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# taz.de -- Die Wahrheit: Bestien in Demokratengestalt
> Kein Streit, keine Visionen, keine Alternativen? – Warum dieser Wahlkampf
> sehr wohl sehr spannend war und ist.
Alle meckern über den angeblich stinklangweiligen Wahlkampf. Ich aber
nicht, ich beobachte und bestaune eine der aufregendsten Kampagnen, die wir
jemals erleben durften. Erster Beweis: Die Bundeskanzlerin hat in eigener
Person und auf Befragen ausdrücklich mitgeteilt, dass sie diesen Wahlkampf
nicht langweilig findet. Na also! Außerdem war bis zuletzt völlig unklar,
ob überhaupt gewählt werden, ob die Kanzlerin tatsächlich eine Wahl
ansetzen würde. Wozu noch? Schließlich regiert Merkel schon seit 2005,
gefühlt sogar seit 1985, und das auch noch ununterbrochen – so dass sich
eine neuerliche und mit absehbarem Ergebnis veranstaltete Wahl, also
praktisch eine Scheinwahl, ziemlich erübrigte. Vielleicht will die
Kanzlerin ja einfach ganz gerne noch mal eine Amtszeit haben, in der sie
wenigstens einen Berliner Großflughafen eröffnen kann. Das darf sie, die in
ihrer erfreulich unaufgeregten Art die Verwaltung, wo nicht Verwesung der
eigenen Dauerpräsenz längst zur eigentlichen Chefinnensache gemacht hat,
jederzeit von uns verlangen.
Dennoch regt sich Widerstand im Land. Martin „Ich strebe an, Bundeskanzler
zu werden“ Schulz ist ein erprobter Kämpfer, ein Fighter, ja im Prinzip ein
Tier. Er hat sich von ganz unten nach ganz oben gerackert, von Würselen
nach Brüssel (145 km), hat sich vom einfachen Buchhändler ohne Abitur, nur
mit einem SPD-Parteibuch bewaffnet, bis zum Alkoholiker hochgearbeitet, vom
Provinzbürgermeister bis zum (quasi) Weltenherrscher im Parlament unseres
gemeinsamen Hauses Europa. Klar, dass so einer jederzeit Kanzler werden
kann, wenn er das nur will. Und der Wähler nicht blöd dazwischenfunkt.
Genialerweise ließ Schulz bis zuletzt offen, ob er nun, im tobenden
Endkampf, eher der CDU/CSU Paroli bieten will – oder ob er in einen viel
spannenderen und völlig offenen Kampf um Platz drei einsteigen wird, vulgo
gegen Grüne, Linke, AfD, FDP und die als Geheimtipp gehandelte
Veganer-Vegetarierpartei V-Partei³.
Bis zuletzt beschäftigte mich auch die Frage, ob sich der Posterboy der FDP
irgendwann doch noch ganz ausziehen würde – ob Christian „Digital first“
Lindner uns also nicht nur im kleinen Weißen, sondern, bis auf die an
höherer Stelle sprießenden Schamhaare, konsequent textilfrei
gegenübertreten würde. Bedenken second! Alle elf Minuten verliebt sich der
FDP-Chef in sich selbst, witzelt das Internet und verweist so
augenzwinkernd auf die Tatsache, dass Lindners Botschaft auch in diesem
Wahlkampf ganz er selbst ist. Falls er es mit seiner
fortschrittlich-liberalen Trümmerpartei tatsächlich ins Parlament schafft,
wird er Merkel (oder wem auch immer, Zwinkersmiley) ohne jeden Zweifel das
Amt des Bundeslindnerministers abschwatzen können.
Nächste Frage, die Wahllokale öffnen ja schon bald: Werden die Grünen, die
FDP des kleinen dummen Mannes, erneut in die Opposition gehen? Oder wird
die Fraktion geschlossen den Reichstag verlassen und ins gelobte grüne
Ländle, nach Baden-Württemberg remigrieren, um sich von Papa Kretsche in
genau die Vorstands- und Aufsichtsratsposten hieven zu lassen, in denen
grüne Politik „wirklich gelebt“ (C. Roth) werden kann?
