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# taz.de -- Kolumne Ayol: Kennen Sie Ihre Mieter?
> Mörder und Terroristen haben in der Türkei bessere Chancen auf dem
> Wohnungsmarkt als Transfrauen. Die Mietpreise orientieren sich an „Ehre“
> und „Moral“.
Bild: Passt dieser Mieter in euer Moralkonzept, ayol?
„Transvestiten geeeben wir keine Wohnung“.
Jede in der Türkei lebende Transfrau kennt ihn: diesen ersten und letzten
Satz, der vom Immobilienmakler zu hören ist. Dabei gilt das Recht auf
Wohnen als eines der grundlegendsten Lebensrechte. Und laut unserer
Verfassung sind alle Menschen gleich. Aber: Es gibt noch andere Regeln,
unsichtbare gesellschaftliche Regeln, die diese Gleichheit außer Kraft
setzen.
Zwischen 2008 und 2009 war meine Wohnungssuche ein einziges Abenteuer.
Gemeinsam mit meiner Tochter Nina (ein deutscher Boxerhund) und der
feministischen Maklerin Frau Selma vom Immobilienbüro „Paris“ in Şişli,
waren wir jeden Tag im Istanbuler Viertel Fulya und Umgebung unterwegs auf
Wohnungssuche.
Frau Selma hatte lange Jahre in Paris gelebt und war eine äußerst
europäische Frau. Sie war ziemlich erschüttert von dem „Transvestiten
geeeben wir keine Wohnung“-Satz, wollte aber auf keinen Fall aufgeben, nach
einer anständigen Wohnung für mich zu suchen.
In der Zwischenzeit hatte ich mir temporär ein Zimmer gemietet, Nina wohnte
währenddessen bei Frau Selma im Büro. Am Ende des Jahres hatten wir dann
endlich eine Wohnung, im 19-Mayis-Viertel in Kadiköy. 1.000 Lira für eine
winzige Legebatterie.
## Spielen Singles zu Hause nur Schach?
In Istanbul variieren die Mieten für gewöhnliche Wohnungen je nach Lage
zwischen 1.000 und 5.000 Lira. Vor allem variieren die Mieten aber für
Transfrauen, klar. Es gibt Makler*innen, die sagen zum Beispiel:
„Normalerweise geeeben wir Transvestiten keine Wohnung, aber wenn du die
doppelte Miete zahlst, kann ich den Mieter vielleicht überreden“.
Dadurch erhöhen sie natürlich auch ihre Provision. Doch, warum auch immer,
steht eine Woche später plötzlich die Polizei vor der Tür, mit dem Auftrag
die Wohnung zu räumen. In der Justiz nennt man das „vorsätzlichen Betrug“.
Die Vermieter*innen und Makler*innen jedoch würden dazu eher „traditionelle
Familie“, „Moral“ oder „Ehre“ sagen. Solche Begriffe spielen in der
türkischen Gesellschaft eine wichtige Rolle, weil man sie regelmäßig
instrumentalisieren kann, um Menschen auszuschließen. Und da Transfrauen
geradezu als unmoralischste und ehrloseste Personen innerhalb der
Gesellschaft gelten, denken Vermieter*innen und Makler*innen, dass sie die
traditionelle Familie schützen, indem sie uns keine Wohnungen geben.
Ledige, Beamt*innen, Verheiratete und Familien mit Kindern haben auf dem
Wohnungsmarkt kaum Probleme. Dass Transfrauen leer ausgehen, wird oft mit
dem Umstand begründet, dass „Transvestiten sich prostituieren und aus der
Wohnung ein Bordell machen“. Ach so.
Aber bekommen Singles denn nie Besuch? Laden sie keine fremden Männer und
Frauen nach Hause ein? Und wenn doch, dann nur zum Schach spielen, oder
was? Und werden denn Führungszeugnisse aller Mieter*innen verlangt? Seid
Ihr sicher, dass diese Mieter*innen keine Vergewaltiger oder Diebe oder
Mörder sind? Natürlich seid Ihr nicht sicher. Aber solange es „kein
Transvestit“ ist, ist doch alles okay, oder?
