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# taz.de -- Regieren im Ausnahmezustand: MIT allen Mitteln
> Warum der Geheimdienst MIT nun dem türkischen Staatspräsidenten
> unterstellt ist und was das zu bedeuten hat – Gastbeitrag von Baha
> Güngör.
Bild: Güldene Zeiten: Geheimdienstchef und Staatschef vereint
Das Setting könnte nicht erstklassiger sein: das Kongress- und
Kulturzentrum im Präsidialpalast von Recep Tayyip Erdoğan erinnert an das
Ambiente eines Opernhauses. Der Hauptdarsteller auf der Bühne ist der
Präsident der Türkei und in Personalunion Orchesterchef, Tenor und
Regisseur des Abends.
In der Nebenrolle als fragender Journalist steht ihm Oğuz Haksever zur
Seite. Als langjähriger Moderator bei NTV, einem regierungsfreundlichen
Privatsender, stimmt er die rund 2000 Bürger*innen auf zwei Balkonebenen
und Parterre auf das Interview mit dem „Reis“, dem großen Meister, ein. Und
der Meister genießt sichtlich den Applaus des Publikums.
Das Interview, das am 25. August vom Staatssender TRT übertragen und allen
anderen loyalen TV-Anstalten kostenlos zur Verfügung gestellt wird, dauert
knapp zwei Stunden. Evaluiert werden die ersten drei Jahre von Erdoğans
Zeit als Staatspräsident der Türkei. Zwischenfragen, Nachhaken oder gar
eine Diskussion mit dem „Reis“ der Republik gibt es nicht.
Am Ende wird sich Erdoğan bedanken und sein Volk darum bitten, für ihn zu
beten und mit ihm gemeinsam in die Zukunft zu marschieren.
## Faktisch wird die Türkei schon präsidial regiert
Erdoğan setzt seine Pläne für das Land am geographischen Rand Europas –
umgeben von Konfliktherden und Bürgerkriegen an seinen Grenzen – Schritt
für Schritt um. Die Türkei wird faktisch nicht mehr nach den Regeln der
parlamentarischen Demokratie regiert. Das Präsidialsystem ist dank vieler
Dekrete mit Gesetzeskraft seit dem ominösen Putschversuch vom 15. Juli 2016
bereits eingeführt worden.
Die Neuwahlen für das Amt des Präsidenten und des Parlaments, welche in
zwei Jahren anstehen, könnten bereits jetzt für überflüssig erklärt werden.
Spannend ist, ob diese Wahlen auf 2018 vorverlegt oder gar auf unbestimmte
Zeit vertagt werden.
Ausgeschlossen ist nichts, solange es den Ausnahmezustand und das
Instrumentarium des Regierens mit Dekreten gibt. Eine demokratische
Legitimation seines Tuns könnte auch nach hinten losgehen, wenn Erdoğan
sein Hauptziel nicht erreicht, ergo die 50 Prozent plus eine Stimme nicht
schafft.
## Der Geimdienst ohne Kontrolle
Vor allem das Dekret mit der Nummer 694 vom 25. August zeigt, wie sehr sich
die Türkei von der demokratischen Gewaltenteilung entfernt hat. Auf
insgesamt 58 Seiten mit 205 Paragraphen wird der Geheimdienst MIT(“Millî
İstihbarat Teşkilatı“, Nationaler Geheimdienst), direkt dem
Staatspräsidenten untergeordnet. Im Interview rechtfertigt der Machthaber,
dadurch werde die Mobilität in der Staatsführung gewährleistet.
Das sei in den USA so und in Frankreich auch. Damit er die richtigen
Schritte einleiten könne, sei der MIT nur ihm gegenüber verantwortlich und
müsse geheimdienstlichen Erkenntnisse ihm direkt zur Verfügung stellen.
Christian Rumpf, Anwalt mit Expertise im türkischen Verfassungsrecht, ist
der Auffassung, dass Erdoğan sich bei seinen Hinweisen auf Frankreich und
die USA gewaltig irre: „Der französische Präsident hat keinen Einfluss auf
die Geheimdienste seines Landes. Das ist ein ganz wichtiger Faktor im
System der Checks und Balances in Frankreich.
