiert. Dass menschliche Teilhabe durch digitale Unterhaltung | |
abgelöst wird. Auch im Stadion starren schon immer mehr Leute unentwegt auf | |
ihre mobilen Kommunikationsgeräte, weil sie Angst haben, sich im richtigen | |
Leben zu langweilen und das Wichtigste zu verpassen. | |
„Frisst das virtuelle Leben jetzt das Fußballstadion als einen der letzten | |
Orte authentischer Erfahrung?“, fragt der Freiburger Fußballdenker Ulrich | |
Fuchs. | |
Genau das ist es, wenn das Spiel plötzlich ausgesetzt ist, alles stillsteht | |
– und auf der Anzeigentafel leuchten die Worte auf: „Video Assist“. Dann | |
weiß man womöglich nicht mal, worum es eigentlich geht. Man weiß nur: Jetzt | |
passiert etwas Entscheidendes, aber es passiert nicht mehr in meiner Welt. | |
Die Wartezeit aber wirkt wie ein Sedativum. Selbst wenn am Ende ein Tor für | |
das eigene Team steht, ist das für die Katz, weil es zwei Minuten später | |
keine großen Gefühle mehr gibt. „Auf den Rängen geht es um die kollektive | |
Verdichtung individueller Erfahrung, um Gewinnen oder Verlieren, Gelingen | |
oder Scheitern, Vertrauen und Verrat, kurz: ums Leben“, schreibt Fuchs. | |
Reines Glück und pure Verzweiflung in der Unmittelbarkeit des erlebten | |
Moments als Teil einer Gemeinschaft – das ist Fußball im Stadion. Fuchs: | |
„Der Videobeweis als Gefühlsblocker ersten Ranges ist ein Anschlag auf die | |
Unmittelbarkeit dieser Erfahrungen und damit aus Fanperspektive ein Angriff | |
auf das Wesen des Spiels.“ | |
Und deshalb denke ich, dass der Videobeweis abgeschafft werden muss. | |
9 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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