# taz.de -- Mandolinen-Meister zu Gast im Berliner A-Trane: Zurückgelehnte Sch… | |
> Der brasilianische Choro-Musiker Hamilton de Holanda verbeugt sich auf | |
> seinem Album „Casa de Bituca“ vor Milton Nascimento. Nun kommt er nach | |
> Berlin. | |
Bild: Gut gelaunt, obwohl melancholisch: Hamilton de Holanda mit seiner zehnsai… | |
Welches der erste urbane Musikstil Brasiliens war? Nein, es war nicht der | |
Samba, sondern der Choro. Der ältere Bruder des Samba entstand in den | |
1870er Jahren in Rio de Janeiro als populäre Mischung aus afrikanischem und | |
europäischem Erbe – als Fusion aus dem Lundú-Rhythmus angolanischer Sklaven | |
und Stilen wie Walzer, Polka und Mazurka. Für ausländische Ohren klinge der | |
Choro, schreibt der Musikautor Chris McGowan, „wie eine kleine | |
Dixieland-Band, die komische Rhythmen mit extremen melodischen Sprüngen, | |
unerwarteten Modulationen und gelegentlich in halsbrecherischer | |
Geschwindigkeit spielt“. | |
Choro hat durchaus einen schwermütigen Touch, aber nicht so sehr wie sein | |
Name vermuten lässt, ist Choro doch das portugiesische Wort für „Klage“ | |
oder „Weinen“. Weil die meisten Choros relativ uptempo, voller Synkopen und | |
Kontrapunkte sind, hat der Stil vielmehr eine leicht nervöse Grundstimmung. | |
Die Melodielinien bestehen im Choro aus durchlaufenden, oft leicht | |
verzögert gespielten Sechzehnteln, was von den Musikern Virtuosität | |
verlangt – und einer seiner Meister ist zweifellos Hamilton de Holanda. | |
Aufgewachsen in einer Familie von Musikern, lernte de Holanda bereits | |
Bandolim zu spielen, bevor er lesen und schreiben konnte. Bandolim ist eine | |
Mandoline, die de Holanda um zwei Saiten ergänzte, um mehr Basstöne spielen | |
zu können. | |
## Jimi Hendrix der Mandoline | |
Seit 2006 machte er sich mit dem Hamilton de Holanda Quinteto einen Namen. | |
Er öffnete sich dem Jazz, kooperierte unter anderem mit dem italienischen | |
Pianisten Stefano Bollani und dem französischen Akkordeonisten Richard | |
Galliano, wurde Latin-Grammy- und Echo-Jazz-Preisträger und gilt aufgrund | |
seiner filigranen wie rasanten Spielweise als „Jimi Hendrix der Mandoline“. | |
Nachdem er sich im Vorjahr auf „Samba de Chico“ mit dem Werk des | |
brasilianischen Sängers Chico Buarque auseinandergesetzt hat, legt Hamilton | |
de Holanda nun mit seinem Quintett ein Album vor, das einer weiteren | |
Legende gewidmet ist: „Casa de Bituca“. Bituca ist der in Brasilien | |
geläufige Spitzname von Milton Nascimento, einem der Großen der Música | |
Popular Brasileira, und meint den „Schmollmund“, den Milton als Kind oft | |
gemacht haben soll. Die Auswahl auf dem Album legt einen Schwerpunkt auf | |
Nascimentos Frühwerk, nicht zuletzt auf die zwei „Clube da Esquina“-Alben | |
von 1972 und 1978, auf denen Milton die innovative Szene seiner Heimat | |
Minas Gerais präsentierte. | |
Dabei muss man Hamilton de Holanda dazu beglückwünschen, Nascimentos Songs | |
nicht notengetreu nachzuspielen, sondern eigene Versionen zu liefern, die | |
Raum für Improvisationen lassen und jazziger klingen als im Original. Im | |
Vergleich zu Nascimentos Vorlagen sind de Holandas Interpretationen | |
insgesamt zurückgenommener – etwa der Einstiegssong „Bicho Homem“. Milton | |
Nascimentos Fassung ist treibend, die von de Hollanda zurückgelehnter, | |
sogar Nascimentos lautmalerischer Gesang klingt immer wieder kurz an. | |
Hamilton de Holanda setzt sein Können dosierter ein, nimmt auch mal das | |
Tempo raus („Ponto de Areia“, „Canção da América“), und manchmal lä… | |
den Kollegen seines Quintetts den Vortritt („Vera Cruz“). Musikalisches wie | |
soziales Miteinander und Improvisieren gehören schließlich zu den Essenzen | |
der in Brasilien bis heute lebendigen Choro-Szene. Obwohl Milton | |
Nascimentos Songs gerade von seiner eigentümlichen Stimme – oft im Falsett | |
– getragen werden, überzeugen sie auf „Casa de Bituca“ auch als | |
instrumentale Versionen. Ein Höhepunkt des Albums ist allerdings ein | |
Gesangsstück: Nascimentos „Travessia“, das ihn 1967 bekannt machte, wird | |
hier von der legendären Samba-Diva Alcione vorgetragen. | |
## Brüder im Geiste | |
Hamilton de Holanda und Milton Nascimento gehören zwei verschiedenen | |
Generationen an, doch sie sind so etwas wie Brüder im Geiste. Nascimento | |
schrieb bereits Ende der sechziger Jahre Klassiker wie „Coração de | |
Estudante“, der an den 1968 von einem Polizisten ermordeten Studenten Edson | |
Luís erinnerte. Der Song wurde während der Kindheit Hamilton de Holandas | |
Mitte der achtziger Jahre zur Hymne der „Diretas já“-Bewegung, die freie | |
demokratische Wahlen forderte. De Holanda sagt, es sei gerade Nascimentos | |
Verständnis von Musik als ein „Ort voller Menschlichkeit und Hoffnung“, der | |
ihn mit Bituca verbinde. | |
Dass wir von solchen Idealen derzeit weit entfernt sind, berührt auch | |
Hamilton de Holanda. Anstoß für den Song „Mar de Indeferencía“ („Meer … | |
Indifferenz“), einer von zwei Eigenkompositionen auf dem Album, war jenes | |
inzwischen weltberühmte, traurige Foto von einem auf der Flucht im | |
Mittelmeer ertrunkenen syrischen Jungen im Jahr 2015. So bekommt de | |
Holandas Hommage an Milton Nascimento am Ende eine deutlich melancholische | |
Note. | |
10 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Ole Schulz | |
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Musik | |
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