# taz.de -- Mit Kindern im belgischen Mechelen: Heavy Metal in der Spielzeugsta… | |
> Mechelen zwischen Brüssel und Antwerpen nennt sich „familienfreundlichste | |
> Stadt Flanderns“ – mit guten Gründen und vielen Ideen. | |
Bild: Kinder lieben „Opsinjoorke“, das Maskottchen von Mechelen | |
Arno aus Köln, mit 7 Jahren der Jüngste unserer Gruppe, traut sich als | |
Erster. Hoch oben im St.-Rombouts-Turm darf er ans Glockenspiel und | |
bearbeitet mit seinen kleinen Fäusten die Holzstöcke des Manuals. Timothy, | |
Absolvent der Königlichen Glockenspielerschule in Mechelen, führt die | |
Hände. Eine kurze Kindermelodie erklingt. Arno strahlt, die Mama lächelt. | |
Dann darf Siri (11) aus Berlin ran, schließlich Lionel (10) aus Aachen, die | |
beide schon einzelne Tonfolgen allein schaffen. Timothy lässt danach den | |
„Tanz der Mägde“ folgen, das ist Ganzkörperarbeit (Pedale inklusive) zu | |
sehr anspruchsvoller Partitur: Ding – Dong – Wumm – Dingeling – Whommmm: | |
Heavy Metal aus dem Vorgestern. | |
Der Turm der gotischen Kathedrale ist das wuchtige Wahrzeichen von | |
Mechelen, 97 Meter hoch, 538 ausgetretene Steinstufen. Unterwegs, nach 160 | |
Stufen schon, hatten wir in der Krankammer samt ihrem riesigen hölzernen | |
Laufrad Halt gemacht. Ein Dutzend Menschen lief darin bis 1930 hamsterartig | |
Akkord, um Material und Glocken in die Höhen zu hieven. Der dickste Pieter | |
heißt Salvator, wurde 1498 gegossen und wiegt 8,8 Tonnen. Die gleich zwei | |
kompletten Glockenspiele von Mechelen kommen auf 78 Tonnen. | |
Oben, beim wolkenlosen Rundblick, staunt Siri: „Das ist ja ’ne | |
Spielzeugstadt.“ Am Horizont sieht man das Atomium von Brüssel, in der | |
anderen Richtung das AKW Doel. „Tihange et Doel – stop, stop, stop“; Lion… | |
kennt die Rufe noch von der ersten Demo seines Lebens neulich in Lüttich. | |
Stadtführerin Florie fragt die Kinder, warum der Turm wohl keine Spitze | |
habe. „Damit man besser gucken kann“, sagt Arno sehr pragmatisch. Lionel | |
blättert schnell im Besucherführer mit den Extrainfozeilen für Kinder. „Ich | |
weiß: Die hatten irgendwann kein Geld mehr.“ | |
Mechelen verkauft sich als „familienfreundlichste Stadt Flanderns“. Eine | |
gute PR-Idee mit vielen Ideen. Es gibt Stadttouren, bei denen nicht die | |
Alten ihre Kids mitschleifen, sondern die Kinder Fremdenführer ihrer Eltern | |
sind. Unsere drei gerieten indes bald in einen Richtungsstreit („Nein, da | |
ist Süden, nach links …“) –, so verpassten wir Springbrunnen und den | |
Original-Rubens in der Kathedrale. | |
## Das Vorzeigekinderklo | |
Bei einer Verkostungsrallye bekommt man in diversen Geschäften | |
stadtspezifische Schokolade oder Kekse in Turmform geschenkt, ein Eis oder | |
ein Stück Apfeltorte, gebacken mit Mechelener Golden Carolus Bier. | |
Infomaterialien haben kinderspezifische Fragen, Sagengeschichten, kleine | |
Aufgaben und Suchrätsel. Am prachtvollen Grote Markt entdecken wir am | |
Rathaus das Vorzeigekinderklo der Stadt: alles kleiner und tiefer gelegt | |
mit besonders niedriger Tür, damit bloß kein Erwachsener leicht da | |
reinkäme. | |
Erwachsene staunen über zwei andere Besonderheiten dieser kleinen Stadt: | |
Bürgermeister Bart Somers, 52, wurde im Februar von der City Mayors | |
Foundation in London zum Weltbürgermeister 2016 gewählt: für vorbildliche | |
Integration von MigrantenInnen durch einen Spagat aus Nulltoleranz und | |
intensivem Kümmern. | |
Und Mechelen hat die Kaserne Dossin, einst SS-Sammellager für belgische | |
Juden, zu einer musealen Gedenkstätte umgebaut: Hier lernt man, dass fast | |
