Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Waschbären in Leipzig: Bärchen mit üblem Ruf
> Der Waschbär bedroht angeblich gefährdete Tierarten. Sein Einfluss auf
> die Artenvielfalt wird nun in Sachsen erforscht.
Bild: Neues wissenschaftliches Objekt: der Waschbär
LEIPZIG taz | Im Juni 2012 bietet sich den Fußgängern am
Bundesverwaltungsgericht ein pelziger Anblick. Am helllichten Tag klettert
ein Waschbär die Fassade am Gerichtsgebäude hinauf und aalt sich in der
Sonne. Die sonst eher dämmerungs- und nachtaktiven Tiere rückten so ins
öffentliche Bewusstsein. Dabei verbreitet sich die Tierart bereits seit den
1990er Jahren in Stadtgebiet und Umland. Angesichts der großen Anzahl der
Tiere im Leipziger Raum stellt sich für Experten zunehmend die Frage,
welchen Einfluss sie auf die Artenvielfalt haben und wie man mit den
Kleinbären umgehen soll.
Seit einiger Zeit gehen bei Andreas Sickert, Abteilungsleiter im Bereich
Stadtforsten der Stadt Leipzig, immer wieder Meldungen von Ornithologen,
Jägern und Naturschützern ein. Grund dafür sei der Waschbär, der seltene
Tierarten im Leipziger Auwald wie Amphibien und Nestbrüter gefährde. Für
Sickert ist „die potenzielle Bedrohung aufgrund seines Nahrungsspektrums
und seiner Fertigkeiten unstrittig“.
Vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) wird das Tier als invasiv eingestuft,
also als potenziell schädlich für die Artenvielfalt. Auch die EU-Kommission
hat den Kleinbären 2016 auf die „Liste invasiver gebietsfremder Arten von
unionsweiter Bedeutung“ gesetzt.
Der Waschbär ist nicht nur ein exzellenter Kletterer, sondern auch an Land
und zu Wasser unterwegs. Als Allesfresser bedient er sich an Früchten,
Insekten, Würmern, aber auch an Amphibien und Vögeln. Wegen seiner
Fertigkeiten besetzt der Raubsäuger eine ökologische Nische, natürliche
Feinde besitzt er kaum. Besonders im Frühjahr, wenn der Waschbär einen
hohen Eiweißbedarf hat und Obstbäume noch keine Früchte tragen, bieten
Amphibien eine potenzielle Nahrungsquelle.
Ein „Geheimrezept“ im langfristigen Umgang mit den Tieren hat Sickert
nicht. Als flächendeckende Plage schätzt er den Waschbären bislang aber
nicht ein. Seit vier Jahren nehme die Population nicht mehr zu, sie
schwanke vielmehr.
René Sievert, Biologe und Vorsitzender des Naturschutzbundes Leipzig
(Nabu), beobachtet ebenfalls die ökologischen Auswirkungen des Waschbären
auf andere Tierarten. Schwierig sei die Situation etwa für den Waldkauz,
der vom Nabu zum „Vogel des Jahres 2017“ gewählt wurde. Als Eulenart lebt
er vor allem in Baumhöhlen. Vereinzelt stellte Sievert fest, dass der
Waschbär diese besetzt und so den Waldkauz verdrängt.
Auch an einigen Nestern von seltenen Vogelarten wie dem Rotmilan und an
Amphibiengewässern im Auwald bediene sich der Kleinbär, etwa am stark
gefährdeten Kammmolch und der Erdkröte. Wie groß der Einfluss des
Waschbären auf die Artenvielfalt aber wirklich ist, weiß Sievert indes
nicht. Es gebe ja auch noch andere Raubsäuger wie Marder und Hauskatzen,
die ebenfalls durch den Wald streifen. „Und den größten negativen Einfluss
hat der Mensch mit der zunehmenden Lebensraumzerschneidung und intensiver
Landwirtschaft.“ Allein im Jahr 2016 seien in der Wachstumskommune Leipzig
wegen des Zuzugs mehr als 60 Hektar Grünflächen verlorengegangen.
## 10.000 Waschbären in Sachsen getötet
Der Deutsche Jagdverband (DJV) hingegen ist vom negativen Einfluss des
Waschbären auf die Artenvielfalt überzeugt. 2017 hat er deshalb als das
„Jahr des Waschbären“ ausgerufen. Im April fordert der Interessenverband
eine flächendeckende Bejagung, besonders in befriedeten Bezirken, also etwa
Siedlungen und Naturschutzgebieten. Aktuell verbietet jedoch das sächsische
Jagdrecht die Bejagung im Leipziger Siedlungsgebiet. Außerhalb befriedeter
Gebiete wird der Waschbär längst bejagt. Im vergangenen Jahr wurden
sachsenweit knapp 10.000 Waschbären getötet, im Leipziger Raum waren es im
Jagdjahr 2015/16 mehr als 2.300.
