# taz.de -- Profiarbeit für sehr wenig Lohn | |
> Teilhabe I Start-ups entdecken Werkstätten für Menschen mit Behinderungen | |
> und lassen dort Produkte in kleinen Stück- zahlen herstellen. Die | |
> Qualität stimmt. Doch die Beschäftigten verdienen nicht viel. Und auch | |
> der Schritt in den ersten Arbeitsmarkt ist für viele nicht leicht | |
Bild: Blick in die Holzwerkstatt der Berliner Werkstätten für Menschen mit Be… | |
Von Uta Schleiermacher (Text) und Karsten Thielker (Fotos) | |
Es zischt leicht, wenn Dieter Schwarz das Vakuum löst. Mit dem Fuß betätigt | |
er dafür einen Hebel unter seiner Werkbank. Die Holzleiste, die er eben | |
noch bearbeitet hat, lässt sich nun von der Arbeitsplatte lösen. Er richtet | |
sie neu aus und betätigt wieder den Hebel. Unterdruck baut sich auf und | |
saugt das Brett wieder an der viereckigen Platte vor ihm fest. Er fährt | |
seinem Rollstuhl wieder ein Stück näher an die Werkbank heran. Mit der | |
linken Hand beginnt er, die nächste Kante der Leiste schräg abzuschleifen. | |
Die fertig bearbeiteten Leisten leimt ein Kollege an der nächsten Werkbank | |
zu quadratischen Platten zusammen, auf die später Bilder gedruckt werden | |
sollen. | |
Seit zehn Jahren arbeitet Schwarz in der Holzwerkstatt der Berliner | |
Werkstätten für Menschen mit Behinderungen GmbH – kurz BWB – in | |
Lichterfelde. Seine Aufgaben sind meist klassische Tischlerarbeiten, er | |
schleift Flächen für Schneidebretter glatt, schrägt Kanten an – fünf bis | |
sechs Stunden am Tag. „Wir machen viel mit Holz, darüber freue ich mich | |
umso mehr, weil ich vorher meist Spanplatten bearbeitet habe“, sagt | |
Schwarz. Auch seine Ausbildung hat er in einer Holzwerkstatt gemacht und | |
dort in einem Sägewerk große Cutter bedient. „Aber die Arbeit hier direkt | |
am Holz ist schöner.“ | |
Ein reiner Handwerksbetrieb ist die Holzwerkstatt allerdings nicht mehr. In | |
einem zweiten Raum geht es erst an einer vier Meter breiten Säge für | |
Holzplatten vorbei, dahinter sägt eine computergesteuerte Fräse kreischend | |
Bauteile zurecht. „Wir haben in den letzten Jahren viele große Maschinen | |
angeschafft“, erklärt der Werkstattleiter Wilfried Focke, „unsere | |
Auftraggeber fordern inzwischen präzises Verarbeitung. Nur mit Bastelsachen | |
können wir nicht mehr kommen.“ | |
Die Arbeit an den Maschinen sei auch für die Beschäftigten wichtig, sagt | |
Focke. Denn Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sollen der | |
beruflichen Rehabilitation und Integration dienen. Sie sollen die Menschen, | |
die dort beschäftigt sind, schulen und auf eine Tätigkeit auf dem ersten | |
Arbeitsmarkt vorbereiten. Und nur, wenn die Beschäftigten auch den Umgang | |
mit größeren Maschinen beherrschten, hätten sie Chancen, aus dem | |
Werkstattbetrieb in andere Betriebe zu wechseln. „Wir brauchen die | |
Handarbeit, aber wir können sie nur noch machen, weil wir eben auch die | |
großen Maschinen haben“, fasst Focke zusammen. | |
## Interessant für Start-ups | |
Inzwischen wenden sich viele Start-ups an die Werkstätten. Junge | |
Unternehmer lassen sich hier Bienenkästen für den Balkon, kleine Garagen | |
für Fahrräder, Rollstühle oder Kinderwagen fertigen. | |
In der Zusammenarbeit mit den Start-ups versucht die BWB das gesamte | |
Produkt zu fertigen, also alle Arbeitsschritte anzubieten und auch | |
Einzelteile selbst herzustellen, erklärt Focke. „Die Rähmchen für die | |
Bienenwaben etwa haben wir anfangs woanders bestellt, inzwischen bauen | |
unserer Mitarbeiter sie selbst zusammen.“ So müsste man keine Teile mehr | |
dazukaufen. In einer weiteren BWB-Werkstatt könnten die fertigen Produkte | |
verpackt und versandt werden. Eine der jungen Gründerinnen, die sich dafür | |
entschieden hat, ihre Produkte bei der BWB herstellen zu lassen, ist Luisa | |
Haase-Kiewning. Die 27-jährige Tischlerin und Designerin entwirft | |
Schlüsselbretter, Lampen sowie Obstschalen aus Holz und Beton. Auf Flyern | |
und Homepage wirbt sie damit, dass ihre Produkte lokal in Berlin von | |
Menschen mit Behinderungen gefertigt werden. | |
