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# taz.de -- Erfindung von Feiertagen: Wie hätten Sie Ihre Tradition denn gern?
> Nationalhymne beim Fußball, Woche der „Heiligen Geburt“. Viele Rituale,
> die wir für steinalt halten, sind eigentlich sehr jung. Wieso also nicht
> den 15. Juli feiern?
Bild: Selfie am neuen Märtyrer-Mahnmal
Das Gymnasium, das ich absolvierte, wurde 1983 gegründet. Doch als ich der
Schule letztens einen Besuch abstattete, hatte man das Gründungsdatum auf
1850 zurückverlegt. Dabei stand im Zentrum des Schulwappens, das ich mir
auf meine Uniformjacke hatte nähen lassen müssen, felsenfest die Zahl 1983.
Als ich dort zur Schule ging, hatten wir ein Ehemaligentreffen, zu dem
stets ein karges Reisgericht gereicht wurde, und ein Fest, auf dem
Schülerbands auftraten, mehr nicht. Aber jetzt, wo unsere Schule das
Gründungsdatum 1850 bekommen hat, gibt es anstelle des Schulfestes ein
traditionelles Fastenbrechen im Garten und Festivitäten zum Bayram.
Ist es nicht interessant, dass ein heutiger Schüler dieses Gymnasiums davon
ausgehen wird, dass die Fastenbrechen im Garten und Bayram-Zeremonien seit
1850 ununterbrochen stattfinden, obwohl sie noch vor zehn Jahren unbekannt
waren?
## Massakrierte Hymne
Der unlängst verstorbene Historiker Eric Hobsbawm führte in seiner
Einleitung zum Band „The Invention of Tradition“ aus, wie eine Vielzahl von
Traditionen und Rituale in sehr viel jüngerer Zeit durchgesetzt wurden, als
gemeinhin über sie behauptet wird – und als wir denken.
Zum Beispiel wissen die meisten Fußballliebhaber*innen, dass in der Türkei
vor jedem Ligaspiel die Nationalhymne gesungen wird. Diese Zeremonie wirkt,
als müsse sie so alt sein wie die Fußballliga selbst. In Wirklichkeit wurde
sie erst in den 1990ern eingeführt, und zwar ausgehend von den Fans auf den
Tribünen, die die Hymne zu singen begannen.
Klar, unsere Nationalhymne ist recht anspruchsvoll zu intonieren, und ihre
Prosodie ein wenig problematisch. Im Volksmund heißt es etwa nicht:
„Fürchte nicht! Es wird nicht erlischen…“, sondern „Es fürchtet nicht…
wird nicht erlischen“ (gemeint ist die Morgenröte der türkischen Fahne,
A.d.Ü.). Da die spontan lossingenden Fans die Hymne massakrierten, wird sie
nunmehr stets vom Band eingespielt. Damit wurde die Nationalhymne zum
festen Bestandteil der offiziellen Zeremonie zum Anpfiff eines jeden
Spiels.
## Erster Geburtstag nach 1400 Jahren
Ungefähr zur gleichen Zeit setzte sich eine Tradition durch, die es in
dieser Form weder in der Geschichte des Islam, noch in einem anderen
muslimischen Land gibt: Die Woche der Heiligen Geburt, interessanterweise
als fest wiederkehrendes Ereignis im Solarkalender. Gefeiert wird ein
Geburtstag, der vor rund 1400 Jahren war, aber seltsamerweise begann man
mit dem Feiern erst nach rund 1400 Jahren.
Während sämtliche religiösen Feiertage nach dem islamischen Lunarkalender
festgelegt sind, richtet sich die Woche der Heiligen Geburt nach dem
gregorianischen Kalender, der seinen Namen von Papst Gregor XIII. hat. Es
hilft nicht unbedingt, dass seit Jahren die Behauptung kursiert, die
Festivität sei nicht etwa eingeführt worden, um den Geburtstag des
Propheten des Islam zu begehen, sondern zur Feier des Geburtstags Fethullah
Gülens, der nun einmal in diesen Zeitraum fällt.
Dabei ist es durchaus verständlich, wenn Staaten, Institutionen oder gar
Privatfirmen solche Traditionen erfinden, um ihre Legitimität zu
zementieren und ihren Angehörigen Grund zum Stolz zu geben oder sie
schlicht glücklich zu machen.
## Nicht alle Rituale bleiben für immer
Andererseits ist es alles andere als ausgemachte Sache, ob die im
Nachhinein durchgesetzten Traditionen auch auf ewig bleiben. Nach dem
Militärputsch vom 27. Mai 1960 übernahm das Komitee für Nationale Einheit
die Staatsmacht und erklärte den 27. Mai zum Feiertag: Dem Tag der Freiheit
und der Verfassung. Heute weiß niemand mehr, dass es so etwas einmal gab.
