# taz.de -- Diaspora: Fluchtpunkt Berlin | |
> Sie alle mussten der Türkei den Rücken kehren. Aus verschiedenen Gründen, | |
> zu unterschiedlichen Zeiten. Vier Frauen, vier Geschichten | |
Bild: Westberlin, 70er-Jahre: Zwei Arbeiterinnen in der Siemensfabrik | |
Draußen fliegen Pollen wie Sommerschnee. Im Hof kreischen Kinder. Das | |
Fenster im Rücken, wischt Ayşe Aniş* gedankenverloren Nachrichten aus der | |
Türkei vom Display ihres Handys. In Ankara sind eine Akademikerin und ein | |
Lehrer seit 76 Tagen im Hungerstreik, an diesem Maitag wurden sie | |
verhaftet. | |
Ayşe Aniş hat das Haus am längeren Ende der Sonnenallee heute noch nicht | |
verlassen. Sie sitzt in der Küche mit den sechs Uhren, die alle eine andere | |
Zeit anzeigen – doch im Kopf ist sie 2.000 Kilometer weit weg. | |
Ayşe Aniş, 34 Jahre, Dokumentarfilmemacherin aus Istanbul, lebt seit sechs | |
Monaten in Berlin. Der Gedanke, aus der Türkei wegzugehen, war schon vor | |
dem Putschversuch am 15. Juli 2016 da. In den Monaten nach den | |
niedergeschlagenen Gezi-Protesten 2013 war er im Gespräch mit ihren | |
Freund*innen zum ersten Mal aufgetaucht. | |
Als in türkischen Städten 2015 Bomben explodierten, machten sich die Ersten | |
davon. Auf Demonstrationen traf Aniş immer weniger Freund*innen. Wer in | |
Istanbul blieb, schluckte die Wut über die Geschehnisse. Eine große | |
Enttäuschung für Aniş, die von sich sagt, die Ereignisse um den Gezi-Park | |
seien ein Wendepunkt in ihrem Leben gewesen – der Moment, in dem sie | |
begriffen habe, wie stark sie sein können, wenn sie wollen. | |
„Ich habe es nicht ertragen, dabei zuzusehen, wie die Energie von Gezi | |
langsam verfliegt“, sagt Aniş und zieht an ihrer Zigarette. „Die Menschen | |
haben angefangen, diesen Widerstandsgeist zu vergessen, weil jeden Tag | |
etwas noch Schlimmeres passiert.“ | |
Als im Frühling 2016 zwischen zwei Anschlägen nur noch eine Woche lag und | |
das Land in einen andauernden Ausnahmezustand glitt, drängte eine Freundin | |
aus Berlin sie dazu, nach Deutschland zu kommen. Ayşe Aniş beschloss, nach | |
Berlin zu fliegen, um sich die Stadt anzusehen. Am Tag vor ihrem Abflug | |
sprengten sich am Atatürk-Flughafen in Istanbul drei Attentäter in die | |
Luft. Der Gedanke, wegzugehen festigte sich. Zehn Tage blieb Aniş in | |
Berlin, dachte sich, „hier könnte ich leben“. | |
Zwei Tage nach ihrer Rückkehr sperrten Panzer die Bosporusbrücke. Am Morgen | |
nach dem Putschversuch fuhr die 34-Jährige mit dem Metrobus über die | |
Brücke, und es war, als sei nichts gewesen, als hätte hier nicht in der | |
Nacht zuvor eine aufgebrachte Menge Soldaten gelyncht. | |
## Hals über Kopf | |
Da wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr in der Türkei leben will. Hals | |
über Kopf beantragte sie ein Sprachvisum (das zum Aufenthalt in Deutschland | |
berechtigt – Anm. d. Red.). Am 3. November 2016 ging sie aus Istanbul weg, | |
aber in Berlin ist sie noch heute nicht angekommen. Als sei sie unterwegs | |
verlorengegangen. | |
Ayşe Aniş ist eine von vielen, die es in der Türkei nicht mehr ausgehalten | |
haben. Seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr ist der Lebensraum für | |
Regimegegner*innen immer enger geworden. Wer sich gegen die Repressionen | |
auflehnt, landet im Gefängnis. In Berlin entsteht dadurch eine neue | |
Diaspora gebildeter und politischer junger Menschen, die in der Türkei | |
Arbeit, Freiheit und Hoffnung verloren haben. Hier treffen sie auf | |
