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# taz.de -- Kulturgeschichte des Schafs: Sanftmütige Großmacht
> Naturkunde als hinreißende Erzählung: Eckhard Fuhrs „Schafe. Ein
> Portrait“ führt uns von der Jungsteinzeit bis zur geklonten Dolly.
Bild: „Kulturell bleibt das Schaf eine Großmacht“
Die von Judith Schalansky herausgegebene Reihe „Naturkunden“ bei Matthes &
Seitz ist zu Recht viel gerühmt worden. Das liegt nicht nur an der
anspruchsvollen Ausgestaltung der einzelnen Bände, sondern auch daran, dass
in jedem einzelnen von ihnen die Naturkunde zugleich auch immer eine
Kulturkunde ist, der Erkenntnis gemäß, dass die Grenze zwischen dem
„Natürlichen“ und dem „Kulturellen“ nur sehr schwer auszumachen ist.
Fast nirgends wird das deutlicher als bei Eckhard Fuhrs Portrait über
Schafe. „Ökonomisch mag die Schafwirtschaft bei uns marginalisiert sein.
Kulturell bleibt das Schaf eine Großmacht“, heißt es gleich auf der zweiten
Seite, und das ist der rote Faden, der sich durch das gesamte Buch zieht.
Uns kultivierten Städtebewohnern fallen beim Thema Schaf natürlich zuerst
bukolische Szenen ein, die Hirtendichtung der Renaissance und des Barock,
und die ganz Belesenen mögen an Samuel Becketts Werk denken, in dem Schafe
und Lämmer eine überraschend große Rolle spielen. Auch in der Literatur,
könnte man sagen, ist das Schaf eine Großmacht, und das schlägt sich
unmittelbar in Fuhrs Buch nieder.
Denn man kann, ja man sollte sein Portrait über „das Doppelgesicht des
Schafes“ als Erzählung lesen. Diese Erzählung beginnt mit der wilden Urform
des Schafs, dem Mufflon, und nimmt ihren Fortgang mitten im Nordatlantik,
westlich der äußeren Hebriden. Dort, auf den seit 1930 von Menschen
unbewohnten Inseln des St.-Kilda-Archipels, leben bis heute Schafe, „die
ohne den Menschen den Sprung auf diese entfernten Felseninseln im Atlantik
nie geschafft hätten“. Seefahrer aus der Jungsteinzeit, so vermutet man,
müssen die Schafe auf diese Inseln gebracht haben. Die Jungsteinzeit stellt
etwa 10.000 Jahre v. Chr. den Beginn des Übergangs von den Jägern und
Sammlern zu Ackerbau und Viehzucht dar, das heißt also auch den Beginn der
Domestikation bis dato wilder Tiere.
## Multifunktionaler Leistungsträger
Bei diesem Übergang vom Wild zum Nutzvieh, so führt Fuhr seine Erzählung
fort, bilden das Schaf und seine Schwester, die Ziege, die Avantgarde.
Knochenfunde belegen außerdem, dass schon früh Lämmer geschlachtet wurden.
An dieser Stelle entfaltet Fuhr ein schönes Pathos: „Man schöpfte den
Zuwachs der Schafherde ab, betrachtete diese Herde also als eine produktive
Ressource. Die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser mentalen und
intellektuellen Revolution ist kaum zu überschätzen. Es ist trotz Raumfahrt
und Digitalisierung immer noch der größte Schritt, den die Menschheit je
gemacht hat.“
Als Wiederkäuer stellen Schafe ihre eigene Nahrung her und sind nicht, wie
andere landwirtschaftliche Nutztiere, auf agrarische Überschüsse
angewiesen, um satt zu werden. Diese so sanft blickenden – und zuweilen
erschreckend laut blökenden – Tiere weisen also eine hohe Nutzungseffizienz
auf. Deren wirkliche Tragweite wurde allerdings erst rund dreitausend Jahre
nach dem Beginn der Domestikation entdeckt: dass Schafe auch Milch und
Wolle geben, während zuvor nur ihr Fleisch und ihre Häute genutzt wurden,
war ein weiterer wesentlicher Erkenntnisschritt. „Das Hausschaf wandelte
sich vom lebenden Fleischvorrat der Jungsteinzeit zu einem
multifunktionalen Leistungsträger der europäischen Zivilisation.“
Bevor Fuhr seine Erzählung fortschreibt und die Folgen dieser
Multifunktionalität schildert, gibt es ein Intermezzo über die religiöse
Symbolik, die mit dem Schaf verbunden ist. Bekanntlich ist das Lamm die
Personifikation der geopferten Unschuld. Christus hat als Lamm Gottes die
Sünden dieser Welt auf sich genommen. Niemand hat das Lamm hinreißender
dargestellt als der spanische Barockmaler Francisco de Zurbarán. Eines
seiner Agnus-Dei-Bilder stellt als Doppelseite vielleicht den illustrativen
Höhepunkt dieses an schönen Bildern wahrlich nicht armen Buches dar.
