| # taz.de -- 3 Jahre nach Arbeitsunfall unter Tage: „Kein Unfall, sondern Mord… | |
| > In der Provinz Soma ereignete sich 2014 der schwerste Bergwerksunfall in | |
| > der türkischen Geschichte. Ein Gerichtsurteil gegen die Verantwortlichen | |
| > ist noch nicht gefällt. | |
| Bild: Insgesamt 301 Arbeiter sind bei dem Bergwerksunglück gestorben | |
| Vor drei Jahren, am 13. Mai 2014, ereignete sich das schwerste | |
| Bergwerksunglück in der türkischen Geschichte. Bei dem Arbeitsunfall, der | |
| auf Sicherheitsmängel der Mine zurückgeführt wird, sind 301 Bergarbeiter | |
| ums Leben gekommen. Diese hinterließen 255 Witwen, 438 Halbwaisen und je | |
| 300 Mütter und Väter, die ihren Sohn verloren haben. Einer dieser Väter ist | |
| İsmail Çolak, dessen Sohn Uğur zum Zeitpunkt des Unfalls erst 26 Jahre alt | |
| war. Ismail Çolak, selbst ein Bergarbeiter, ist gemeinsam mit dem Verein | |
| für soziale Rechte, „Sosyal Haklar Derneği“, vor Gericht gezogen. Die | |
| Verhandlungen gegen sechs Angeklagte, sind heute noch nicht abgeschlossen. | |
| Ein Gespräch mit İsmail Çolak über das Bergwerksunglück und den | |
| juristischen Kampf. | |
| ## Wie haben Sie von dem Unfall vor drei Jahren erfahren? | |
| Auch ich war in der besagten Mine 25 Jahre als Bergarbeiter tätig. Zur Zeit | |
| des Unfalls habe ich mich mit Landwirtschaft beschäftigt und arbeitete auf | |
| dem Grundstück eines Freundes außerhalb von Soma, der dort Nussbaumfelder | |
| besitzt. Dort erhielt ich die Unglücksnachricht. Es hieß, es sei ein Feuer | |
| unter Tage ausgebrochen. | |
| ## Was haben Sie dann getan? | |
| Ich habe den Dorfvorsteher angerufen, der die Nachricht über das Feuer | |
| bestätigte. Da bin ich sofort mit dem Traktor zurück nach Soma gefahren. Im | |
| Krankenhaus, wo die Verletzten hingebracht wurden, herrschte totales Chaos. | |
| Es hieß, ein Transformator sei explodiert. Da ich mich in diesem Bergwerk | |
| auskenne, erscheint mir diese Erklärung nicht plausibel. Ein Transformator | |
| hätte kein Feuer diesen Ausmaßes verursacht. Wir haben auf eine plausiblere | |
| Erklärung durch die Arbeitgeber gewartet, die niemals erfolgte. | |
| ## Was ist Ihrer Ansicht nach die Ursache für den Unfall gewesen? | |
| Fahrlässigkeit des Arbeitgebers. Die Arbeiter erhalten keine ausreichende | |
| Schulung in Sicherheitsmaßnahmen. Das sagten auch die Angeklagten vor | |
| Gericht aus. Als ich 1985 im Bergwerk anfing, war das ein kleineres | |
| Unternehmen. In den 2000er Jahren ist das Unternehmen expandiert, | |
| allerdings sind mit den wachsenden Arbeitsaufträgen leider nicht die | |
| entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen erweitert worden. Dabei haben das | |
| Unternehmen nicht wenig Profit gemacht, sie haben die Kohle dem Staat | |
| verkauft. Sehenden Auges wurden unsere Kinder ermordet. Mein Sohn hatte in | |
| den Wochen zuvor bereits von den erschwerten Umständen unter Tage | |
| berichtet. Es sei ungewöhnlich heiß gewesen. Diese Aussage bestätigen auch | |
| die Angehörigen von anderen Arbeitern, die bei diesem Unfall gestorben | |
| sind. | |
| ## Worauf stützte sich der Verdacht Ihres Sohnes? | |
| Er sprach über eine hohe Gaskonzentration in der Mine. Es gibt | |
| internationale Richtlinien, die bei der Überschreitung einer Höchstgrenze | |