türkeistämmige Migrant*innen, die vor Jahrzehnten im Exil die gleichen | |
Erfahrungen gemacht haben wie sie. | |
In der wechselvollen Geschichte der Türkei hat jedes Jahrzehnt seine eigene | |
Migrationswelle hervorgebracht. Dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland | |
und der Türkei folgten seit 1961 mehr als zwei Millionen Menschen, auf der | |
Suche nach einer Perspektive. | |
Ihr Ziel war es, zwei Jahre in Deutschland zu arbeiten und sich mit dem | |
verdienten Geld in der Türkei ein Leben aufzubauen. Nach dem Militärputsch | |
von 1980 suchten die Oppositionellen Exil in Europa. Als in den frühen | |
Neunzigern in den kurdischen Gebieten Krieg ausbrach, flohen die | |
Kurd*innen. | |
All diese Menschen, die zu unterschiedlichen Zeiten und aus verschiedenen | |
Gründen ihre Heimat verlassen haben, verbindet ein unsichtbares Band: die | |
Zerrissenheit zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben; das Gefühl der | |
Schuld, sich aus dem System befreit zu haben – und die anderen dort | |
zurückgelassen zu haben. | |
## Ein Hauch von Revolution | |
Ein Abend im Mai, die Straßen riechen nach Kirschblüten. Im Kino Moviemento | |
läuft „Leben im Exil“, ein Film über den großen türkischen Filmmacher | |
Yılmaz Güney, der 1981 aus dem Gefängnis nach Paris geflohen ist. Durch den | |
kleinen Filmsaal weht ein Hauch von Revolution.Über die Leinwand flimmert | |
eine grobkörnige Archivaufnahme in Schwarzweiß: Yılmaz Güney 1982 in | |
Cannes, wo er als erster Regisseur aus der Türkei die Goldene Palme | |
gewonnen hat. Am Ende seiner Rede reckt er die rechte Faust in die Luft und | |
ruft: „Wir werden auf jeden Fall siegen!“ | |
Im Publikum sitzt die 70-jährige Atiye Altül, ihre Augen leuchten. „Wir | |
sind damals zu zwölft mit dem Auto von Berlin drei Tage unterwegs gewesen, | |
um Yılmaz Güney in Cannes zu sehen“, erzählt sie nach dem Film draußen auf | |
dem Kottbusser Damm, wo die Buchhandlung Kitapçı heißt und die Fleischerei | |
Helal Et Pazarı. Türkische Geschäfte gehören hier zum Stadtbild. Als Altül | |
herkam, war das anders. | |
Westberlin, 1970: Als Atiye Altül mit einem Koffer voller Bücher übers | |
Rollfeld am Flughafen Tempelhof lief, regnete es. Altül war 23, trug | |
Seitenscheitel und hatte einen Gastarbeitervertrag bei Siemens in der | |
Tasche. Doch Deutschland verhieß mehr als Fabrikarbeit: Altül war fest | |
entschlossen zu studieren, für eine Frau aus armen Verhältnissen in der | |
Türkei zu der Zeit kaum denkbar. | |
Ihren Mann und den fünf Monate alten Sohn hatte sie in Ankara | |
zurückgelassen. Den Ehemann holte sie mit dem ersten Gehalt nach, der Sohn | |
blieb bei Altüls Mutter. Im Gastarbeiterwohnheim war kein Platz für ein | |
Kleinkind, wo hätte er in den zehn Stunden bleiben sollen, in denen sie | |
jeden Tag in Siemensstadt Waschmaschinen verkabelte? | |
Als sie nach einigen Jahren aus dem Gröbsten heraus war und ihren Sohn zu | |
sich holte, war sie eine Fremde für ihn. Altül schickte ihn zurück nach | |
Ankara zu ihrer Schwiegermutter, die zu seiner Bezugsperson geworden war. | |
„Die Kofferkinder dieser Generation, sie waren immer wie die Kinder von | |
jemandem anderen. Das war sehr schwer für mich. Ich trage immer noch die | |
Schuld mit mir herum“, sagt Altül 47 Jahre später in ihrem Wohnzimmer in | |
Tempelhof. | |
## Eine Enttäuschung | |
Westberlin war eine Enttäuschung. Die Toiletten auf halber Treppe. Die | |
Menschen, die sie auf der Straße anzischten, wenn Altül sich mit einer | |