Das Juntaregime, das mit dem Militärputsch vom 12. September 1980 an die
Macht kam, bescherte uns hingegen den „Lehrertag“ am 24. Oktober. Er wurde
(weil unsere Lehrer schlau sind, oder weil sie gern unverzichtbar sind) zu
einer Tradition, die aufzuheben man nicht vorschlagen können wird, ohne
Nasenrümpfen hervorzurufen.
Ganz ehrlich: Sollte ich einmal sagen: „Der Lehrertag ist ein Überbleibsel
des Juntaregimes und gehört abgeschafft!“, so wäre die wohlwollendste
Reaktion wahrscheinlich: „Du hast Probleme!“ Ich bin selbst Kind einer
Lehrerin, und sie würde mir wahrscheinlich ihren Pantoffel an den Kopf
werfen.
Kurz gesagt: Es ist normal, dass jedes Regime Gedenktage, Feiertage und
Traditionen ausruft, um an seiner Legitimität zu basteln. Der 23. April,
der 19. Mai, der 30. August und der 29. Oktober sind als türkische
Nationalfeiertage natürlicherweise Produkte des Regimes der
Republikgründer.
## Wer nicht will, macht krank
In den USA ist es der 4. Juli, in Deutschland der 3. Oktober, in Frankreich
der 14. Juli. Sie verweisen auf historische Wendepunkte, die von jedem Volk
andauernd erinnert und gefeiert werden müssen. Ähnlich wie an unserem 29.
Oktober geht es an nämlichen Tagen in den betreffenden Ländern hoch her,
denn gefeiert wird so etwas wie die Geburtstagsparty des Landes.
Und diejenigen, die Probleme mit dem jeweiligen Regime haben, ziehen es
vor, diese Tage nicht zu feiern, selbst wenn sie Regierungsmitglieder sind.
Mangelt es an Mut, täuschen sie zu jedem missliebigen Feiertag eine
Krankheit vor. Wenn sie stark genug sind, oder wenn es einen Regimewechsel
gegeben hat, sorgen sie dafür, dass die Feiertage des „alten Regimes“ immer
unwichtiger werden und auch das Volk sie nicht mehr feiert oder feiern
darf.
Wenn ein neuer Feiertag oder Gedenktag oder gar eine Gedenkwoche eingeführt
wird, ist das logischerweise erst einmal eine Novität. Die mag zunächst
aufstoßen, aber wie Hobsbawm ausführt, werden sie irgendwann einmal so
wahrgenommen, als hätte es sie schon immer gegeben. Zumindest so lange, wie
die Regime sich halten können, die diese Feier- und Gedenktage erfinden.
In der Türkei haben wir jetzt einen neuen Feiertag. Der 15. Juli ist der
Tag der Demokratie und Nationalen Einheit geworden. Der 15. Juli ist im In-
und Ausland mit Zeremonien und Empfängen zu begehen. In den letzten Jahren
ist viel die Rede von der Neuen Türkei gewesen, die unter den Händen der
AKP entsteht. Der 15. Juli soll zum Gründungstag der Neuen Türkei gemacht
werden.
## „Tag der Türkischen Spaltung“?
Zu dieser nagelneuen Tradition, zum Tag der Demokratie und Nationalen
Einheit am 15. Juli herzlichen Glückwunsch und alles Gute uns allen. Auf
der einen Seite finde ich das wirklich wichtig. Ich denke wirklich, dass
die Erinnerung an den 15. Juli letzten Jahres in uns allen wachgehalten
werden sollte. Vielleicht mit eigenen Ritualen, mit dem Ruf nach
Hinrichtungen, mit der Ausgrenzung der Opposition?
Da aufgrund des Putschversuches, an dem höchstwahrscheinlich auch
Gülen-Anhänger beteiligt waren, ohnehin so gut wie alle Gülenisten längst
schon ins Ausland abgehauen sind, kann man seine Wut ja jetzt an denjenigen
auslassen, die der AKP kritisch gegenüber stehen. Im Unterschied zum Tag
der Deutschen Einheit ist bei uns die Stimmung eher nach „Tag der
Türkischen Spaltung“, nämlich der Gesellschaft in zwei, und das scheint mir
doch der beste Weg, die Erinnerung an den 15. Juli wachzuhalten.
Es darf in der Tat nicht in Vergessenheit geraten, dass in der Nacht des
15. Juli 2016 Hunderte von Menschen ihr Leben und viele andere ihre Heimat
verloren. Wir sollten uns stets daran erinnern, dass wir die
Verantwortlichen suchen müssen, die hinter diesen Vorgängen standen.
Das sollten wir nicht vergessen, sondern erinnern, aber nicht so, wie wir
mit so vielen anderen Ereignissen umgehen: Indem wir laut rufen, dass wir
nie vergessen, sondern ewiglich erinnern, die eigentliche
Auseinandersetzung an den Rand schiebend… Andernfalls wird auch diese Nacht
vergessen, wie so viele andere in der Türkei, und mit der Zeit zu einem
Schlagwort in politischen Debatten, bei denen kaum noch jemand weiß, um was
es da eigentlich ging.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
17 Jul 2017
## AUTOREN
Barış Uygur
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Feiertage
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