Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Weltfrauenkampf-Woche: Das schönste Wort: Organisieren!
> Serra Kadıgil ist Fraktionsmitglied der CHP und Expertin für
> Wahlsicherheit. Berliner Türk*innen stellte sie ihre Ideen für das
> Referendum vor.
Bild: Serra Kadigil (ganz rechts) auf einer Veranstaltung der CHP in Berlin.
CHP-Parteiratsmitglied Sera Kadıgil ist Istanbuler Anwältin. In den letzten
beiden Legislaturperioden ist sie für die CHP als Parteirätin tätig, zuvor
saß sie im Vorstand des Frauenverbands der Partei. Zudem engagiert sie sich
gewerkschaftlich und für Kinder- und Frauenrechte sowie für den Tierschutz.
Wir sprachen mit Kadıgil über den am 16. April anstehenden Volksentscheid.
## taz: Wie beurteilen Sie die Entwicklung der größten Oppositionspartei,
der CHP, in den letzten Jahren?
Kadıgil: Was wir CHP nennen, ist derzeit eine recht zergliederte NGO. Wir
haben ernsthafte Probleme in der Organisation. Dazu kommt, dass wir
ernsthaft unterfinanziert sind. Die CHP hat eine Menge Fehler gemacht. Doch
um keinen davon geht es heute. Deshalb ärgere ich mich offen gesagt über
alle, die uns aus der Ferne verurteilen: In keinem Verein sein, in keiner
Gewerkschaft Mitglied sein und vielleicht nur auf Twitter posten. Wir
betreiben im Augenblick tatsächlich todesmutig Politik. Ich spreche da im
Namen aller CHP'ler – wir sind finanziell bedroht und erhalten darüber
hinaus Todesdrohungen.
## Ich persönlich dachte schon, die CHP könne sich gar kein Gehör mehr
verschaffen. Gibt es noch mehr Menschen wie Sie in der Partei? Haben die
eine Chance, sich Gehör zu verschaffen?
Es gelingt uns kaum, uns der Gesellschaft mitzuteilen. Das liegt eben auch
an uns. Abgeordnete, die nicht wirklich gut sind, treten in den
Vordergrund. Oder für Fernsehsendungen werden falsche Gäste gewählt. Das
ist unsere Schuld. Aber es hindert dich auch niemand: wenn du etwas tun
willst, wenn du die Initiative ergreifst und vortrittst, dann schaffst du
etwas. Jeder, der etwas verändern will, soll doch bitte kommen und mit
anpacken.
## Lässt sich sagen, dass die AKP mit dem Präsidialsystem ein
Zwei-Parteien-System zu errichten versucht?
Sie wollen ihre Kontrahenten unter ihrer Kontrolle. Es steht nicht zur
Debatte, dass wir etwa „parieren“. In der AKP gibt es Leute, die ihre
Stimme der AKP gegeben haben und bei der Reform jetzt mit „Ja“ stimmen
werden, die das aber mit reinen Gefühlen tun. Wenn du mit den Leuten
redest, triffst du da zum Beispiel auf einen reizenden älteren Herrn, fromm
und liebt die Türkei von Herzen.
Ein Patriot, er glaubt, dies sei der einzige Ausweg. In Umfragen in diesem
Milieu fragen wir: „Was denken Sie über Recep Tayyip Erdoğan?“ und sie
sagen: Er ist wie ein Vater. Aber es gibt auch böse Väter, die stehlen oder
sich prügeln. Wenn du aber hingehst und sagst: „Dein Vater taugt nichts“,
machen sie dicht und hören nicht mehr zu.
## Was waren die Gründe für Ihre Festnahme?
Ich war in Fernsehsendungen zu Gast. Videos davon machten die Runde und
waren sehr populär. Sie fingen an, mich zu verfolgen. Leute wie Melih
Gökçek [der Bürgermeister von Ankara] hatten mich schon im Visier. Tweets
von vor 7 Jahren wurden ausgegraben. 'Gefallene sind unsterblich’“, hatte
ich gesagt, das unterschreibe ich heute noch. Sie schneiden einen Teil
heraus, löschen das Datum und präsentieren es.
Das Gericht ließ mich mit der Begründung gehen, dass die alten Tweets
verfälscht vorgelegt wurden, eine Straftat läge nicht vor. Acht Tage danach
forderte der Staatsanwalt in seiner Anklageschrift in derselben Sache 7
Jahre Haft. Die Verhandlung wurde auf den 12. April angesetzt. Vier Tage
vor dem Referendum muss ich noch einmal vor Gericht.