Freundin auf Türkisch unterhielt: „Wir sind hier in Deutschland, hier wird | |
Deutsch gesprochen!“, und denen sie stets erwiderte, sie seien | |
„Faschisten“. | |
Im Morgengrauen aufstehen, arbeiten, abends erschöpft ins Bett fallen. | |
Wollte Altül von Anfang an in Deutschland bleiben? Nein, sagt sie | |
entschieden. Nach dem Studium wollte sie zurück in die Türkei, so wie alle | |
anderen auch. | |
Doch dann begann sie ein Textildesign-Studium an der Hochschule der Künste, | |
arbeitete als Sozialarbeiterin im Jugendfreizeitheim mit den Kindern der | |
zweiten Generation türkischer Gastarbeiter, spielte am Grips-Theater, bekam | |
ein zweites Kind in zweiter Ehe, schloss sich einer Gruppe von aus der | |
Türkei emigrierten Maoisten an. | |
Nachts liefen sie durch Berlin und schrieben „Weder Amerika noch Russland“ | |
an die Hauswände, tagsüber demonstrierten sie gegen die Militärjunta, die | |
sich am 12. September 1980 in der Türkei an die Macht geputscht hatte. „In | |
der Zeit ist dort eine wunderbare Generation herangewachsen, die haben sie | |
zerstört“, sagt Altül. | |
So vergingen die Jahre. Schleichend und ohne dass sie es selbst wahrnahm, | |
hatte Altül sich in Berlin ein Leben eingerichtet. Das Ankara ihrer | |
Kindheit verblasste und wurde zu einem Ort in ihrer Erinnerung. Sie war | |
eine Fremde, hier wie dort. „15 Jahre lang habe ich mich so gefühlt wie in | |
einem Hotelzimmer, ich habe auf gepackten Koffern gesessen“, sagt die | |
70-Jährige heute. Irgendwann stutzte sie und fragte sich, was sie hier | |
eigentlich machte. In dieser Zeit fing sie an, sich Berlinerin zu nennen. | |
## Untertauchen in der DDR | |
Am 12. September 1985, auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Militärputsch | |
– und etwa um die Zeit, in der Atiye Altül beschloss, in Berlin zu bleiben | |
–, landete Kadriye Karcı mit falschen Papieren auf dem Flughafen Schönefeld | |
in Ostberlin. | |
Hinter ihr lag eine abenteuerliche dreitägige Reise, die mit dem | |
Gastarbeiterzug vom Bahnhof Sirkeci in Istanbul nach Sofia führte, wo sich | |
die 24-Jährige zu einem konspirativen Treffen mit einem Kontaktmann | |
einfand. Erst dort erfuhr Karcı, wo sie die nächsten Jahre untertauchen | |
sollte – in der DDR. Wie war es dazu gekommen? | |
Die Suche nach einer Antwort führt zurück in die unübersichtlichen Zeiten | |
nach dem Militärputsch in der Türkei im Jahr 1980. | |
Izmir am frühen Morgen des 12. September 1980. Als die Putschgeneräle im | |
Staatsfernsehen ihre Machtübernahme verlesen ließen, ging Kadriye Karcı ins | |
Badezimmer und verbrannte stundenlang Bücher im Heizkessel. Die Tochter | |
eines belesenen Lkw-Fahrers und einer Hausfrau hatte sich ein Jahr zuvor | |
der Fortschrittlichen Jugendvereinigung angeschlossen, einer legalen | |
Jugendorganisation, die der verbotenen prosowjetischen Kommunistischen | |
Arbeiterpartei der Türkei (TKP) nahestand. | |
Die Wohnung, die sich Karcı mit zwei weiteren Mitgliedern der streng | |
leninistisch strukturierten Jugendorganisation teilte, war eine politische | |
Zelle – hochgefährlich für die drei. Nachdem sie alle riskanten Spuren in | |
der Wohnung beseitigt hatte, beschloss Karcı, vorerst nicht mehr politisch | |
aktiv zu sein. Die Militärjunta verhängte den Ausnahmezustand, Tausende | |
Oppositionelle wurden verhaftet oder flohen ins Ausland. | |
Die 19-Jährige wollte studieren. 1982 schrieb sie sich an der | |
Istanbul-Universität für Jura ein. Bis zum letzten Studienjahr hielt sie | |