„Der Vorteil von Werkstätten ist, dass sie auch kleine Auflagen produzieren | |
und dass ich als Unternehmerin nah dran bin am Produktionsprozess und die | |
Produkte mit den Beschäftigten dort weiterentwickeln kann“, sagt | |
Haase-Kiewning. „Ich denke auch, dass sie etwas günstiger sind, habe aber | |
bisher keinen Vergleich, was die Produktion in der freien Wirtschaft kosten | |
würde.“ Und: Viele Firmen auf dem ersten Arbeitsmarkt würden Aufträge mit | |
geringen Stückzahlen gar nicht annehmen. | |
Gleichzeitig böte die Werkstatt gute Rahmenbedingungen, wenn ihr | |
Unternehmen vielleicht irgendwann mal größer werde. „Aber der große | |
Nachteil ist ganz klar, dass alles immer richtig lange dauert“, ein | |
Dreivierteljahr vom Prototypen bis zum ersten Produkt. „Auf dem ersten | |
Arbeitsmarkt ginge so was innerhalb von einer Woche“, sagt sie. Und dass | |
man lernen müsse, damit zu planen. „Momentan gibt mir das noch Zeit, denn | |
ich habe noch gar nicht genug Geld, um viel schneller und in größeren | |
Mengen produzieren zu lassen.“ | |
Haase-Kiewning hat nach ihrer Tischlerlehre selbst in einer Werkstatt für | |
Menschen mit Behinderungen gearbeitet. Sie habe dort erfahren, dass die | |
Menschen sich wertgeschätzt fühlten, stolz auf die ihnen zugeteilten | |
Aufgaben und ihre Arbeit seien, erzählt sie. „Das merke ich auch, wenn ich | |
jetzt in die Werkstatt komme. Die Beschäftigten erzählen mir, dass sie die | |
Löcher geschliffen oder den einen Schnitt gemacht haben und fangen | |
Fachgespräche über die einzelnen Arbeitsschritte an.“ | |
Dieser persönliche Kontakt sei sehr schön, sagt Haase-Kiewning. „Ich | |
bespreche dann mit ihnen, worauf es mir besonders ankommt, oder dass es | |
nicht so schlimm ist, ob eine Luftblase im Beton ist, aber wichtig, wo das | |
Loch hinkommt.“ | |
## Im Durchschnitt 154 Euro | |
In den Berliner Werkstätten arbeiten rund 9.900 Menschen mit Behinderung. | |
Die Beschäftigten sind rechtlich gesehen keine Arbeitnehmer, sondern haben | |
einen arbeitnehmerähnlichen Status. Für ihre Tätigkeit bekommen sie deshalb | |
keinen Lohn, sondern ein „Entgelt“ von im Durchschnitt 154 Euro im Monat | |
(siehe Kasten) – Bezüge, die bei rund 40 Stunden in der Woche weit unter | |
dem Mindestlohn liegen. Ist es also für Start-ups eine günstige | |
Möglichkeit, in Werkstätten handwerklich produzieren zu lassen und ihren | |
Produkten dabei noch einen sozialen Anstrich zu geben? | |
„Ganz so einfach ist das nicht“, erklärt Andreas Sperlich, Vorsitzender der | |
Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen in | |
Berlin, kurz LAG. „Bei uns in einer Werkstatt zu produzieren ist genauso | |
teuer wie in einer gewerblichen“, sagt Sperlich. Das Produkt sei am Ende ja | |
das Gleiche, der Unterschied liege eher in der Herangehensweise. „In der | |
freien Wirtschaft wird der Produktionsprozess so effizient wie möglich | |
gestaltet, und für diesen Prozess braucht man Menschen. Wir machen es | |
andersrum, wir passen die Arbeit an die Menschen an. Dadurch brauchen wir | |
mehr Zeit und teilen die Prozesse kleinteiliger auf.“ | |
Trotzdem bleibt das geringe Entgelt ein Problem. Der Berliner Werkstattrat | |
fordert daher mehr und andere Formen der Vergütung. Denn das Entgelt setzt | |
sich aus einem Grundbetrag, einem sogenannten Steigerungsbetrag, der von | |
den individuellen Leistungen abhängig ist, und dem Arbeitsförderungsgeld | |
zusammen – es kommt also aus unterschiedlichen Töpfen. | |
„Ein höheres Entgelt kommt gar nicht allen Beschäftigten zugute“, sagt | |
Werkstattratsvorsitzender Thomas Anders. Direkt merken würden es vor allem | |
diejenigen, die eine Rente beziehen. „Bei allen, die Grundsicherung | |
bekommen, und das sind die meisten, wird ein Teil des Entgelts darauf | |
angerechnet, die Summe darf einen bestimmten Betrag nicht übersteigen“, | |
sagt er. Sie hätten dann am Ende eventuell sogar weniger Geld. | |
„Wir fordern schon seit mehreren Jahren abzugsfreie Sonderzahlungen“, sagt | |
Anders, „sodass Prämien gezahlt werden können, ohne dass das Amt sie | |
einkassiert.“ Doch nach Neuerungen in der Bundesgesetzgebung sei dies nicht | |
