# taz.de -- Eine Kurzgeschichte: Anleitung zum Kielholen | |
> Unreflektierte Gender-Identifikation, Hells Angels, Meeresungeheuer und | |
> Karpfenangler. Ein kleines Bestiarium. | |
Bild: Der Seestern, Facehugger der Ostsee | |
Mein Fernbus kam am Nachmittag an. Ich hatte mich nahezu verflüssigt. Die | |
Klimaanlage war während der Vierstundenfahrt ausgefallen, weil ein | |
Reisender in einer der Bus-Steckdosen einen Kurzschluss verursacht hatte. | |
Es war sehr stickig und der Körpergeruch der Fahrgäste hatte sich mit dem | |
Uringestank aus der Bordtoilette gemischt. Was für eine Erleichterung, als | |
die Türen sich öffneten und eine frische Brise direkt aus der Förde durch | |
den Wagen wehte. Ich verließ den Bus als Letzter, nahm meine | |
Rucksackreisetasche in Empfang und stiefelte los. | |
Der letzte Taucheinsatz lag eine Weile zurück und ich war seitdem nicht | |
mehr hier gewesen. Die Einheimischen hatten sich verändert. Sie liefen wie | |
ferngesteuert mit gesenkten Köpfen umher. Auch auf Grünflächen und in | |
Parks: Gestalten mit gebeugten Häuptern, zuweilen in Gruppen herumstehend. | |
Autos hielten am Wegesrand und heraus stiegen wortlos Menschen mit nach | |
unten gerichtetem Blick. Sie hatten Handys in der Hand. Ich hatte schon von | |
Pokémon go gehört, aber an diesem Tag sah ich zum ersten Mal eine ganze | |
Stadt voller Pokémon-Zombies. | |
Es war später Sommer. Die untergehende Sonne tauchte die Dächer Kiels in | |
ein warmes Gelb-Orange-Rot, das nach und nach von einer kräftiger werdenden | |
pinkvioletten Korona umrahmt wurde. Wir saßen zu dritt unter Valeries | |
Mansardendachbalkon und blickten über die Stadt, dem Geschrei eines | |
Möwenpärchens lauschend, das direkt am Dach nistete. Es war sich nicht | |
sicher, ob wir friedlich waren oder imstande, seiner Brut etwas zuleide zu | |
tun. Im Hafen trötete ein Schiffshorn. | |
„Georg ist am Boden zerstört. Marieke hat sich von ihm getrennt, weil sie | |
von seiner Affäre mit Julia erfahren hat. Stefan hat ihr ein Bild von der | |
Party bei Julia geschickt, er hat Georg mit Miriam beim Ficken auf der | |
Toilette erwischt und ein Foto gemacht, auf dem man Georgs Schwanz noch in | |
Miriam stecken sieht und die beiden ziemlich doof gucken.“ Noch gar nicht | |
richtig angekommen, steckte ich schon tief im Tratsch der Stadt. | |
## Höllenengel | |
Valerie und Daniel schienen schon eine ganze Weile auf dem Dach gewesen | |
sein, neben ihren Liegestühlen standen jeweils 3 leere Bierflaschen. Ich | |
hatte erst seit Kurzem wieder Kontakt zu Valerie und vom Hafen mal | |
abgesehen keine Ahnung von Kiel und wer Georg, Miriam und Marieke waren. | |
„Marieke hat ihn aus dem Haus geworfen, er ist jetzt nach Gaarden gezogen, | |
40 Quadratmeter, die Kinder bleiben bei ihr.“ | |
Die klassische Geschichte. Alle begeben sich in ihre angelernten | |
Geschlechterrollen. Heiraten muss sein. Die Beziehung reicht irgendwann | |
nicht mehr, um das Bedürfnis an Aufmerksamkeit, Bestätigung und wildem Sex | |
zu decken. Die innere Leere zu füllen. Affären müssen her. Georg tat mir | |
leid. Er wird irgendwann feststellen, dass er mit seinen Kindern leben und | |
seine Rolle ändern möchte. Marieke wird das aber nicht wollen. Weil er sich | |
ja vorher auch nicht um die Kinder gekümmert hat und sie ihn nicht mehr | |
mag. Sie tat mir auch leid. Sie werden sich streiten. Auf dem Rücken ihrer | |
Kinder, die mir am meisten leid taten. Sie alle werden später eine gute | |
Therapie brauchen. | |
„Ich verstehe nicht“, sagte Daniel, „warum Marieke sich so aufregt, sie | |
hatte doch selbst drei Affären oder zwei, wenn man Andreas mal abzieht, den | |
Hells Angel, den sie sich über Tinder angelacht hat und den sie immer noch | |
versucht, sich vom Hals zu halten. Und die waren beide verheiratet und | |
einer hatte selbst auch Kinder.“ „Ein Hells Angel“, fragte ich, „in Kie… | |
„Ja. ’92 wurde hier in einer Lagerhalle nach der einbetonierten Leiche | |
eines Mannes gesucht, den die Angels umgebracht haben sollen; konnten sie | |