ihrem Vorhaben stand. 1984 gab sie dem Drängen der Jugendvereinigung nach, | |
die im Ausnahmezustand verbotene Organisation wieder aufzubauen. | |
## Razzien und Fahndungslisten | |
Bei einer großangelegten Polizeirazzia landete ihr Verlobter, ebenfalls | |
Mitglied der Fortschrittlichen Jugendvereinigung, auf der Fahndungsliste | |
und ging in den Untergrund. Karcı wurde zum Risiko für die Partei. Auch sie | |
sollte von der Bildfläche verschwinden. | |
Mit ihrem Verlobten tauchte sie bei einem unverdächtigen Ehepaar im | |
asiatischen Stadtteil Kadıköy unter. Ein halbes Jahr später stand ein | |
Kontaktmann der TKP in der Wohnungstür. Die Partei, so teilte er ihnen mit, | |
habe beschlossen, dass sie ins Ausland gehen sollten. | |
Ostberlin war ein Traum. Für Kadriye Karcı, die in der Türkei für eine | |
sozialistische Gesellschaft gekämpft hatte, war die DDR eine Utopie. Das | |
kostenlose Studium, die niedrige Miete, die internationale Solidarität. Sie | |
lebte mit ihrem Verlobten und drei weiteren TKP-Mitgliedern zusammen, die | |
ebenfalls in die DDR geflüchtet waren, und studierte | |
marxistisch-leninistische Philosophie an der Humboldt-Universität. | |
Mit den DDR-Bürger*innen kamen die Exilant*innen kaum in Kontakt. Die SED | |
behandelte sie wie informelle Diplomaten, vermittelte Wohnung, Studienplatz | |
und Deutschkurs, hielt sie aber zur Geheimhaltung ihrer Identität an. Dass | |
sie politische Flüchtlinge sind, erfuhr Karcı erst nach der Wende. | |
Bei einer Reise nach Moskau im Studentensommer 1987 dann zum ersten Mal | |
Störgeräusche in der Internationalen. Blechhütten und bettelnde Kinder am | |
Bahnhof. Wie waren solche Lebensverhältnisse im Sozialismus möglich? Die | |
Utopie bekam Risse. | |
## Sehnsucht nach Demokratie | |
Im Jahr darauf in Odessa, wieder beim Studentensommer, hörte Kadriye Karcı | |
zum ersten Mal vom Ministerium für Staatssicherheit. Sie kehrte hellhörig | |
nach Ostberlin zurück. Dass auch in ihrer Seminargruppe vier Mitglieder der | |
Stasi saßen, wird sie erst im Nachhinein erfahren. | |
„Wir haben den Menschen vergessen. Die DDR hat die Grundvoraussetzungen für | |
eine sozialistische Gesellschaft erfüllt. Aber der Mensch funktioniert | |
nicht so. Er braucht nicht nur kostenlose Bildung und Arbeit, sondern auch | |
Freiheit und Demokratie“, sagt Kadriye Karcı rückblickend an einem Tag im | |
Mai 2017 in ihrem Wohnzimmer in der sechsten Etage eines Plattenbaus in | |
Mitte. Sie hat sich eine Selbstgedrehte angezündet. Während sie von den | |
alten Zeiten erzählt, brennt die Zigarette im Aschenbecher herunter. | |
Ostberlin am Abend des 9. November 1989: Bei milder Westwetterlage sagte | |
der 1. Vorsitzende der SED-Bezirksleitung Berlin, Günter Schabowski, live | |
im Fernsehen jenen folgenschweren Satz – die Grenzen waren offen. | |
Kadriye Karcı, die mit ihrem Mann und dem frisch geborenen Sohn die | |
Pressekonferenz in ihrer Wohnung in der Storkower Straße im Fernsehen sah, | |
bekam Angst. Was passierte da? Während die Menschen an jenem Abend zu | |
Tausenden nach Westberlin strömten, verließ Kadriye Karcı tagelang nicht | |
das Haus. In ihr die Angst, dass das Militär übernimmt – und der leise | |
Zweifel, ob das nicht vielleicht das Beste wäre. Sie hatte nie den Wunsch | |
verspürt, in den Westen zu reisen. Nach fünf Jahren in der DDR befand sie | |
sich wieder im freien Fall. | |
Als Kadriye Karcı das erste Mal 1991 nach sechs Jahren in die Türkei fuhr, | |