Auch in Bezug auf die USA irrt sich der türkische Präsident. Der
US-Präsident könne zwar dem CIA Weisungen erteilen. Doch untersteht der CIA
der Kontrolle des Senats. Alle Personalentscheidungen auf diesem Gebiet
müssen beispielsweise durch den Senat bestätigt werden.“
## „Die Opposition hat nichts mitbekommen“
Bei dem Referendum über die Verfassungsänderungen am 16. April 2016 habe
das Volk den Übergang zum Präsidialsystem mit 51,4 Prozent der Stimmen
bestätigt, so Erdoğan im Interview. Mit den nächsten Parlaments- und
Präsidentenwahlen im November 2019 werde das Präsidialsystem endgültig
sein.
„Nur in parlamentarischen Demokratien sind die Geheimdienste dem
Ministerpräsidenten untergeordnet. Wir befinden uns inzwischen im
präsidialen Regierungssystem. Die Opposition ist noch immer nicht im
präsidialen Regierungssystem angekommen“, sagt Erdoğan über seine
politischen Gegner.
Dass der Geheimdienst MIT künftig auch innerhalb der Armee recherchieren,
das Personal in den Ministerien überwachen und die Ergebnisse nur Erdoğan
mitteilen wird, wird nicht thematisiert. Auch etwaige Ermittlungen gegen
den MIT-Chef mit der Funktion eines Staatssekretärs beim Präsidenten müssen
von Erdoğan abgesegnet werden.
## Die Sonne der Wahrheit geht auf
Haksever bemüht sich um den Anschein journalistischer Neutralität, bringt
auch Kritik aus den Reihen der Opposition oder aus der Gesellschaft zur
Sprache. Mit der Formel, „was sagen Sie dazu“, welches er an das Ende einer
solchen Frage anhängt, gibt er dem Präsidenten ein verbales Sprungtuch für
seine Art der Argumentation. So auch bei der Frage, ob es überhaupt keine
Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Ministerpräsident Binali
Yıldırım gebe.
Erdoğan bekräftigt, dass „nur aus der Kollision von gegensätzlichen
Meinungen die Sonne der Wahrheit“ aufgehen könne. „Wo es keine
verschiedenen Meinungen gibt, gibt es auch Fehler“, sagt der Staatschef.
Kein Wort darüber, dass es in spätestens zwei Jahren kein Amt des
Ministerpräsidenten mehr geben wird.
Von Erdoğan ist bekannt, dass er die Türkei als Rechtsstaat und als eine
Hochburg der Presse- und Gedankenfreiheit viel weiter als die meisten
Staaten Westeuropas sieht. Seine Erklärung, er habe eine „Operationsbasis“
im Präsidialamt einrichten lassen, in dem alle Informationen aus 81
Provinzen des Landes zusammenlaufen, zeigt, dass er das ganze Land rund um
die Uhr zu kontrollieren wünscht.
## Der ständig besorgte Familienvater
Er mache unangemeldete Besuche bei seiner „Operationsbasis“ und informiere
sich aus erster Hand über die jüngsten Entwicklungen in allen Landesteilen,
mit der Mimik und der Körpersprache eines ständig um das Wohl seiner
Familie besorgten Familienvaters.
Gegenwärtig gibt es viele kleine Hinweise, dass es die „neue Türkei“, wie
von Erdoğan längst angekündigt, schon längst existiert. Über dem
Haupteingang des Geheimdienstgebäudes im Bezirk Yenimahalle in der
Hauptstadt Ankara steht nun : „T.C. Cumhurbaşkanlığı MİT Müsteşarlığ…
(Staatssekretariat des MIT beim Amt des Präsidenten der türkischen
Republik).
Erdoğan mag es nicht, als Diktator bezeichnet zu werden. Das lehnt er
kategorisch ebenso ab wie die Meinung über ihn, dass er jegliche
Bodenhaftung verloren habe. Er ist, bislang zumindest, demokratisch
legitimiert da, wo er ist.
Wenn er wollte, könnte er eine Diktatur mit Links und per Dekret errichten.
Könnte? Er hat es schon gemacht, aber nur 50 Prozent des türkischen Volkes
hat das mitbekommen.
Im September erscheint von Baha Güngör: [1][“Atatürks wütende Enkel – D…
Türkei zwischen Demokratie und Demagogie“] im Dietz Verlag.
5 Sep 2017
## LINKS
[1] http://dietz-verlag.de/isbn/9783801205119/Atatuerks-wuetende-Enkel-Die-Tuer…
## AUTOREN
Baha Güngör
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