aber nicht finden. Verboten wurden die Hells Angels trotzdem, aber die | |
Küste ist immer noch unter ihrer Kontrolle.“ | |
„Was meinst du mit ‚unter Kontrolle‘?“ „Schutzgelder, Prostitution und | |
solche Sachen. Was die eben so machen.“ Während wir weiterredeten, | |
versuchte ich mir vorzustellen, wie die Hells Angels einen distinguierten | |
schleswig-holsteinischen Fischrestaurantbesitzer um Schutzgelder erpressen, | |
aber das ging nicht, immer hatte der Hells Angel am Ende ein Fischmesser im | |
Bauch oder wurde mit dem Regenschirm einer Restaurantbesucherin im Hintern | |
aus der Stadt gejagt. | |
Das waren nichts als positive Vorurteile, das Schleswig-Holstein meiner | |
Kindheit, das Echo einer nur in der Illusion eines Kindergehirns | |
existierenden heilen Welt. „Natürlich ist es genauso sinnvoll, die Hells | |
Angels zu verbieten wie die NPD. Ihnen nicht zu erlauben, ihrem | |
antisozialen und menschenverachtenden Treiben den Anstrich von Legitimität | |
zu verleihen. Aber so ein Verbot kann ja immer nur eine Pro-forma-Funktion | |
haben. Wer glaubt, dass irgendwas nur durch ein Verbot aufhört zu | |
existieren, muss ganz schön naiv sein.“ Daniel und ich nickten stumm. | |
Am nächsten Morgen klingelte der Wecker um halb sechs. Im Tauchlager | |
packten wir die Ausrüstung zusammen und hängten das Schlauchboot an die | |
Pritsche. Im Hafen angekommen, verluden wir alles auf den Kutter und | |
stachen in See. Schönes Wetter, die Ostsee begrüßte uns mit offenen Armen | |
und einer sanften Brise. Wir brauchten eine Stunde, bis wir den Einsatzort | |
in der Hohwachter Bucht erreicht hatten. | |
Wir gingen vor Anker. Prüften den Flaschendruck, legten die Anzüge an, | |
ließen das Schlauchboot zu Wasser und packten die Ausrüstung ins Boot. | |
Unser Auftrag: Steine zählen, Proben nehmen, eine Sedimentbestimmung | |
vornehmen und den Bewuchs dokumentieren. Wir waren zu viert. Sabina und | |
Jens1 gingen zuerst ins Wasser, Jens2 war der Einsatzleiter. Als | |
Sicherungstaucher musste ich in voller Montur auf dem Boot sitzen. Der | |
Fahrtwind fehlte jetzt, die Sonne brütete. | |
## Apocalypse Now | |
Jens2 schälte sich halb aus seinem Anzug, trug Sonnenmilch auf, setzte | |
seine Sonnenbrille auf, stellte sein Handy laut und legte sich so ins Boot, | |
dass er noch gut sehen konnte. Ich musste lachen. „Apocalypse Now“ auf der | |
Ostsee. Ich schaufelte mir ab und an eine Ladung Wasser ins Gesicht, bis | |
die beiden wieder hochkamen. Wir holten Sabina und die an Hebesäcken | |
hängenden Proben an Bord. Ich verabredete mich mit Jens1 unten am | |
Grundgewicht. | |
Dies war mein erster Alleintauchgang am Blubb, einer langen, wurstförmigen | |
Boje. Nach dem Abtauchen fand ich am Grund keinen Jens1. Die Sicht war | |
schlecht, sie betrug etwa einen halben Meter. Auf halber Strecke zu meinem | |
Arbeitsplatz tauchte aus dem Nichts Jens1 auf. Er wedelte mit seinem | |
Tauchermesser. Etwas näher an ihn herangetaucht sah ich, dass auf seinem | |
Messer eine dicke Scholle steckte. Sicher wollte er für das prächtige, | |
aufgespießte Schollenmädchen gelobt werden, aber ich bin Vegetarier. Also | |
kein Lob. An meinem Bestimmungsort angelangt, löste ich die Kamera vom | |
Karabiner und flog, so gut es ging die Strömung ausgleichend, über meinen | |
Quadranten, um Fotos zu machen. Eine Bahn hin, wenden, eine Bahn zurück, | |
wenden und so weiter. | |
Zum Schluss widmete ich mich einer Bewuchsplatte, die noch ziemlich nackt | |
war, von ein paar kleinen Algen und Seesternen einmal abgesehen. Seesterne | |
sind widerliche Tiere. Wenn sie Hunger bekommen, setzen sie sich auf ihre | |
Lieblingsspeise, die Miesmuschel. Die schließt sich bei Gefahr, muss sich | |
aber nach einer Weile wieder öffnen, um frisches Wasser zum Atmen | |
einzulassen. Wenn sie das tut, stülpt der Seestern seinen Magen in die | |
Muschel hinein und verdaut sie lebend in ihrer eigenen Schale. Ähnlich den | |
Facehuggern in Ridley Scotts „Alien“. Man stelle sich vor, wir Menschen | |
täten das mit den Kühen auf der Weide. | |