waren ihr die Verhältnisse dort fremd geworden. Stundenlang streifte sie | |
durch die Einkaufsläden. „Ich habe mich selbst nicht mehr erkannt. Wer bin | |
ich denn? Was gefällt mir? Das war schockierend“, sagt die 56-Jährige | |
heute. Da begann sie zu begreifen, dass die Parteistrukturen schlecht für | |
sie gewesen waren. | |
Auch die Partei, in deren Hände sie als 24-Jährige ihr Leben gelegt hatte, | |
war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine andere geworden. „Plötzlich | |
war alles schlecht, was wir gemacht haben“, sagt Karcı und streicht sich | |
eine graue Locke aus der Stirn. Dann, um Worte ringend: „Ich bin mir nicht | |
sicher, ob ich heute alles gleich machen würde wie damals. Aber unter den | |
damaligen Bedingungen war ich überzeugt davon, dass ich das Richtige tue.“ | |
## Diren Aydıns Weg | |
Etwa ein Jahr später, im November 1992, stieg eine junge Frau namens | |
Diren** aus dem Flugzeug in Hannover, um mit einem fremden Mann eine | |
Familie zu gründen. Es war eine arrangierte Ehe, und in diesem Augenblick | |
versuchte sie sich daran zu erinnern, warum sie hier war. Mit einem Mann, | |
den sie nicht kannte, in einem Land, das ihr fremd war. | |
Diren Aydın**, geboren 1972 in einem südostanatolischen Dorf als Tochter | |
alevitischer Kurden, wuchs mit der Hoffnung auf, dass eines Tages die | |
Revolution ausbricht. Ihr Vater, im kurdischen Widerstand aktiv, hatte ihr | |
beigebracht, dass sie keine Angst haben dürfe. Eines Tages, sagte sie sich | |
immer wieder. Wenn sie als Kind die Fußtritte der Soldaten vor ihrem | |
Fenster hörte. Wenn die Soldaten ihren Vater mitnahmen und er jedes Mal als | |
„ein anderer“ zurückkam. | |
Eines Tages würde sich alles ändern. Wenn die Lehrerin ihr auf die Hände | |
schlug, weil sie Kurdisch, die verbotene Muttersprache gesprochen hatte. | |
Als nach dem Putsch in den frühen Achtzigern Kurden in der U-Haft | |
verschwanden und Mädchen vergewaltigt wurden. | |
Eines Tages, dachte sie, wenn sie abends vor der Haustür saß und in die | |
Berge blickte, werde auch ich dort kämpfen. „Wenn du in den kurdischen | |
Gebieten lebst, schleicht der Tod ohnehin stets über die Gipfel. Er kann | |
einen jederzeit anfallen, aber du weißt nicht, aus welcher Richtung.“ | |
Doch es kam anders. Während in der Türkei Anfang der Neunziger mit Turgut | |
Özal der erste kurdische Präsident an der Macht war, brach im Südosten der | |
Krieg zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen Arbeiterpartei PKK | |
aus. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, Menschen verschwanden. | |
Als die Familie von Diren Aydın 1991 das Dorf bei Malatya verließ und nach | |
Istanbul ging, waren die meisten schon geflohen. Auch in Istanbul gab es | |
keine Perspektive für die 20-Jährige. Als der Kurde aus Deutschland um ihre | |
Hand anhielt, zögerte Aydın nicht lange. Für sie war die Ehe der Ausbruch | |
aus einem System, das sie nicht wollte. Eine Hoffnung, in einem anderen | |
Land sie selbst sein zu können. | |
Die Ehe scheiterte. An den rigiden Familienstrukturen der neuen Familie, | |
die ihre Freiheit beschnitten. Und an Diren Aydıns Willen. „Es war | |
schwierig für sie, einen Menschen wie mich zu akzeptieren. Ich bin ein | |
bisschen rebellisch“, sagt Aydın heute mit rauer Stimme. Sie begriff, dass | |
sie nicht werden konnte, wie die Familie sie haben wollte. Daran änderte | |
auch die Tochter, die sie nach einigen Jahren auf die Welt brachte, nichts. | |