Und wie viele Rechtsradikale werden im nächsten Bundestag sitzen, wenn man
die CSU nicht mitzählt? Wird dieser dann auch wieder offiziell „Reichstag“
heißen, so wie das um ihn herumstehende Gebäude? Wird Gauland als Gauleiter
entsorgt, wird Alice „Ich gehe jetzt“ Weidel im Falle einer
AfD-Regierungsbeteiligung das Amt der Reichsaußenministein erhalten? Doch
selbst wenn sie es nur zur Reichspropagandistin im Range eines
Staatssekretärs bringen sollte – ihr Amt will sie in jedem Fall vorzeitig
verlassen, wahrscheinlich schon nach dreißig Minuten oder der ersten
Fake-Frage eines Journalisten der linksversifften Lügenpresse.
Die spannendsten Fragen werden sowieso erst nach der Schließung der
Wahllokale gestellt werden: Wurde auch dieser Wahlkampf aus dem russischen
Ausland gesteuert? Wie lange wird es dauern, bis rauskommt, dass der
CDU-Paladin Jens Spahn in Wirklichkeit ein von den Russen gesteuerter
Social Bot ist, der nur darauf programmiert wurde, auf die Hashtags
#parallelgesellschaft, #talkgerman, und #muttimussweg zu reagieren?
Und wenn wir schon bei den unbequemen Fragen sind: Wird die Demokratie
tatsächlich an der erschütternden Tatsache zugrunde gehen, dass auch Die
PARTEI auf den Wahlzetteln steht – wie dies zuletzt von praktisch allen
Wahlkommentatoren festgestellt wurde? Wobei die größte Gefahr für die
Demokratie gar nicht der PARTEI- oder gar Nichtwähler ist, sondern der
Wechselwähler. Diese Bestie in Demokratengestalt degradiert letztlich die
postwestdeutsche Demokratie Merkelscher Prägung zum schieren Experiment,
zum Vabanquespiel, ja zur – sprechen wir’s aus – zur Anarchie. Alle
Statistiker hassen den Wechselwähler. Er ist undurchschaubar,
unberechenbar, unsympathisch und eine fundamentale Bedrohung jeder
ordentlichen Wahlprognose.
Ohne Wahltrends und Umfragen jedoch bräche der Demokratiemarkt zusammen,
die Statistiker könnten einpacken, Studios stünden leer, ganze Umfrageteams
würden in die Wüste geschickt; Wahlbeobachter hätten nichts zum Angucken,
ein Lumpenheer von Leitartiklern, Kommentatoren und Internettrollen irrte
durch dieses unser Land, in dem wir doch alle „gut und gerne“ leben sollen.
Wer ist dieser Wechselwähler überhaupt, diese stinkende Dieselversion des
sauberen Nicht-, Protest- oder Dennochwählers? Helmut Kohl sprach in
schlecht gespielter Ehrfurcht immer vom „obersten Souverän“ – einer
mächtigen Institution, der man mit Respekt und Ehrlichkeit begegnen solle.
An Ehrlichkeit zumindest ließ es Kohls politischer Großvater Konrad
Adenauer nicht mangeln, als er nach der ersten Bundestagswahl 1949 das
geheimnisvolle Wesen des Souveräns näher beschrieb: „Der
Durchschnittswähler denkt primitiv, und er urteilt auch primitiv.“
Der Wahlkampf ist ein zermürbender, aber heftiger Liebesakt der Politik mit
dem Volk: Auf ein endloses Werben, Bezirzen und Umgarnen folgt ein kurzer,
in seinem nüchternen mathematischen Resultat oft genug enttäuschender
Höhepunkt. Jedenfalls ist der Orgasmus in Relation zu dem ziemlich langen
und klebrigen Vorspiel von rund sechs Monaten erschütternd kurz. Er dauert
von der ersten Prognose um zehn nach Sechs bis ca. 18.25 Uhr, dann steht
meist schon alles fest. Bis dahin aber bleibt es spannend wie noch nie.
23 Sep 2017
## AUTOREN
Oliver Maria Schmitt
## TAGS
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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