Die Arbeit war erledigt, ich hatte noch neunzig Bar Luft und ein bisschen | |
Zeit. Die Kamera kam wieder an ihren Karabiner. Da fiel mein Blick auf eine | |
Liocarinus holsatus, eine glatte Ruderkrabbe, nicht ganz ausgewachsen, die | |
hinter einem Stein hervorkam, um mich besser sehen zu können. Mein linker | |
Fuß musste arbeiten, um die Strömung halbwegs auszugleichen und die | |
Position zu halten. Ich schwebte 20 cm über dem Boden. Die Krabbe starrte | |
mich regungslos verharrend an. Auge in Auge. | |
Schwebeteilchen strömten an uns vorbei. Hier unten, in neun Metern Tiefe, | |
dehnte sich die Zeit. Sie schien durch mich hindurchzufließen. Zwischen | |
Sediment, dem jahrhundertelang von den Wassermassen geschliffenen und | |
bewegten Gestein, und der kleinen Krabbe als direktem Nachfahren der | |
Saurier offenbarte mir dieser Moment die Union der Zeiten, Schicksale und | |
Elemente. Bis die Krabbe genug hatte vom Sich-gegenseitig-Anstarren, ihre | |
Scheren hob, auf mich zustürmte und direkt vor mir innehielt. Was für ein | |
mutiges Tier. Ich richtete einen Finger auf sie. Das genügte, um sie, eine | |
Wolke aus aufgewirbeltem Sand hinterlassend, hinter ihren Stein | |
zurückzuscheuchen. Was für ein kluges Tier. | |
## Benson | |
Der Tag sollte noch lang werden. Zum Mittagessen auf dem Kutter hatte der | |
von allen gefürchtete Schiffskoch Berge von Fleisch und die Scholle von | |
Jens1 zubereitet, den Vegetariern blieb nur der Blumenkohl. Danach folgten | |
weitere Tauchgänge bis zur Dämmerung. Die Kapitän beschloss, dass es zu | |
spät sei, um in den Hafen zurückzukehren, und so blieben wir vor Ort. | |
Erschöpft setzten wir uns bei Sonnenuntergang zu einem gemeinsamen Bier | |
aufs Oberdeck und legten die Füße hoch. Sabina erzählte, dass sie zur Gay | |
pride nach Berlin fahren wolle. Es war sehr angenehm, nicht nur in | |
Gesellschaft der sonst eher testosterongesteuerten Kollegen zu sein. Ich | |
fragte Jens1 nach seiner Scholle. | |
„Lecker. Sie sind sehr leicht zu stechen. Die schwimmen nicht weg, wenn sie | |
sich bedroht fühlen, sondern tarnen sich und bleiben ganz ruhig liegen. Du | |
musst sie mit dem Messer direkt hinter den Augen erwischen und die | |
Mittelgräte durchtrennen, dann sind sie sofort tot. Karpfen fangen ist | |
schwieriger.“ „Hast du noch deine Ausrüstung?“, fragte Jens2. Jens1 war … | |
einer wichtigen Phase seines Lebens fanatischer Karpfenfischer gewesen. Er | |
hatte Zehntausende Euro in seine Ausrüstung investiert, deren | |
erstaunlichster Bestandteil aus einem Baitboat bestand; einem | |
ferngesteuerten Futterboot, das der Karpfenangler mit dem Köder belädt, um | |
ihn an einer geeigneten Stelle auszubringen. | |
Ich lernte, dass es den richtigen Karpfenanglern gar nicht um das Essen der | |
Fische ging. Wenn der Fisch gefangen ist, wird er nicht getötet, sondern | |
gewogen, vermessen und fotografiert. Danach versorgt der Fänger die Wunde, | |
die der Angelhaken gerissen hat, mit Klinik, einer Wundsalbe, und lässt ihn | |
wieder frei. Den besonders widerstandsfähigen Tieren geben sie Namen. Als | |
Benson in Großbritannien starb, ein 30-Kilo-Karpfen, der in 25 Jahren | |
63-mal gefangen worden war, versammelte sich die Karpfenfischergemeinde zu | |
einer großen Trauerfeier. | |
In meinem Gaumen breiteten sich Phantomschmerzen aus. Als Jens1 mein | |
Gesicht sah, gab er sich sinnlos Mühe, mir zu erklären, dass der Haken den | |
Karpfen keinen Schmerz bereitet. Er sprach langsam, wir waren alle sehr | |
müde geworden und zogen uns nach dem letzten Bier zurück in unsere Kajüten. | |
Ich fühlte mich in der sargähnlichen Enge meiner Koje ganz wohl. Das Meer | |
leckte am Bullauge, das Rollen des Schiffs und die vibrierenden | |
Laufgeräusche des Schiffsgenerators tuckerten mich in den Schlaf. | |
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immer Donnerstags in der Printausgabe der taz | |
21 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Ulf Schleth | |
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