# taz.de -- Deutsche Ausgabe von „Charlie Hebdo“: Zu rotzig-pubertär? | |
> Das Satiremagazin ist bisweilen befremdlich – und deshalb ein Gewinn für | |
> den deutschen Markt. Ein Resümee des ersten Monats. | |
Bild: Aus französischer Sicht ist deutsche Politik vor allem: Merkel | |
Merkel, Merkel, Merkel. Angela Merkel bekommt einen neuen Auspuff verpasst | |
und knutscht mit Hollande. Rollt im Rollstuhl der nächsten Wahlperiode | |
entgegen, tanzt als Verteidigerin der Freien Welt nackt auf Europas Flagge | |
und ist ein Trabbi, Fidel Castro, Honecker und Kohl. | |
Von Frankreich aus gesehen stammt das Gesicht Deutschlands aus der | |
Uckermark. In den vier bisherigen Ausgaben hat Charlie Hebdo gut ein | |
Drittel der Politiker-Karikaturen der „Cancellaria Maxima“ gewidmet. | |
Charlie Hebdo gilt als respektlos und unangepasst und scheut auch keine | |
Plattitüden und Albernheiten, um die Gesichter der Macht zu demaskieren. | |
Die französischen Eliten – eitler und selbstverliebter als in Deutschland – | |
waren lange Zeit so freilich zu treffen. | |
## Zwei in eins | |
Hierzulande verfängt diese Art des Angriff aufs Image selten. Das hat zum | |
einen damit zu tun, dass es die rotzig-pubertäre Humortradition des „bête | |
et méchant“ (dumm und böse) in Deutschland nicht gibt; und zum anderen, | |
dass die französische Presse deutlich weniger ausdifferenziert ist und | |
deswegen weniger unabhängig. | |
Gewöhnungsbedürftig für den deutschen Markt ist, dass es sich bei Charlie | |
Hebdo um zwei Zeitungen in einer handelt: einerseits ein grafisch | |
orientiertes Satiremagazin, dass mit anarchischer Lust etablierte Narrative | |
unterläuft und Inszenierungen zu zerstören sucht. | |
Ausdruck dessen sind vor allem die provokanten Karikaturen, die Charlie | |
Hebdo weltweit bekannt gemacht haben und allein in den letzten anderthalb | |
Jahren Kontroversen mit Russland und dem Vatikan, in Italien, England und | |
Belgien ausgelöst haben. | |
Andererseits ist es auch eine linke Wochenzeitung, die strikt laizistisch | |
und ökologisch ausgerichtet ist. Bisher werden nur wenige Seiten der | |
deutschsprachigen Ausgabe exklusiv produziert, das meiste wird übersetzt; | |
deswegen liest man dann Artikel darüber, dass französische Schüler schlecht | |
in Mathematik sind, die Machenschaften französischer Atomkonzerne und die | |
rassistischen Auswürfe von Henry Lesquen, Radiointendant und | |
nationalliberaler Präsidentschaftskandidat. | |
Das fordert den deutschen Leser, weil er nicht abgeholt wird, sondern sich | |
sofort inmitten einer innergesellschaftlichen französischen Debatte gesetzt | |
sieht. Das ist bisweilen befremdlich, wenn beispielsweise der öffentlich | |
ausgetragene Streit zwischen Psychotherapie und Psychoanalyse aufkommt, | |
öffnet aber auch den Blick für Themen, die hier hintenüber fallen. | |
Ein Highlight sind die gezeichneten Reportagen, die auf subtile und | |
facettenreiche Weise, ohne gekünstelte Dramatisierungseffekte von Deutschen | |
und ihren Gedanken zur aktuellen Lage erzählen, Ausstellungen besprechen, | |
von Gerichtsverhandlungen berichten. | |
Dieses Genre ist in der Konsequenz in Deutschland noch nicht umgesetzt | |
worden, wohl auch, weil es aufwendig in der Produktion ist. Entsprechend | |
kostet die Zeitung auch vier Euro für 16 A3-Seiten. Das ist wahrscheinlich | |
ökonomisch unvernünftig, passt aber sehr gut zum Geist von Charlie Hebdo. | |
## Freundschaftliches Angebot | |
Die publizistische Nische, die Charlie Hebdo in Frankreich lange Jahre | |
besetzt hat, teilen sich in Deutschland mehrere Zeitungen, insbesondere die | |
Titanic und die Jungle World. Aber Charlie kam nicht nach Deutschland, weil | |
ökonomische Analysen eine Expansion versprachen; die Chefredakteurin der | |
deutschen Ausgabe, Minka Schneider, hat in diversen Interviews [1][betont], | |
dass die deutsche Ausgabe ein freundschaftliches Angebot ist, weil nach dem | |
Anschlag die Solidaritätsbekundungen „outre-rhin“ besonders herzlich und | |
zahlreich waren. | |
Und tatsächlich kann Charlie Hebdo die hiesige Zeitungslandschaft | |
bereichern: durch die grafischen Elemente einerseits, aber auch, indem es | |
einen (linken) Blick in ein Land ermöglicht, das den Deutschen bei aller | |
freundschaftlichen Verbundenheit fremd ist. | |
Es wird viel davon gesprochen, dass es mehr Europa brauche. Auch wenn die | |
französische Redaktion mit der deutschen Politik etwas fremdelt (Merkel, | |
Merkel, Merkel): Die deutsche Ausgabe von Charlie Hebdo setzt diese | |
Forderung um. | |
26 Dec 2016 | |
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## AUTOREN | |
Frederic Valin | |
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