# taz.de -- Rio nach den Olympischen Spielen: Erst das Spektakel, dann die Plei… | |
> Wie fällt die Bilanz gut 100 Tage nach dem Ende der Olympischen | |
> Sommerspiele von Rio de Janeiro für die Metropole aus? Verheerend. | |
Bild: Nichts fürchten die Einwohner Rios mehr als die Rückkehr der Gewalt: Po… | |
Rio de Janeiro taz | Wer heute noch den olympischen Geist in Rio de Janeiro | |
sucht, findet ihn auf der neuen Flaniermeile im Stadtzentrum. Bewohner wie | |
Touristen haben den knapp drei Kilometer langen Olympia-Boulevard am früher | |
nicht zugänglichen Ufer der Baia de Guanabara ins Herz geschlossen. Während | |
der Rest des Zentrums nach Arbeitsschluss und an Wochenenden meist | |
verwaist, tobt am einstigen Boulevard Olímpico das Leben. | |
Treffpunkt ist der großzügige Maua-Platz vor der Silhouette des | |
futuristischen Museums des Morgens. Rechts davon skaten Scharen junger | |
Leute in Richtung historischer Stadtkern an der Praça XV, vorbei am großen | |
Fackelschaft des Olympischen Feuers, das vor gut 100 Tagen erlosch. | |
Links geht’s an renovierten Speichergebäuden und riesigen Graffitis | |
entlang. Alle zehn Minuten summt die moderne Straßenbahn vorbei und | |
erinnert daran, dass Olympia den Bewohnern von Rio als Projekt der | |
Stadterneuerung und besseren Verkehrsmittel schmackhaft gemacht wurde. Auch | |
in dem kleinen postolympischen Idyll an der Praça Maua ist dies noch | |
verbesserungswürdig: Vor der Straßenbahn fahren hupende Polizisten auf | |
Motorrädern, um das Flaniervolk von den Gleisen zu scheuchen. | |
Das ganze Hafenviertel sollte mit olympischen Schwung revitalisiert werden. | |
Ein Hochhaus hinter den Speichern scheint fertig, ein zweites sieht schon | |
jetzt wie eine Bauruine aus. Die Baupläne einiger Trump-Towers sind längst | |
eingemottet. Ein erstes Teilstück der zweiten Straßenbahnlinie soll zwar in | |
Dezember eingeweiht werden, doch es ist zu spüren, dass jetzt Stillstand | |
herrscht. | |
Rio, also die Stadt und der gleichnamige Bundesstaat, ist pleite. So | |
pleite, dass der Bund letztens jegliche Finanzhilfen aussetzte, bis der | |
Bundesstaat Rechenschaft über seine Ausgaben ablegt. Lehrer und | |
Staatsangestellte bekommen ihre Gehälter erst mit wochenlanger Verspätung | |
ausgezahlt. Es wird gestreikt und protestiert. Die Abstimmung über ein | |
rigides Sparpaket musste mehrfach verschoben werden, da aufgebrachte | |
Menschen das Stadtparlament belagerten. | |
## Korrupte Gouverneure | |
Die Stimmung ist miserabel. Nicht nur wegen der schweren Wirtschaftskrise, | |
die Brasilien seit fast eineinhalb Jahren fest im Griff hat und die | |
Boomjahre mit erheblichen Einkommenszuwächsen vergessen macht. Auch ein | |
Blick auf die Lokalpolitik lässt nichts Gutes ahnen: Zwei ehemalige | |
Gouverneure von Rio wurden in den vergangenen beiden Novemberwochen wegen | |
Korruptionsvergehen festgenommen – zuerst Anthony Garotinho und kurz darauf | |
Sérgio Cabral, der bis Ende 2014 im Amt war. Letzterer ist mit zahlreichen | |
Mitangeklagten bis heute hinter Gittern. Er soll im Rahmen des | |
Korruptionsskandals um den Ölriesen Petrobras ein weitverzweigtes Netzwerk | |
zum Einheimsen von Bestechungsgeldern unterhalten haben. | |
Auch der hemdsärmelige Bürgermeister Eduardo Paes, der die Olympischen | |
Spiele als Sprungbrett für eine spätere Präsidentschaftskandidatur nutzen | |
wollte, ist in Ungnade gefallen. Sein Kandidat für die Nachfolge im Rathaus | |
kam im Oktober nicht einmal in die Stichwahl. Es gewann der höchst | |
umstrittene Pastor Marcelo Crivella, dessen evangelikale Überzeugungen so | |
tief sitzen, dass er früher unverhohlen gegen Schwarze, Schwule und auch | |
Katholiken hetzte. Seine Wahl mit deutlicher Mehrheit vor allem unter der | |
armen Bevölkerung passt in den Zeitgeist, bringt Rio aber kaum die | |
notwendig Stabilität: „Schluss mit den Bauarbeiten“ war einer seiner | |
Wahlkampfslogans, der deutlich macht, dass nach Fußball-WM und Olympia kein | |
Geld mehr in die vielen halbfertigen Bauten gesteckt wird. | |
Der Abschwung und vor allem die handfeste politische Krise seit 2015 halten | |
Brasilien derart in Atem, dass die Spiele samt ihrer extrem teuren | |
Eintrittskarten für die meisten Brasilianer nicht viel mehr als eine nette | |