mehr möglich, die Werkstätten hätten viel Einfluss verloren. „Auch | |
Weihnachtsgeld kann nicht ausgezahlt werden, ohne dass uns ein großer Teil | |
wieder abgezogen wird“, sagt Anders. | |
Ein anderes Modell ist das sogenannte „Budget für Arbeit“, bei dem | |
Arbeitsplätze außerhalb einer Werkstatt mit einer Geldleistung unterstützt | |
werden, um sie in den ersten Arbeitsmarkt einzugliedern (siehe auch | |
Interview Seite 45). Dieses Modell gibt es bisher in Hamburg, Niedersachsen | |
und Rheinland-Pfalz. „Das wäre ein tolles Instrument, ich würde es | |
begrüßen, wenn Berlin das machen würde“, sagt Sperlich von der LAG. | |
## Für eine höhere Vergütung | |
Doch das Ziel ist nicht nur eine höhere Vergütung, sondern auch, diese | |
anders zu organisieren. So fordern die Werkstatträte weiter, dass alle | |
Leistungen zusammengefasst und aus einer Hand gezahlt werden, sodass nicht | |
mehr ein Lohnteil den anderen auffressen könne. „Wir würden uns auch gern | |
mal eine Reise leisten, ins Kino oder essen gehen“, sagt Anders. So fühlten | |
viele sich vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. „Wenn die Werkstatt | |
abends schließt, ist man wieder isoliert“, meint er. | |
Eine berufliche Eingliederung in dem ersten Arbeitsmarkt – eigentliche | |
Aufgabe der Werkstätten –, klappt nur in wenigen Fällen. Nur 46 Menschen | |
wechselten im Jahr 2015 in Berlin aus einer Werkstatt auf einen | |
Arbeitsplatz in der freien Wirtschaft; 2014 waren es 34. | |
„Für viele Beschäftigte ist der Schritt mit Ängsten verbunden“, sagt | |
Anders. In den Werkstätten gäbe es weniger Druck, „und viele Unternehmen | |
wollen keine Menschen mit psychischen Krankheiten, mit physischen oder | |
geistigen Behinderungen einstellen“. Und gesetzliche Regelungen wie die | |
Rente, die Beschäftigte nach 20 Werkstattjahren erhalten (siehe Kasten), | |
erschwerten solche Wechsel, sagt auch Andreas Schimmer, Sprecher der | |
Integrationsfachdienste der LAG. „Es wäre wünschenswert, dass sich mehr | |
tut, die Grenzen müssen durchlässiger werden, in beide Richtungen.“ Das | |
bedeute auch, dass Menschen die Möglichkeit offen stehen sollte, auf einen | |
Werkstattplatz zurückkehren zu können. | |
## Nah am ersten Arbeitsmarkt | |
Ortswechsel: Die Beschäftigten der VIA-Werkstätten in der Schönhauser Allee | |
in Prenzlauer Berg arbeiten vergleichsweise nah am ersten Arbeitsmarkt. Die | |
Werkstatt hat zwei Ladenlokale, in denen die Beschäftigten Kunden bedienen | |
und sich um die Dekoration und Präsentation der Waren kümmern. | |
Anika Seidler, die seit rund zehn Jahren als Floristin dort arbeitet, | |
gefällt dieser Arbeitsplatz gut. „Ich mache kleine Blumengestecke und | |
Auslieferungen, auch Pflanzenpflege draußen vor dem Laden, also die | |
Pflanzen tauschen, ausputzen, gucken, ob da gelbe Blätter sind oder ob was | |
vertrocknet ist, darauf achten, dass sie auch genug Wasser haben. Gerade | |
mache ich für mich selber einen Weihnachtskranz, ich mag besonders, wie die | |
Tanne duftet“, erzählt sie. | |
„Ich habe mal drüber nachgedacht, es auf dem ersten Arbeitsmarkt zu | |
versuchen, aber ich habe es erst mal wieder verworfen“, sagt Seidler. „Ich | |
bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich jetzt noch nicht so weit bin.“ | |
Vielleicht nicht gleich auf den freien Arbeitsmarkt, sondern erst mal auf | |
einem ausgelagerten Arbeitsplatz, der zunächst noch an eine Werkstatt | |
angebunden bleibt? „Das wird die Zeit zeigen“, sagt sie. | |
Dieter Schwarz hingegen hat für sich entschieden, dass er in der | |
BWB-Holzwerkstatt bleiben wird. Die Arbeit dort macht er gern. „Vom | |
Elternhaus habe ich damals nicht so die Unterstützung bekommen“, sagt | |
Schwarz, daher habe er immer in Werkstätten gearbeitet. „Und jetzt, mit 60 | |
Jahren, habe ich auch nicht mehr so viele Möglichkeiten, daher würde ich | |
nicht mehr groß wechseln, sondern weitermachen, so lang ich kann.“ | |
10 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
Karsten Thielker | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |