# taz.de -- Bildung in der Türkei: Dschihad statt Republikgründung | |
> Die AKP-Regierung legt einen neuen Lehrplan vor. Nach den Sommerferien | |
> lernen die Schüler*innen dann über den Propheten oder die Putschnacht. | |
Bild: Der neue Lehrplan sei eine „Kampfansage gegen Wissenschaft und Aufklär… | |
Die vielleicht weitreichendste Lehrplanänderung der Türkei hat | |
Bildungsminister Ismet Yılmaz kleingeredet. Es handle sich um eine simple | |
„Vereinfachung“ des aktuellen Bildungsprogramms, sagte der AKP-Politiker. | |
Dabei ist das, was Yılmaz vor zwei Wochen auf einer Pressekonferenz in | |
Ankara vorgestellt hat, ein bedeutender Schritt für die Regierung von | |
Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Durch den neuen Lehrplan wird der Laizismus | |
in der Türkei weiter zurückgedrängt – zugunsten „religiöser“ und | |
„nationaler“ Inhalte. | |
## Evolutionstheorie gestrichen | |
So steht es in dem alle Fächer umfassenden neuen Lehrplan, an dem das | |
Bildungsministerium nach eigenen Angaben seit 2005 arbeitet. Er sieht eine | |
reduzierte Stundenzahl in Naturwissenschaften, Philosophie und Kunst vor, | |
ganze Themenblöcke wie die Evolutionstheorie kommen darin nicht mehr vor. | |
Die Begründung: Die Schüler*innen verfügten nicht über die ausreichende | |
„philosophische Sachkenntnis und Kompetenz“. | |
Auch laizistische Inhalte wie beispielsweise die Gründung der | |
kemalistischen Republik wurden gestrichen. Künftig sollen die jungen | |
Türk*innen weniger über den in der Türkei all präsenten Staatsgründer Kemal | |
Atatürk lernen, sondern mehr über – Erdoğan und die jüngsten Ereignisse d… | |
türkischen Geschichte. | |
Die Lehrplanänderungen, sagt Bildungsminister Yılmaz auf der | |
Pressekonferenz, entsprechen den Plänen der AKP-Regierung. Und die hat in | |
Bildungsfragen längst die laizistische Haltung aufgegeben, wie die gezielte | |
Stärkung der religiösen Imam-Hatip-Schulen sowie die Einführung des | |
verpflichtenden Religionsunterrichts zeigen. | |
## Stärkung der Religion in der Bildung nicht neu | |
Im Jahr 2012 führte die AKP-Regierung das umstrittene 4+4+4 Schulsystem | |
ein. Mit der neuen Schulregelung war es nun möglich, nicht erst nach der | |
achten, sondern bereits nach der vierten Klasse eine Imam-Hatip-Schule zu | |
besuchen. Deren Hauptaufgabe besteht darin, religiöse Geistliche | |
auszubilden. Inzwischen werden Imam-Hatip-Schulen in der konservativen | |
Bevölkerung als Regelschulen bevorzugt. | |
Dem Bildungsministerium zufolge sie die am meisten wachsende Schulart. Die | |
Schülerzahlen stiegen von 95.000 (2012–13) auf knapp 660.000 (2016–17). | |
Aktuell gibt es 1.149 Imam-Hatip-Schulen, 976 wurden seit 2002 neu | |
gegründet und 109 Gymnasien in solche umgewandelt. | |
Diesen Kurs verstärkt der neue Lehrplan, der nach den türkischen | |
Sommerferien im September gelten soll. Ein zentraler Bestandteil, der in | |
alle Fächer in den Unterricht eingebettet wird: die Ereignisse rund um die | |
Putschnacht des 15. Juli. In sämtlichen Unterrichtseinheiten, in denen | |
Demokratie ein Thema ist, lautet fortan der Schwerpunkt „15. Juli und der | |
Tag der nationalen Einheit“. | |
## Aufsätze über die Märtyrer der Putschnacht | |
Und im Fach Türkisch müssen künftig alle Schüler*innen einen Aufsatz mit | |
dem Titel „Der Sieg der Demokratie und die Märtyrer des 15. Juli“ | |
schreiben. Dort, wo bislang über Atatürk und die Anfänge der | |
Republiksgründung gesprochen wurde, steht nun verstärkt die osmanische | |
Geschichte auf dem Stundenplan. | |
Eine Stärkung der osmanischen Identität hat Präsident Erdoğan schon | |
häufiger gefordert. Zuletzt sagte er während der Feierlichkeiten zum 19. | |
Mai, dem Nationalfeiertag in Gedenken an Atatürk: „Sie lehrten uns eine | |
Geschichte der Unterlegenheit und Primitivität, sie gaben uns eine | |
armselige Vergangenheit. Sie verwehrten uns die Kenntnis über unsere ruhm- | |
und glorreiche Vergangenheit. Wir wünschen mit dem neuen Lehrplan eben | |
diese ruhm- und glorreiche Geschichte in die Geschichtsbücher | |
niederzuschreiben.“ | |
Für die neuen Schulbücher bedeutet das nicht nur, die osmanische | |
Vergangenheit in rühmenden Licht darzustellen. Niederlagen kommen in der | |
Erzählung des ungeschlagenen osmanischen Reiches nicht mehr vor. Und mit | |
der Rückbesinnung auf das Osmanische Reich wird auch ein anderer Bereich | |
aufgewertet: die Religion. | |