Ablenkung waren. Sogar Paes sprach damals vom „falschen Moment“ für das | |
weltgrößte Sportspektakel. Schon in der Woche nach Ende der Spiele enthob | |
der Senat Präsidentin Dilma Rousseff endgültig ihres Amtes. Ihr bisheriger | |
Vize Michel Temer, der schon bei der Eröffnungsfeier gnadenlos ausgepfiffen | |
wurde, übernahm ihr Amt und vollzog mit einem rechtskonservativen Kabinett | |
eine politische Kehrtwende. Rousseff und ihre Arbeiterpartei PT sprechen | |
von einem parlamentarischen Putsch, beide Lager fahren einen deutlichen | |
Kollisionskurs. | |
Gut 30 Kilometer von Zentrum entfernt wirkt der einstige Olympiapark | |
verlassen. Hohe Absperrgitter verriegeln nach wie vor das Gelände auf einer | |
Lagunen-Halbinsel im Stadtteil Barra da Tijuca. Von der Armensiedlung Vila | |
Autódromo, die dem Gelände weichen musste, stehen nur die wenigen | |
Neubauten, die die kämpferischen Bewohner gegen die Stadtverwaltung | |
durchsetzten. Breite Schnellstraßen und endlose Bürgersteige prägen das | |
Areal. Im Gegensatz zu einigen WM-Stadien, die kaum genutzt in der | |
Landschaft stehen, gibt es für den Olympiapark ein Nutzungskonzept. Aber | |
umgerechnet 100 Millionen Euro muss die bankrotte Stadt für Ab- und Umbau | |
noch bezahlen. | |
## Rappelvolle Expressbusse | |
Die Ausschreibung, wer das Gelände die nächsten 25 Jahre verwerten darf, | |
wurde Ende November zum fünften Mal verschoben. Ähnlich wie beim legendären | |
Maracanã-Stadion, in das der Staat horrende Summen investierte und den | |
Folgegewinn nun privaten Unternehmen überlässt, dürfte auch der Parque | |
Olímpico ein Zuschussgeschäft sein. | |
Immerhin, die neue U-Bahn-Linie nach Barra funktioniert, und die meisten | |
für Olympia eingerichteten Expressbus-Linien auf eigenen Trassen sind in | |
Betrieb und so beliebt, dass sie meist überfüllt sind. Von Barra geht’s | |
jetzt ohne Umsteigen zum internationalen Flughafen. Dieser aber hat den | |
Ausbau für den kurzen Olympiaansturm nicht gut überstanden: Das zur WM | |
notdürftig, aber mit hohen Kosten renovierte Terminal 1 wird im Dezember | |
stillgelegt. | |
Das schlimmste für die Menschen in Rio ist allerdings die Rückkehr der | |
Gewalt. Die Bandenkriege in Armenvierteln, an denen Drogengangs, die | |
Polizei und paramilitärische Milizen mitmischen, sind im ganzen Stadtgebiet | |
wieder aufgeflammt. Dabei schien der Versuch, schon Jahre vor der WM mit | |
einer weniger brutalen Polizei und ständiger Präsenz in Favelas die Gewalt | |
einzudämmen, erstmals erfolgversprechend. Doch das Versprechen der | |
Behörden, der Polizeipräsenz auch mehr soziale Infrastruktur wie Schulen | |
und Gesundheitsposten folgen zu lassen, wurde nicht gehalten. | |
Jetzt ist die Gewalt, die jahrelang in die Außenbezirke verdrängt war, in | |
die schicken Strandviertel zurückgekehrt. In Favelas, die an die Viertel | |
Copacabana oder Ipanema angrenzen, kommt es regelmäßig zu Schießereien und | |
immer wieder zu Todesopfern. Von Januar bis September zählte die | |
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch 4.482 Tote durch | |
Gewalteinsatz. Mindestens 635 dieser Opfer kamen durch Polizeischüsse um. | |
Unter den Polizisten, die auch um ihren Lohn bangen, gab es 26 Todesopfer | |
bei Schießereien. | |
Trauriger Höhepunkt bisher war der Absturz eines Polizeihubschraubers | |
während eines Gefechts in der Favela Cidade de Deus (City of God), bei dem | |
vier Uniformierte starben. Einen Tag später wurden sieben junge Männer am | |
Rande des Armenviertels tot aufgefunden. Die Angehörigen sprechen von einer | |
Hinrichtung aus Rache. | |
Aus der Favela stammt die Judokämpferin Rafaela Silva, im Sommer die | |
umjubelte erste Goldmedaillengewinnerin Brasiliens. Als Kind sei sie vor | |
Gewehrkugeln weggelaufen, jetzt flüchte sie vor Fotografen, die sie und | |
ihre Medaille fotografieren wollen, die Medaille sei die beste Antwort auf | |
Gewalt, sagte Silva selbstbewusst, auch weil sie 2012 in London nach einem | |
Patzer rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt war. Die Illusion des Sports | |
als gesellschaftliches Allheilmittel, die die Presse damals verbreitete, | |
währte in Silvas Heimat nicht lange. | |
4 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Andreas Behn | |
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