Also bereitete sich Aydın, die im Kfz-Betrieb ihres Mannes arbeitete, auf | |
ein Leben ohne ihren Ehemann vor. Reparierte Dinge im Haus, brachte sich | |
bei, auf eigenen Füßen zu stehen. Nach elf Jahren setzte sie ihren Mann an | |
den Küchentisch und sagte ihm, dass sie sich trennen werde. Sie zog mit | |
ihrer Tochter von Niedersachsen nach Berlin. | |
Berlin war eine andere Welt. Das Chaos. Allein mit ihrer Tochter, die ihr | |
nicht glauben wollte, dass sie in Deutschland waren. Stundenlang blätterte | |
Diren Aydın in den Gelben Seiten nach türkischen Namen und rief die Nummern | |
an. Wenn jemand ans Telefon ging, sagte sie nichts und weinte still. Sie | |
wollte immer zurück in die Türkei gehen, doch zuerst hatte sich ihr Mann | |
gewehrt, und als er nicht mehr da war, ging ihre Tochter zur Schule. | |
## Bilder von einsamen Frauen | |
„Jetzt bin ich 45 Jahre alt“, sagt Diren Aydın und geht in ihrer | |
Dachgeschosswohnung an der Hermannstraße auf und ab, „und der Tag ist immer | |
noch nicht gekommen.“ Ihre schmalen Gesichtszüge verhärten sich. An der | |
Wand hängen ihre Ölbilder: Variationen von Frauen in der Natur, das Wasser | |
bis zum Hals, weinend auf der Erde kauernd. Ein Versuch, der Einsamkeit von | |
Frauen in dieser Gesellschaft Ausdruck zu verleihen. Aydın, die als Kind | |
eine große Malerin werden wollte, erzählt in ihren Bildern die Geschichte | |
der kurdischen Frauen. | |
Vor zwei Jahren hat sie das letzte Mal daran gedacht, in den kurdischen | |
Widerstand zu gehen. Da lebte sie schon 23 Jahre in Deutschland und hatte | |
eine 19-jährige Tochter. Die stellte eine Bedingung: „Wenn du gehst, komme | |
ich mit.“ Das brachte Aydın nicht übers Herz. Und blieb. | |
An einem klaren Juni-Nachmittag steht Diren Aydın in einem Weddinger | |
Hinterhof barfuß auf einem Kinderhocker und bemalt den Waschbeton mit | |
Tieren. Die Hauswand gehört zu einer bilingualen Kita. Hier wird Deutsch | |
und Kurdisch gesprochen – Türkisch ist verboten. „Ich freue mich so, dass | |
die kurdischen Kinder hier ihre Muttersprache sprechen können“, sagt Aydın | |
und reckt ihren Rücken. | |
Der Wind fährt durch die Bäume. Sie will etwas Fröhliches für die Kinder | |
malen, die zu früh erwachsen werden. Von der Wand lachen Biene Maja, Willi | |
und ein paar Ameisen. Mit einem Bekannten unterhält sie sich leise auf | |
Türkisch, unterbricht sich selbst, redet auf Kurdisch weiter. Eigentlich | |
ist es leichter für sie, Türkisch zu sprechen, aber das ist eine politische | |
Entscheidung. | |
Diren Aydın wartet aus der Ferne auf den Tag, der alles ändern wird. In | |
Berlin ist sie ständig auf der Straße, um gegen das Unrecht in der Türkei | |
zu demonstrieren. Und verzweifelt daran, dass die Proteste hier nichts | |
nützen. | |
Atiye Altül verbringt die Sommermonate in der Türkei. Dort vermisst sie | |
Berlin. Sie glaubt immer noch, dass der Sozialismus eines Tages kommen | |
wird. | |
Kadriye Karcı hält nichts davon, die Türkei aus der Ferne zu retten. Sie | |
versucht als Altberlinerin, der neuen Diaspora in Berlin mit ihrem Wissen | |
und ihren Kontakten zu helfen. | |
Und Ayşe Aniş wünschte, sie könnte etwas tun. Wenn nur jemand mit einem | |
Plan käme und ihr sagte: „Ayşe, komm, wir machen das. Wir brauchen dich“ … | |
sie würde sofort zurückgehen. | |
## Phantomschmerz | |
Was bleibt, ist ein Phantomschmerz. „Meine Freunde in der Türkei sagen zu | |
mir, dir geht es dort gut. Du denkst, mit ein paar Aufrufen auf Facebook | |
kommt die Revolution“, sagt Diren Aydın. „Nur ein Freund aus Istanbul hat | |
einmal zu mir gesagt: Ihr tut mir leid, Diren! Dauernd seid ihr auf der | |
Straße und demonstriert. Ihr habt überhaupt kein Leben mehr.“ | |
Das Gefühl, die Menschen in der Türkei im Stich gelassen zu haben, | |
verbindet die unterschiedlichen Generationen der türkeistämmigen Diaspora. | |
„Man fühlt sich wie ein Verräter. Ich habe mich in Sicherheit gebracht, | |
sagst du dir“, sagt Atiye Altül. | |
Als 1999 ein verheerendes Erdbeben die westtürkische Stadt Izmit zerstörte, | |
war Altül in Berlin zwölf Stunden ohne Unterbrechung auf den Beinen, um | |
Hilfe zu organisieren. „Nicht in den guten Zeiten, in den schlechten Zeiten | |
will man dort sein“, sagt sie. | |
Von der Ferne zu beobachten, was in der Türkei passiert, ist schwer | |
auszuhalten, sagt auch Ayşe Aniş. „Du verfolgst ständig die Nachrichten und | |
denkst dir: Ich sollte jetzt dort sein.“ Dabei weiß sie, dass sie dort auch | |
nichts tun könnte. „Wer gegen das Regime protestiert, landet im Gefängnis. | |
Welchen Nutzen hätte es für das Land, wenn ich im Gefängnis bin?“, fragt | |
Aniş und fügt schnell hinzu, dass sie es nicht falsch finde, wenn Menschen | |
in der Türkei Widerstand leisteten. | |
## Abschiedsparty in Istanbul | |
Sie respektiere die Akademikerin und den Lehrer, die inzwischen seit mehr | |
als 120 Tagen im Hungerstreik sind. „Aber warum opfern wir uns auf im Kampf | |
für Gerechtigkeit in einem Land, in dem es keine Gerechtigkeit gibt? Ich | |
kann nicht so weit gehen wie sie und den Tod in Kauf nehmen.“ | |
Im April 2017, kurz vor dem Referendum in der Türkei flog Ayşe Aniş noch | |
einmal nach Istanbul zu einer Abschiedsparty. Ein letztes Zusammentreffen | |
im Freundeskreis. Überall hingen riesige Erdoğan-Plakate. | |
In Berlin waren die Tage leer, niemand rief an. In der Türkei hatte ihr | |
Telefon pausenlos geklingelt, manchmal hatte sie zwischen zwei | |
Recherchereisen noch nicht einmal Zeit, ihre Wäsche zu waschen. Sie vergaß, | |
warum sie weggegangen war. War es in Istanbul vielleicht doch besser? Ihre | |
Freund*innen in Istanbul sagten: „Mach keinen Unsinn, komm nicht zurück, | |
wir gehen alle.“ | |
Zurück in Berlin dachte sie daran, was ihr eine Freundin geantwortet hatte, | |
als sie erzählt hatte, sie sei nie in Deutschland angekommen: „Ayşe, dann | |
komm jetzt nach Berlin.“ | |
## Welcome to Berlin | |
An einem schwülen Juniabend kurz vor Mittsommer sitzt Ayşe Aniş vor einem | |
Späti am Kottbusser Damm, Ecke Schinkestraße und schüttet sich einen kurzen | |
Gorbatschow in die Club-Mate-Flasche. Im Radio spielt psychedelische | |
türkische Rockmusik. | |
„Excuse me, do you speak English“, fragt eine junge Israelin mit | |
blondiertem Undercut. Sie ist neu in Berlin und braucht Hilfe mit ihrer | |
Simkarte. Aniş kennt sich aus mit deutschen Simkarten. Sie tippt die Nummer | |
ins Display ein, es funktioniert nicht. Die Israelin stöhnt: „Why do | |
Germans have to make everything so complicated?“ Ayşe Aniş lacht: „You wi… | |
get used to it. Welcome to Berlin.“ | |
*Name geändert; die Protagonistin erklärt, warum: „Die türkische Regierung | |
hat alle, die gegen sie sind, zur Zielscheibe gemacht. Selbst wenn ich | |
nicht mehr in der Türkei lebe, möchte ich deshalb nicht mit meinem echten | |
Namen genannt werden, um meine Familie zu schützen.“ | |
** Name von der Redaktion geändert | |
21 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Kimmerle | |
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