26.000 der etwa 30.000 aus dieser Kaserne nach Auschwitz „mit wohlwollender | |
Unterstützung der belgischen Behörden“ deportiert wurden. Andersherum sind | |
die Zahlen noch beeindruckender: BelgierInnen haben während der NS-Zeit | |
30.000 der 60.000 Juden im Land versteckt, in Kellern und auf Bauernhöfen – | |
und so gerettet. Jeder Zweite! Das ist die höchste Quote aller Länder in | |
Westeuropa. | |
Seit zwei Jahren versucht die Stadt, Hotels und Restaurants zu Mitstreitern | |
ihrer Familienkampagne zu machen. Das blaue Stadtlogo „kinderfreundlich“ | |
bekommt, wer eine Reihe von Kriterien erfüllt: in Restaurants | |
Sitzmöglichkeiten, Spielecken, Halbportionen aller Gerichte, Extrateller | |
bei Mitessern, Flaschenwärmer, niedrige Pissoirs; in Hotelzimmern genügend | |
Platz für Extrabetten, ein Spielekoffer, eigene Kinderbufetts. Dass erst | |
zehn Restaurants mitmachen, findet auch Stadtführerin Florie „nicht so sehr | |
viel“, andererseits: „Viele gucken erst, was das beim Nachbarn bringt. | |
Einzelne wollen ausdrücklich nicht. Und das ist auch okay.“ | |
Das überbordende Spielzeugmuseum beglückt mit Blechspielzeug, | |
Teddybärparaden und Puppenstuben durch die Jahrhunderte, das gibt | |
dutzendfache Jugenderinnerung für fast jede Generation, auch ältere: „Guck | |
mal, 70er, wie schrecklich …“ Siri jubelt bei den Rock ’n’ Roll tanzend… | |
Bären und vor dem lebensgroßen Harry Potter aus Lego. | |
## „Opsinjoorke“, das Stadtmaskottchen | |
Und dann gibt es die Geschichte von „Opsinjoorke“. Eine Puppe, die in | |
Mechelen traditionsgemäß mit einem Leinentuch durch die Luft geschleudert | |
wird, landete im Jahre 1775 einmal versehentlich auf dem Kopf eines | |
angesehenen Antwerpeners. Da man Antwerpener damals, nach spanischer | |
Herrschaft, gern mit Señor ansprach, war die Puppe eben op dem Señor | |
gelandet – und gilt seitdem als stolzes Stadtmaskottchen. Ein grellgelber | |
mehrere Meter hoher Riesen-Opsinjoorke neben der Kathedrale erweist sich | |
für unsere Kids als magnetisches Spielgerät. | |
Alles ist in der 82.000-Einwohnerstadt fußläufig erreichbar, bis auf | |
Technopolis, drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Wir hatten viel zu | |
wenig Zeit eingeplant für die 350 interaktiven Stationen – von | |
Roboterbasketball über Physikspiele, Flugsimulator, Dutzenden Wissens- und | |
Intuitionstests oder den Rollstuhlparcours durch eine Wohnung. So viel zu | |
gucken, zu probieren. Es blinkt, klingt, tutet, scheppert, surrt. In den | |
Laboratorien gab es als Tagesspezialität Löten (leider erst ab 12 Jahre) | |
und Superslime-Herstellung. „Jaaa … Slime …!“ Nix wie hin, Chemikerkitt… | |
an und grellbunt mischen, rühren, matschen. „Fahren wir morgen wieder hier | |
hin …? Bitte …!“ | |
In der Stadt wartet das Wasserpiano mit seinen 24 Wassersäulen auf Bewegung | |
am Ufer. Die Kids hüpfen und laufen armrudernd auf und ab, dann schießen | |
kurze Fontänen hoch. Überaus cool wie das kleine, kniehohe Labyrinth ein | |
Stück weiter. Das ist schnell dechiffriert und dann altersgemäß umgewidmet: | |
Man kann die Steinkanten wunderbar auch zum Balancieren nutzen. | |
Arno horcht plötzlich auf. „Sind das wieder unsere Glockenspieler?“, fragt | |
er unvermittelt, als ein neuer Klangteppich auf die Stadt niederschwebt. | |
„Und die hört man bis hierhin? Überall?“ Ja, sagen wir, in ganz Mechelen. | |
„Echt?“ Er zögert einen Moment. „Na, wie gut, dass wir uns gestern so vi… | |
Mühe gegeben haben.“ | |
14 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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