# taz.de -- Debatte Fußballtaktik: It’s the kleine Nuancen, stupid! | |
> Guardiola und Ancelotti können machen was sie wollen – Bayern gewinnt | |
> meistens, mit oder ohne System. Der Rest ist Glück. | |
Bild: Kannste nix machen, kommt halt vor | |
Von Oscar Wilde stammt der Satz: „Denken ist das Ungesündeste der Welt.“ Es | |
ist nunmehr nicht überliefert ob Carlo Ancelotti, der momentan den Beruf | |
des Fußballtrainers beim FC Bayern München ausübt, ein eifriger Leser der | |
Oscar Wilde’schen Literatur ist. Als er jedoch von einem Reporter gefragt | |
wurde, wie er seine Mannschaft auf die Champions-League-Spiele gegen Real | |
Madrid vorbereite, sagte er in bester Wilde’scher Denktradition: „Wenn wir | |
zu viel nachdenken, können wir nicht schlafen – und wir brauchen in den | |
nächsten Tagen viel Schlaf.“ | |
In der Aufforderung des „Nicht-zu-viel-Denkens“ liegt die Essenz der | |
Ancelotti’schen Spielphilosophie. Ancelotti, der als Sohn eines Milch- und | |
Käsebauers in Norditalien aufwuchs, sagt damit, dass der Fußball, | |
ungeachtet aller modernen taktischen Entwicklungen, immer noch ein | |
einfaches Spiel ist. Er möchte seine Mannschaft nicht durch diffizile | |
taktische Überlegungen überfordern. | |
Ganz anders war da sein katalanischer Vorgänger Pep Guardiola. Beim | |
Super-Super-Super-Taktiker Pep hatte man stets den Eindruck, dass die | |
Vorbereitung auf ein Spiel mindestens so kompliziert wie die Heisenbergsche | |
Unschärferelation ist. Er sezierte die Gegner in wochenlangen Videoanalysen | |
bis in die hintersten Winkel ihrer Schwachstellen hinein und bestimmte | |
daraufhin das Positionsspiel seiner Mannschaft nahezu bis auf den | |
Zentimeter. | |
Seine Spieler mussten alle möglichen Systeme von 4-4-2 bis zum 3-5-2 aus | |
dem Effeff beherrschen. Sein Spielideal war übungsintensiv, er wollte durch | |
Ballbesitz die totale Kontrolle über das Spiel gewinnen. Lange Bälle, | |
Torschüsse aus großer Distanz und hohe Flanken in den Strafraum waren bei | |
ihm verboten. Seine Vision war es, die gegnerische Mannschaft durch endlose | |
Ballstaffetten majestätisch auszuspielen. | |
## Fehlende Frische | |
Guardiola mutierte zu einer Art Messias, der den deutschen Fußball durch | |
taktische Finessen ins 21. Jahrhundert katapultieren sollte. Seine | |
komplexen Spielphilosophien wurden im Feuilleton besprochen und führten zu | |
einer zunehmenden Intellektualisierung des Fußballs. Landauf, landab sprach | |
man in den Kneipen nicht mehr nur über Zweikampfverhalten oder | |
Laufbereitschaft, sondern verschob, so wie dies der Legende nach Guardiola | |
und Dortmunds Trainer Thomas Tuchel einst in einem Restaurant getan hatten, | |
Salzstreuer, Aschenbecher und Biergläser, um taktische Veränderungen im | |
Spielverlauf nachzustellen. | |
Und die Bayern spielten ja auch einen wunderschönen und erfolgreichen | |
Fußball, schickten ihre Gegner mit 6:0, 7:0 oder gar 8:0 nach Hause und | |
wurden mit gefühlt 100 Punkten Vorsprung Deutscher Meister. Es war der | |
nahezu perfekte Fußball, aber eben nur nahezu, denn Guardiola scheiterte | |
mit seinen Bayern dreimal hintereinander im Champions-League-Halbfinale an | |
spanischen Gegnern. Kritiker warfen Pep Guardiola vor, seine Mannschaft mit | |
all seinen sublimen taktischen Überlegungen überfordert zu haben. In den | |
entscheidenden Spielen habe ihr deswegen die körperliche und geistige | |
Frische gefehlt. | |
Carlo Ancelotti hat die Spielweise der Mannschaft grundlegend verändert. | |
Lange Bälle auf den Stoßstürmer Robert Lewandowski sind wieder erlaubt. | |
Standardsituationen wurden trainiert. Das Positionsspiel wird nicht mehr | |
zentimetergenau festgelegt, der Ballbesitz ist kein Heiligtum mehr, und die | |
Systemfrage ist wieder in den Hintergrund gerückt. Kurzum: Ancelotti lässt | |
seine Mannschaft wieder einen einfachen Fußball ohne großen intellektuellen | |
Überbau spielen. | |
## Dämpfer ohne Drama | |
In der ersten Saisonhälfte hatte diese neue Einfachheit noch für große | |
Irritationen gesorgt. Die Bayern wirkten nicht mehr so souverän und | |
dominant, schienen keine klare Handschrift mehr zu haben. Doch Ancelotti, | |
dessen äußerste Gefühlsregung im Heraufziehen der linken Augenbraue | |
besteht, blieb ruhig und gelassen. Gebetsmühlenartig wiederholte er, dass | |
seine Mannschaft durch eine reduzierte Spielintensität Kräfte für die | |
entscheidenden Begegnungen am Ende der Saison sammle. Der Plan schien | |
aufzugehen. Die Bayern gewannen ihre Spiele wieder mit berauschenden | |
Ergebnissen. | |
Doch dann kam das Spiel am Mittwoch. Real Madrid demontierte die Bayern. | |
Robert Lewandowski konnte wegen einer Schulterverletzung nicht spielen. | |
Vidal verschoss kurz vor der Halbzeit einen Elfmeter zur 2:0-Führung für | |
die Bayern. Die Madrilenen drehten das Spiel. | |
Bei allem Denken oder Nichtdenken, bei allen taktischen Raffinessen oder | |
komplexen Spielphilosophien bleiben die Trainer auch nur ein kleines | |
Rädchen im großen Getriebe, bleibt der Fußball immer noch ein | |
unberechenbares Spiel. It’s the kleine Nuancen, stupid! It’s the Tagesform, | |
stupid! It’s the Glück, stupid! Aber es gibt ja noch ein Rückspiel. „Noch | |
sind wir nicht tot“, sagte Carlo Ancelotti nach dem Hinspiel. | |
14 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Alem Grabovac | |
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