## Der Trend geht zur männlichen Mätresse
Wisst Ihr, in Istanbul gibt es viele Cispersonen, die ihre Wohnungen
tageweise vermieten. Außerdem ist es gar nicht unüblich, dass Familienväter
zwei Mietverhältnisse haben – eines für die Familie und eines für die
Mätresse. Und denkt jetzt bei dem Wort Mätresse bloß nicht gleich an
Frauen.
Seit mindestens zehn Jahren verfolge ich den Trend hin zur männlichen
Mätresse. Ayol, glaubt mir, ich habe meine Quellen, es gibt inzwischen viel
mehr männliche als weibliche Mätressen, die sich Familienväter nebenbei
gönnen. Aber so oder so, ich kann allen Ehefrauen dieses Landes nur ans
Herz legen: Mädels, benutzt unbedingt Kondome, wenn ihr mit euren Männern
schlaft.
Man muss sagen, auch Student*innen beklagen in letzter Zeit häufig, dass
sie aus „moralischen Gründen“ keine Wohnungen bekommen. Je konservativer
die Gesellschaft wird, desto mehr Menschen scheinen von diesem
Wohnungsproblem betroffen zu sein.
Jetzt fragt ihr euch sicher: Bleiben die Wohnungen dann leer? Ayol, wer
zieht da ein? Die Antwort: Zum Beispiel der kirgisische Terrorist, der in
der Silvesternacht im Nachtclub Reina 39 Menschen getötet hat. Kürzlich kam
heraus, dass er gleich mehrere Wohnungen in diversen Bezirken Istanbuls
angemietet hatte. Ein Mörder und Terrorist hat also bessere Chancen auf dem
Wohnungsmarkt als Transfrauen. Und warum? Weil er als verheirateter Vater
besser ins Bild der traditionellen Familie passt.
## Uneingeladene „Gäste“ und Brandstiftung
Eine der Wohnungen, die der Terrorist gemietet hatte, befand sich in dem
frommen Stadtteil Zeytinburnu. Ganz ehrlich, würde eine Transfrau nach
Zeytinburnu ziehen, würden direkt in der ersten Woche mitten in der Nacht
diverse uneingeladene „Gäste“ vor der Tür stehen.
Die Transfrau hätte Angst, dass es Probleme gibt, und würde die Gäste
wahrscheinlich herein lassen, um sich mit ihnen näher zu beschäftigen. Doch
in der darauffolgenden Woche schon hätten sich die Besuche herum gesprochen
und das Viertel stünde Kopf. Allen voran würden wahrscheinlich eben jene
Gäste nun lauthals gegen die Transfrau hetzen, damit sie wieder auszieht.
So in der Art geschah es vor fünf Jahren in Avcılar vor einer Wohnanlage,
wo rund zwanzig Transfrauen lebten. Das Gebäude wurde in Brand gesetzt
wurde, von Männern, die sich „Anwohner“ nannten, und „Wir wollen keine
Prostitution in Avcılar!“ brüllten. Vier der Frauen, die obdachlos blieben,
wurden auf offener Straße von Unbekannten hingerichtet. Heute gibt es in
dem selben Viertel immer noch Sexarbeiter*innen, nur sind die keine
Transfrauen, und dann ist es wohl nicht so schlimm.
Momentan lebe ich bei einer Freundin, weil ich keine andere Wohnung habe.
Im selben Gebäude leben noch ein paar geflüchtete syrische Familien, die
ebenfalls die doppelte Miete zahlen. Viele von ihnen sprechen englisch,
manche auch türkisch. Und sie sind tolle Nachbarn! Manche von ihnen laden
uns sogar ab und zu zum Abendessen ein. „Moral“ und „Ehre“ begreifen di…
Familien eben ganz anders als unsere gierigen Makler*innen und
Vermieter*innen.
Übrigens habe ich nach meiner letzten Kolumne sehr viele Nachrichten
bekommen. Ich versuche sie alle zu beantworten und danke euch sehr! Diese
Kolumne möchte ich den sehr geehrten Mitarbeiter*innen der Türkischen
Botschaft in Deutschland widmen, die in Antalya ein Medienseminar zum Thema
Menschenrechte organisiert und nur heterosexuelle Männer dazu eingeladen
haben. Das Konzept von Vielfalt scheint sie noch nicht erreicht zu haben.
24 Feb 2017
## AUTOREN
Michelle Demishevich
## TAGS
taz.gazete
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