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# taz.de -- Die Wahrheit: Eine Matte wie einst Opa
> Neues aus Neuseeland: Im Gedenken an seinen Großvater trägt ein Junge
> lange Haare – und fliegt deshalb von der Auckland Grammar School.
Einige Jahre ist es her, dass ich in einem Flugzeug von Air New Zealand saß
und mir die Passagiere anschaute, die nach mir einstiegen. Das kommt
eigentlich alle paar Monate vor, aber dieses eine Mal war es anders. Was
vielleicht daran lag, dass ich gerade ein Wochenende lang eine Art
schamanisches Hardcore-Ritual durchlaufen hatte und die Welt um mich herum
entblößt wahrnahm. Wie ohne Filter. Ich sah die nackte Wahrheit, kurz vorm
Abheben.
Sie sahen proper aus. Mit dem Strich gebürstet. Ein nicht enden wollender
Strom aus jungen Frauen ergoss sich vom Eingang in den Mittelgang.
Wahrscheinlich war es die Hockeymannschaft einer teuren Privatschule, denn
alle Mädchen-Frauen trugen Blazer mit Wappen. Einige hatten auch
Ansteckschildchen am Revers, auf denen „House Captain“ und andere mir
fremde Titel standen, die irgendwas mit schulischem Rang zu tun haben. Die
Mädchen waren dekoriert wie Weihnachtsbäume. Bei Hanni und Nanni im
Internat gab’s das sicher auch. Rennpferde tragen ähnliche Rosetten
spazieren.
Das Faszinierende an dem Girlie-Club war jedoch, dass eine aussah wie die
andere. Egal ob klein oder groß, kräftig oder mager, dunkel oder hell –
jede trug die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. Was mein
schamanisch übersensibilisiertes Hirn wahrnahm, war: konform, konform,
konform.
Wie undenkbar wäre in dieser Reihe ein wilder Afro oder gar eine
ausrasierte Stoppelfrisur gewesen? Doch dann kam sie, die einsame Rebellin,
die der Einheitstracht zumindest obenrum trotzte: Eines der Mädchen hatte
keinen Pferdeschwanz, sondern sich die langen Haare zu zwei Dutts links und
rechts am Kopf gedreht, wie einst Prinzessin Leila. Welcher Mut zum
Individualismus sprach aus den beiden Knubbeln!
Tiefen Respekt habe ich daher vor dem 11-jährigen James Hunt aus Auckland,
der seine blonden, glatten Haare schulterlang trägt. Es ist eine
Reminiszenz an seinen Großvater Paul Hunt, der einen Tag vor James’ Geburt
plötzlich mit 55 Jahren starb – mit schulterlangen Haaren bis zum Tod. Opa
Hunt, ein Musiker, flog wegen seiner Mähne sogar einst von der Schule. Auch
an der Auckland Grammar School, die sein Enkel besucht, verstößt diese
Frisur gegen die Regeln. Es gab Ärger.
Der Schuldirektor weigert sich, für James trotz aller Opa-Nostalgie eine
Ausnahme zu machen. Sein Haare-ab-Diktat rief prompt Proteste von
bikultureller Seite hervor: Was ist mit polynesischen Jungs aus Tonga,
deren Haare traditionell in der Pubertät zum ersten Mal geschnitten werden?
Vor drei Jahren zog der 16-jährige Lucan Battison vors Gericht, weil er
wegen seines Pferdeschwanzes suspendiert wurde. Er gewann.
Darauf verweist auch James’ Mutter, die einen fünf Seiten langen Brief an
die Auckland Grammer School schrieb. Doch da lässt man sich nicht
erweichen. Da die Schulzugehörigkeit nach Zonen geregelt ist, muss Familie
Hunt sich jetzt nach einer neuen Bleibe in einem anderen Stadtviertel
umschauen. Haarige Zeiten.
4 May 2017
## AUTOREN
Anke Richter
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Kriegsverbrechen
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