## Kein Matheunterricht ohne Dschihadkenntnisse | |
Künftig wird es an Schulen ein neues Unterrichtsfach namens „Wertekunde“ | |
geben. Dazu gehören religiöse Unterrichtseinheiten wie etwa „Halal, Haram, | |
Rechte der Gläubigen“, die über islamische Grundbegriffe aufklären. Oder | |
„Krieg und Dschihad“, eine Unterrichtseinheit, von dem sich das | |
Bildungsministerium offensichtlich viel verspricht. | |
„Es ist eine Bereicherung, dass unseren Kindern ein erstklassiger Begriff | |
vom Dschihad vermittelt wird“, so Bildungsminister Yılmaz. Der Istanbuler | |
AKP-Abgeordneter Ahmet Hamdi Çamli, Mitglied des Bildungsausschusses im | |
Parlament, pflichtete der Aussage des Bildungsministers bei und fügte | |
hinzu: „Es hat keinen Sinn, einem Kind ohne Kenntnisse über den Dschihad, | |
Wissen über Mathematik zu vermitteln.“ | |
Zur Wertekunde gehören aber nicht nur Themen wie „Gebete im Alltag“, | |
„Fasten im Ramadan“ und „Liebe zum Propheten“. Sondern auch die Einordn… | |
jüngerer politischer Ereignisse. Die Gezi-Protestbewegung in Istanbul wird | |
darin als Machenschaft von in- und ausländischen Mächten dargestellt, die | |
Gülen-Bewegung als als Terrororganisation, die für den Putschversuch | |
verantwortlich ist. | |
## Strittige Religionsstiftung | |
Wie sehr die Religion aufgewertet wurde, zeigt nicht nur die erhöhte | |
Stundenzahl des Schulfaches. Sondern auch, dass „religiöse Aktivitäten“ | |
auch in den Fächern Philosophie, Musik, Geografie und Weltgeschichte | |
integriert werden sollen. Es ist die Handschrift der Religionsstiftung | |
Ensar, die am neuen Lehrplan mitschrieb. Die konservativ religiöse Stiftung | |
engagiert sich vorrangig im Bildungssektor und steht ideologisch der AKP | |
nahe. | |
Als die Stiftung im vergangenen Jahr wegen eines Missbrauchsfalls in einem | |
von ihr geführten Schülerwohnheim in der südostanatolischen Provinz Karaman | |
in der Kritik stand, verteidigten sie Familienmitglieder Erdoğans, die in | |
enger Verbindung mit der Religionsstiftung stehen. | |
Über den neuen Lehrplan gibt es wenig Diskussionen. Lediglich | |
Bildungsgewerkschaften kritisierten den Lehrplan öffentlich. Die | |
Gewerkschaft Eğitim-Bir kritisierte den Lehrplan als „Kampfansage gegen | |
Wissenschaft und Aufklärung“, der wenig mit Bildung zu tun habe. | |
## Kritik der Bildungsgewerkschaften | |
„Der Lehrplan“, heißt es in der schriftlichen Stellungnahme einer anderen | |
Gewerkschaft (Eğitim Iş) „spiegelt direkt oder indirekt die politischen | |
Ansichten der AKP wider, erinnert bei jeder Gelegenheit an den | |
Putschversuch, dabei erhalten religiöse Themen mehr Gewicht, während | |
naturwissenschaftliche Themen reduziert und der Begriff des Kemalismus in | |
den Schatten gerückt werden.“ | |
Auch der Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen, Feray Aytekin | |
Aydoğan, kritisierte den neuen Lehrplan. Er habe wenig mit dem Begriff | |
Wissen zu tun und sei ganz ohne die Beteiligung der Bildungs- und | |
Lehrergewerkschaften erstellt worden. | |
Das Bildungsministerium wiederum behauptet, dass die Ergebnisse einer | |
Studie mit mehr als 100.000 Befragten in den Lehrplan eingeflossen sei. | |
Allerdings wird nirgends aufgeschlüsselt, was genau diese Umfrage ergeben | |
hat – und in und in welcher Form sie konkret im neuen Lehrplan umgesetzt | |
wurde. | |
## Gezielte Homogenisierung der Bevölkerung | |
Prof. Dr. Nejla Kurul, ehemalige Lehrbeauftragte für Bildungswissenschaften | |
an der Universität in Ankara, ist sich sicher: Die Regierung will mit dem | |
auf islamistische Werte basierenden Lehrplan eine „ganz bestimmte Ideologie | |
implementieren und verbreiten“. Dadurch solle die Bevölkerung weiter | |
homogenisiert werden. | |
Kurul wurde aus dem Staatsdienst entlassen, weil sie vergangenes Jahr die | |
Forderung der „Academics for Peace“ unterzeichnete, den Krieg der Regierung | |
gegen die kurdische Bevölkerung im Osten der Türkei zu beenden. Sie glaubt, | |
dass die Regierung über eine religiöse Bildung und Gehorsam „neue Menschen�… | |
schaffen will, die nicht selbst denken müssen. | |
Der neue Lehrplan, fürchtet Kurul, könnte das hervorbringen, was Kritiker | |
dem Präsidenten Erdoğan schon lange als Wunsch unterstellen: eine | |
hasserfüllte und religiöse Generation. | |
1 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Ezgi Karataş | |
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