| für Kohlenmonoxid in einem Bergwerk die Stilllegung der Arbeit | |
| vorschreiben. Die Arbeitgeber aber hätten die Messgeräte, die den | |
| Kohlenmonoxidgehalt in der Luft anzeigen, manipuliert. Alles was für sie | |
| zählte, war der Profit. | |
| ## Hatte Ihr Sohn je darüber nachgedacht, die Arbeit als Bergwerkarbeiter | |
| zu kündigen? | |
| Ja, sobald er eine bessere Arbeit gefunden hätte. Dreieinhalb Jahre war | |
| mein Sohn dort tätig. Am Ende jeder Arbeitssaison erhalten die Arbeiter | |
| zusätzlich zum Gehalt eine Ration Kohle. Uğur sagte zu mir: „Lass mich noch | |
| diese Ration Kohle erhalten, dann höre ich dort auf Vater“. Es war nicht | |
| mehr lange hin. Ich hatte meinem Sohn diese Arbeit selbst besorgt. Er hatte | |
| geheiratet und musste für seine Familie sorgen. Eigentlich hat er eine | |
| Ausbildung zum Buchhalter gemacht, aber leider keinen Job gefunden. Ich bin | |
| auch Bergarbeiter, ich wusste um die Risiken. | |
| ## In Soma gehen wohl die meisten Männer, die einen Job suchen, zu dem | |
| dortigen Bergwerk. | |
| So ist es. Früher haben wir Tabak und Rüben angebaut, aber die | |
| Landwirtschaft wurde zerstört. Da blieb uns nur noch das Bergwerk. Sie | |
| haben geknechtet. | |
| ## Haben Sie unter Tage je einen Arbeitsunfall gehabt? | |
| Im Jahr 2000, da war Uğur erst 12 Jahre alt, wurde ich während einer | |
| Nachtschicht verschüttet. Ich habe mich schwer verletzt und hatte viele | |
| Knochenbrüche. Als im Krankenhaus zu mir kam, war mein Sohn bei mir. Er | |
| sagte: „Du schaffst das schon.“ Ich war sechs Monate arbeitsunfähig. Es | |
| schmerzt mich, dass ich meinem Sohn nicht beistehen konnte. Sie müssen | |
| schrecklich gelitten haben. | |
| ## Nach dem Unglück war der damalige Ministerpräsident Erdoğan vor Ort. | |
| Gegen seinen Besuch wurde protestiert. | |
| Kein Wunder. Es ist nicht zu fassen, dass sein Berater Yusuf Yerkel einen | |
| Demonstrierenden getreten und Erdoğan einen anderen geohrfeigt hat. | |
| (Erdoğan flüchtete sich vor den Buhrufen in einen Supermarkt. Auf Videos | |
| ist ein Handgemenge zu erkennen, wobei ein körperlicher Übergriff durch | |
| Erdoğan dementiert wird, Anm.d.Red.). Besonders verletzend war Erdoğans | |
| Aussage ‚Unfälle passieren eben‘ und dass er das Ereignis in Soma mit | |
| Arbeitsunfällen in englischen Minen im 19. Jahrhundert verglich. Dabei | |
| hatten Regierungsvertreter nach dem Grubenunglück in Chile gespottet, sie | |
| hätten die Kumpel in zwei Tagen befreien können. | |
| ## Drei Jahre nach dem Unfall läuft das Gerichtsverfahren immer noch. | |
| Ich glaube nicht, dass es sich noch um ein faires Verfahren handelt. | |
| Schließlich wurden auch auf politischer Ebene keine Konsequenzen gezogen. | |
| Ob im Energieministerium und Arbeitsministerium, bei der Geschäftsführung | |
| der Vereinigung der Bergwerksarbeit oder den türkischen Kohlebetrieben – | |
| niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. 38 Tage vor dem Minenunglück hatte | |
| Inspektoren des Energieministeriums dem Bergwerk in Soma ein Bestzeugnis | |
| ausgestellt. | |
| ## Was erwarten Sie von dem Gerichtsverfahren? | |
| Egal, wie das Urteil lautet, wir werden eine Instanz weiter gehen, bis zum | |
| Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wir werden alles in unserer | |
| Macht Stehende tun, damit auch die Verantwortlichen im Staatsapparat | |
| verurteilt werden. Die gesamte Schuld wird auf fünf Ingenieure und ein | |
| technischen Mitarbeiter abgewälzt. Und nun versuchen sie das Massaker sogar | |
| der FETÖ in die Schuhe zu schieben. Es heißt, es handle sich um Sabotage | |
| eines Arbeiters, der den Brand verursacht hat. | |
| ## Wie sind die Familien in diesem Verfahren zusammengekommen? | |
| Wir haben uns organisiert. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die zur | |
| Kondolenz nach Soma anreisten, haben uns dazu bewegt. Wir haben in Istanbul | |
| Kamil Kartal, den Soma-Vertreter des Vereins für soziale Gerechtigkeit, | |
| kennengelernt und den Beschluss gefasst, alle 301 Familien zu kontaktieren | |
| und dies auch getan. | |
| ## Mit welchen Schwierigkeiten waren Sie konfrontiert? | |
| Die Stadthaltung hat kurz nach dem Unfall die Einreise nach Soma nur noch | |
| für Geistliche gestattet. Nur ihnen war es gestattet, die Opferfamilien zu | |
| besuchen. Dabei haben sie den Familien ständig in den Ohren gelegen: „So | |
| ist nun mal das Schicksal, das war Gottes Wille.“ Die Geistlichen legten | |
| den Familien nahe, keine Gotteslästerung zu betreiben, nicht an die Presse | |
| zu gehen, keine Interviews zu geben und an keinen Protesten teilzunehmen. | |
| Sonst würde ihnen das Einkommen, das Essen und die Kohle gekürzt werden. | |
| Doch mit diesen Drohungen konnten sie bei mir nichts ausrichten. Ich habe | |
| nichts mehr zu verlieren. Ich vermute, dass sich manche Familien auf einen | |
| Deal mit dem Arbeitgeber eingelassen haben. 40 Familien haben sich an der | |
| Klage nicht beteiligt. Auch mit unserer Familie setzte sich das Unternehmen | |
| in Verbindung, allerdings haben meine Frau und meine Schwiegertochter sie | |
| aus dem Haus gejagt. | |
| ## Der Staat hat für Ihren Sohn und seine Kollegen ein „Märtyrergrab“ | |
| errichten lassen. | |
| Der Staat spricht von „Märtyrern“, aber erteilt ihnen nicht den rechtlichen | |
| Status eines Märtyrers. Es geht mir persönlich nicht ums Geld, aber solange | |
| diese Menschen rechtlich nicht als Märtyrer eingestuft werden, erhalten die | |
| Familien auch keine finanzielle Unterstützung. Die Regierung hält nicht die | |
| Versprechen, die sie gab. Dabei hatte der damalige Energieminister Taner | |
| Yıldız rumgetönt, dass sie alle Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen | |
| werden, auch wenn sie die Söhne ihrer Väter seien. Die Verurteilung der | |
| Inspektoren seines Ministeriums gestattet er aber nicht. | |
| ## Welche Aktivitäten sind für den diesjährigen Jahrestag geplant? | |
| Es gibt einen Gottesdienst auf dem Friedhof, anschließend eine | |
| Andachtsfeier. Die Familien der Todesopfer veranstalten jedes Jahr eine | |
| Demonstration mit Kundgebung. In diesem Jahr wurde dem Protest zuerst | |
| stattgegeben und anschließend verboten. Diverse Parlamentsabgeordnete und | |
| die Sicherheitsbehörde der Provinz wurden eingeschaltet, schließlich kam | |
| man zu einer Übereinkunft. | |
| 12 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Kutlu Esendemir | |
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