Die Vielfalt des Lamms – dessen Verzehr übrigens in keiner Weltreligion
tabu ist – als religiöses Symbol erschöpft sich nicht in der Opferrolle: Es
wird auch angebetet. Wo dann der Mensch selbst an die Stelle Gottes tritt,
beim Schaf Dolly, dem ersten geklonten Säugetier, ist vom Agnus Dei nichts
mehr übrig. „Demut und Hybris“, schreibt Fuhr dazu, „kommen gleichermaß…
im Schafspelz daher.“
Zurück zur Geschichte von Schaf und Mensch. Es ist das Merinolandschaf, das
den modernen Typus des Nutztiers Schaf darstellt. Die Merinos waren
ursprünglich in Spanien beheimatet und unterlagen lange einem strengen
Exportverbot. Nach dessen Aufhebung war es unter anderem der Herzog Karl
Eugen von Württemberg, der 1876 Merinos in sein Land holen ließ: einer der
Gründe, warum die Schwäbische Alb noch heute eine der Hochburgen der
deutschen Schafzucht ist.
## Schaf wird Menschenfresser
Als Merinolandschaf tritt das Tier gewissermaßen in die kapitalistische
Moderne ein und wird zum Menschenfresser. Die beginnende industrielle
Textilindustrie braucht Wolle, und die Schafe brauchen massenhaft
Weideland, was zur massenhaften Vertreibung der Bauern von ihrem Ackerland
und zu dessen Verwandlung in Weideland führt. Die Einzelheiten lassen sich
in dem spannendsten Stück Prosa nachlesen, das Karl Marx geschrieben hat,
dem 24. Kapitel von „Kapital“, Band 1, über die sogenannte ursprüngliche
Akkumulation.
Die große Zeit der Wolle ist heute jedoch längst vorbei. „Schäfer
produzieren heute vor allem Lammfleisch und öffentliche Güter in Form von
Landschaftspflege“, schreibt Fuhr. „Das sind die beiden Säulen ihrer
ökonomischen Existenz. Die Schafe wurden züchterisch den neuen Bedingungen
angepasst.“
Seit ein paar Jahren haben sich die Bedingungen mit der spürbaren Rückkehr
des Wolfs allerdings verschärft. Das System Schaf – Schäfer – Hütehund
funktioniert nicht länger störungsfrei, die Weidewirtschaft ist gefährdet.
Zum Hütehund kommt heute immer mehr der Herdenschutzhund, der in der
Schafherde aufwächst und von den Schafen als Artgenosse akzeptiert wird. Wo
er eingesetzt wird, erweist sich das als sehr effektiv. Allerdings gibt es
Ausnahmen seines Einsatzes, den Deich und die Almwirtschaft im Hochgebirge.
„Ohne Hirten geht es nicht“, schreibt Fuhr. Das ist aber auch nicht das
Problem. Die Schäferei kennt keinen Nachwuchsmangel. Junge Frauen ebenso
wie ältere Männer interessieren sich für diesen Beruf und besuchen
Schäferschulen. Entscheidend für die Rolle des Schafs heute ist dies: „Das
Schaf steht nicht in großen Tierfabriken. Es hat sich fabrikmäßiger Nutzung
bis heute entzogen, auch wenn seine Wolle ein Treibstoff der
Industrialisierung war. Dabei kam ihm zugute, dass bei ihm durch
Intensivierung keine erheblichen Ertragssteigerungen zu erzielen sind.“
So wird das Schaf zwar nicht zum Einzelgänger, aber zum Symbol für den
Widerstand gegen Massentierhaltung und Agrarindustrie. Es lässt sich nicht
vereinnahmen. „Folgen wir also den Wegen der Schafe mit Neugier und mit
Zuversicht“, beendet Fuhr seine Erzählung. Durch die Lektüre dieses
hinreißenden Buchs können wir gleich damit anfangen.
15 May 2017
## AUTOREN
Jochen Schimmang
## TAGS
Kulturgeschichte
Schafe
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