## Sie machen klare Ansagen, warum man mit Nein stimmen sollte. Wie können
Sie damit mehr Menschen erreichen?
In den größeren Medien kommen wir kaum vor. Einmal war ich bei dem
Nachrichtensender CNN Türk – inzwischen laden sie mich auch nicht mehr ein.
Wo wir dann eingeladen sind, gehören die Menschen, ohnehin zu den Kreisen,
die Nein sagen werden. Fraktionssitzungen mit meinem Parteivorsitzenden
werden schon nicht mehr gesendet, wer wäre ich da, dass meine Reden
gesendet werden.
Deshalb machen wir jetzt vor allem Hausbesuche und individuelle Gespräche.
Die Menschen sind nicht so blind, wie sie glauben. Wir sprechen zum
Beispiel auf einer Versammlung in einem abseitig abgelegenen Kaffeehaus in
der Nähe von Bilecik. Die Leute sagen nicht viel, denn sie wollen nicht ins
Gerede kommen. Wenn wir schon im Aufbruch sind, kommen sie still und
heimlich und sagen: „Sie haben das so gesagt, aber man hat uns das auch
anders gesagt.“ Wir sind zwar in den sozialen Medien aktiv, aber auch das
sind nur bestimmte Kreise.
## Wofür braucht Erdoğan diese Verfassungsreform?
Die Türkei hat eine Verfassung. Sie hat einen Staatspräsidenten, der
geschworen hat, ihre Unabhängigkeit und Neutralität zu bewahren, aber keine
Skrupel hat, diesen Schwur mit Füßen zu treten. Schamlos sagt er dann auch
noch: „Ich halte mich sowieso nicht daran, passen wir jetzt das System mir
an.“
Stellen Sie sich doch einmal folgende abstruse Situation vor: In einem
Moment des Wahnsinns erklärt jemand, dass die Frauen zu viel redeten und
alle Männer darüber abstimmen sollten, alle Frauen zu töten. Selbst wenn 51
Prozent der Männer zustimmen würden, würden wir dann alle Frauen umbringen?
Ist etwas rechtens, weil 51 Prozent zustimmen? Nein. Mit dem, was Erdoğan
im Augenblick tut, hat er Probleme vor den Augen der internationalen
Öffentlichkeit. Wenn wir nun das türkische Recht ihm auf den Leib
schneidern, gibt es für uns in der Türkei keinen Zufluchtsort mehr.
Zu den Türken in Europa möchte ich nur sagen: das Ganze wird nicht spurlos
an euch vorbeiziehen. Wenn das in der Türkei durchkommt, könnte es zu
ernsthaften inneren Konflikten kommen. Und zu Problemen, wie wir sie in
diktatorischen Regimen gesehen haben. Die Türk*innen sollten wenigstens
Folgendes bedenken: Sie könnten in die Lage geraten, in der sich jetzt die
syrischen Flüchtlinge an vielen Orten auf der Welt befinden.
## Was haben wir zu erwarten, wenn das Ergebnis Nein heißt?
Wenn Nein herauskommt, werden die Machthaber den Druck erhöhen. Damit
müssen wir rechnen, denn wenn die Katze in die Ecke gedrängt wird, ist sie
zu allem fähig. Bei Nein wie auch bei Ja besteht das Risiko ernsthafter
Unruhen im Inland. Am 7. Juni 2015 hob das Volk den Kopf. Daraufhin setzten
sie eine Schockdoktrin um, bis zu den Neuwahlen vom 1. November, Hunderte
Menschen starben.
Wenn jetzt Nein herauskommt, werden die Leute wenigstens eine Stellung
erobert haben. Das 1989'er Referendum Turgut Özals, eines ehmaligen
Ministerpräsidenten, ist ein schönes Beispiel. Mit 65 Prozent verlor Özal
das Referendum, das er abhalten ließ, um vorgezogene Neuwahlen
durchzusetzen, damit war seine Regierung am Ende. Denn so etwas verwandelt
sich in ein Vertrauensvotum und wenn die Leute derart ihre Unzufriedenheit
zum Ausdruck bringen und sehen, dass es etwas bringt, fangen sie an, sich
lauter zu äußern. Und genau das ist es, was die Türkei jetzt braucht.
## Hat die CHP einen Plan gegen die Methoden der AKP?
Viele Leute haben Angst nach dem Motto: „Wir hatten am 7. Juni auch
gewonnen, was aber geschah dann?“ Was wird nun geschehen, wenn das Ergebnis
Nein heißt? So können wir keine Politik machen. Dann müssten auch wir die
Türkei verlassen, irgendwo einwandern oder denen huldigen. Die AKP wird
nach Kräften Vergeltung üben, aber darauf können wir keine Politik gründen.