Peter Winter ist Mitglied im Jagdverband Leipzig, die Forderungen des DJV
findet er realitätsfern: „Eine flächendeckende Bejagung, um den
Waschbärbestand zu reduzieren, ist nicht möglich, dafür sind es einfach zu
viele Tiere. Außerdem sind sie schwer zu bejagen.“ Winter arbeitet seit 15
Jahren im Jagdbezirk Süd-West der Jagdgenossenschaft Leipzig. Da die Bären
nachtaktiv sind, kann sie Winter nur per Lebendfangfalle jagen, die in
Sachsen gesetzlich vorgeschrieben ist. Hinzu kommt, dass Waschbärweibchen
auf Bejagungsdruck mit einer erhöhten Fruchtbarkeit reagieren. Auf einen
erlegten Bären folgt dann bald ein neuer. Winter wünscht sich eine engere
Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern, um anhand von gesammelten Daten
gezielte Jagdmaßnahmen in kleineren Gebieten zu treffen. „Denn einfach nur
flächendeckend draufloszujagen ist reiner Aktionismus und bringt überhaupt
nichts.“
Dieser Meinung ist auch das Sächsische Staatsministerium für Umwelt und
Landwirtschaft (SMUL). Deshalb soll möglichst im kommenden Jahr ein
Gemeinschaftsprojekt mit Naturschützern und Jägern starten. „Es steht die
These, dass der Waschbär sich nachteilig auf die heimische Artenvielfalt
auswirkt. Nun brauchen wir grundlegende wissenschaftliche Daten, um den
komplexen Ursachen auf den Grund zu gehen“, sagt Bert Dankert, Referent für
Artenschutz im Ministerium. In einem „artenschutzfachlich besonders
wertvollen Projektgebiet“ sollen innerhalb von drei Jahren Waschbär, Mink
und Marderhund gezielt bejagt werden. „Dann schauen wir, wie sich der
Bestand der Brutvögel vor und nach der Bejagung verändert hat“, sagt
Dankert. Die erprobten Methoden könnten dann auch auf andere Gebiete in
Sachsen übertragen werden, etwa den Leipziger Auwald. Sachsen nimmt mit
seinem Gemeinschaftsprojekt bundesweit eine Vorreiterrolle ein.
## Wider den Generalverdacht
Marten Winter sieht das Gemeinschaftsprojekt des Umweltministeriums deshalb
als einen Schritt in die richtige Richtung. Er ist Leiter des
Synthesezentrums am Deutschen Zentrum für Integrative
Biodiversitätsforschung (iDiv): „Wir stochern in Deutschland noch ziemlich
im Dunkeln, wenn es um die Auswirkungen von invasiven Räubern geht. Denn
wie stellt man überhaupt fest, dass eine Art für den Niedergang einer
anderen verantwortlich ist?“ Ein paar Beobachtungen und die steigende
Waschbärpopulation würden dafür nicht ausreichen: „Wir brauchen erst mal
statistisch belegbare Daten, um einschätzen zu können, welchen Einfluss er
wirklich hat.“
Dass der Waschbär zumindest auf die Artenvielfalt im Müritz-Nationalpark
keinen negativen Einfluss hat, fand Berit Michler in ihrer Doktorarbeit
heraus. In dem Naturschutzgebiet leben zahlreiche seltene Tierarten.
Die Biologin reichte Anfang April ihre Dissertation über die ökologischen
Auswirkungen des Waschbären an der Technischen Universität Dresden ein.
Zusammen mit anderen Wissenschaftlern forschte sie über einen Zeitraum von
elf Jahren im Müritz-Nationalpark über den Kleinbären. Der aktuelle
Maßnahmenkatalog des Umweltministeriums orientiert sich an der
Forschungsgruppe, Michler begrüßt die Maßnahmen in Sachsen.
Für die Doktorarbeit analysierte die Biologin über tausend Kotproben der
Waschbären, untersuchte die Nahrungsbestandteile und setzte sie mit dem
Nahrungsangebot ins Verhältnis: „Die wissenschaftlichen Daten unserer
Nahrungsanalysen zeigen, dass der Waschbär ein Generalist ist und frisst,
was er bekommt. Darunter sind zwar auch seltene Tierarten wie Amphibien, es
kommt jedoch zu keinen Engpässen.“
Michlers Arbeit ist der europaweit erste wissenschaftliche Beleg dafür,
dass der Waschbär keine negativen Auswirkungen auf die Artenvielfalt hat.
„Bislang hat man über den negativen Einfluss des Waschbären größtenteils
spekuliert und ihn unter Generalverdacht gestellt. Ich hoffe, dass weitere
Langzeitstudien helfen, zu einer sachlichen, konstruktiven Debatte
zurückzukehren.“
16 Jul 2017
## AUTOREN
Denis Giessler
## TAGS
Leipzig
Schwerpunkt taz Leipzig
Waschbären
Waschbären
Artenvielfalt
Waschbären
Waschbären
Waschbären
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne „Liebeserklärung“: Der Waschbär
Wenn ein putziges Tierchen einen Wolkenkratzer bezwingt, ist uns das mehr
Aufmerksamkeit wert als das Aussterben ganzer Arten.
Kolumne Kreaturen: Wissenswertes über Waschbären
Sie haben einen tollen Tastsinn, leben in Rüdenkoalitionen und wohnen oft
in Kassel. Von Harmonielehre verstehen sie hingegen fast gar nichts.
Rekordstrecke in Brandenburg: Waschbären werden zur Plage
Die possierlichen Waschbären sind nicht überall beliebt. Natürliche Feinde
gibt es kaum. Sie machen es sich dort gemütlich, wo sie der Mensch gerade
nicht haben will.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.