Wenn ein Nein herauskommt, packen sie uns vielleicht gleich am Kragen und
setzen uns hinter Gitter. Davor Angst zu haben und zurückzuweichen, können
wir uns nicht leisten, darüber sind wir längst hinaus.
## Die CHP scheint sich zu bemühen, nicht an der Seite der HDP zu stehen.
Fürchtet sie die eigene Basis?
Diese Frage wird häufig gestellt. So wenig wir Seite an Seite mit der HDP
stehen, so wenig stehen wir Seite an Seite mit Meral Akşener. Die HDP
spricht ihre eigene Basis an. Das ist der Grund dafür, dass die CHP hir
keine Gemeinsamkeiten sieht. Oft heißt es: Bildet eine Nein-Front, die alle
Komponenten umfasst.
Das bedeutet aber, keine Ahnung von Politik zu haben. Wenn du so etwas
bildest, drängst du die Leute innerhalb dieser Komponenten entweder zum
Boykott oder zum Ja. Denn kein Kurde würde gemeinsame Sache mit Meral
Akşener machen. Ebensowenig würde sich ein MHPler hinter ein Wort von Osman
Baydemir stellen. Als CHP haben wir aufgehört, Propaganda für eine
politische Partei zu machen.
## Was empfehlen Sie Menschen, die sich für ein stärkeres Nein engagieren
wollen?
Ort und Kanal für das Engagement sind egal. Der Berliner Ableger der CHP
ist eine tolle Organisation, wer will, soll hinkommen. Wer will, soll zur
HDP gehen. Hauptsache man geht tatsächlich irgendwohin und tut etwas. In
Istanbul haben sich junge Leute zum Beispiel über die Internetplattform
Ekşi Sözlük organisiert. „Wir verbinden uns mit Schleifen“, hieß ihre
Kampagne.
Wir sind nicht länger an einem unerreichbaren Ort. Unsere Zersplitterung in
Fraktionen ist doch bedeutungslos geworden. Die Menschen fürchten sich zwar
vor dem Wort, dabei ist „sich organisieren“ das schönste Wort der Welt. Ich
bin Marxist, du bist dies und jenes. Hört auf damit. Das sind Launen der
Linken. Ich habe die Vergangenheit nicht vergessen. Der Ort für die
Abrechnung ist das Parlament. Das Parlament muss bleiben. Es geht bei
diesem Referendum wirklich um Leben und Tod.
## Eine der wichtigsten Fragen, um die man sich sorgt, ist, wie sicher die
Abstimmung ist.
Die Leute glauben, selbst wenn die AKP nur 40 Prozent bekommt, könnte sie
daraus 60 Prozent machen. Das ist Unsinn. Ich bin in meiner Partei Expertin
für Wahlsicherheit, seit 3 Jahren. Kleinere Dinge kann man drehen.
Möglicher Wahlbetrug geht aber nicht über 2 Prozent hinaus. Sorgen wir uns
erst einmal für ein 55-prozentiges Nein.
Danach schauen wir, wer wo betrügen kann. Aber es ist wichtig, die Urnen
nicht aus den Augen zu lassen. Oy ve Ötesi (etwa: Die Wahl und
darüberhinaus) hat beschlossen, nicht tätig zu werden, aber all ihre
Ehrenamtlichen sind im Einsatz. Einige sind bei der HDP, andere bei der CHP
und manche engagieren sich bei Hayır ve Ötesi (Nein und mehr). Gebt ihr
eure Stimme ab und fühlt Euch verantwortlich für die original vom
Wahlleiter unterzeichneten Belege.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
8 Mar 2017
## AUTOREN
Ali Çelikkan
## TAGS
taz.gazete
Politik
taz.gazete
Türkei
Schwerpunkt Türkei
taz.gazete
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
Türkischer Wahlkampf in Deutschland: Hannover sagt Nein
Ein hochrangiger AKP-Politiker darf nicht in Hannover auftreten.
Niedersachsens Innenminister macht Sicherheitsbedenken geltend. Andere
Städte prüfen noch.
BVerfG zu türkischer Wahlwerbung: Kein Anspruch auf Einreise
Türkische Politiker können sich in Deutschland nicht auf Grundrechte
berufen. Die Bundesregierung plant derzeit jedoch keine Einschränkungen.
Emekçi kadınlar haftası: Dünyanın en güzel kelimesidir „örgütlenmek“
CHP Parti Meclisi üyesi Sera Kadıgil ile Türkiye'yi 16 Nisan’da sandık
başına götürecek referandum sürecini konuştuk.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.