# taz.de -- Die Wahrheit: Die Fressmeile | |
> Dit is Balin-Neukölln, wa! Zwischen Vierzigtonnern wird am Straßenrand | |
> gekocht und gebrutzelt, dass die Pfännchen der Trucker glühen. | |
Unter Feinschmeckern (ich kenne zwei) gilt Berlin nicht als bevorzugte | |
Adresse. Meine Geschmacksnerven sind weniger sensibilisiert, ich gehe gern | |
essen hier. Nur nicht in meinem Kiez. Dieser, die Neuköllner Weserstraße, | |
weist neuerdings ein paar arrivierte Speisetempel auf – eine Fressgasse ist | |
entstanden samt entsprechendem Publikum, das sich zäh von einem | |
Speisekartenaushang zum nächsten schiebt. Die Preise halten sie für | |
außerordentlich günstig. Wirtschaftsflüchtlinge erster Ordnung sind das. | |
Doch nur einen Kilometer weiter gibt es eine Fressmeile, deren Ambiente | |
mich entzückt. Am Columbiadamm liegt sie, am nördlichen Rand des | |
Tempelhofer Felds: Wohnhäuser nebst zugehörigen Privatautos fehlen, üppiger | |
Parkraum findet sich – und wird genutzt von Vierzigtonner-Sattelzügen, | |
vornehmlich ausländischen. Und was geschieht direkt neben den geparkten | |
Riesen? Gekocht und gebrutzelt wird! Zwei, drei Trucker haben sich | |
zusammengetan und Gartenstühlchen aufgeklappt, eine Klappe der unter der | |
Ladefläche angeordneten Privatgepäckräume steht offen. Über der | |
Spiritusflamme brodelt das Pfännchen, auf einer zweiten Flamme zieht, in | |
der samowarartigen Doppelkanne, Tschai. Ein bisschen geht’s zu wie bei | |
einer jener Familien, die in Berliner Parks grillen – sehr ruhig, höchst | |
gelassen. | |
Nur, dass sich hier kein Parkambiente bietet. Jenseits der geparkten Riesen | |
braust Auto-, diesseits Fahrradverkehr. Und gleich dahinter ballt es sich: | |
hier geballte Fitness des freien Tempelhofer Feldes, dort geballte | |
Schläfrigkeit der Hauptpolizeidienststelle. | |
Ob ich mich dazusetzen dürfe, habe ich noch nicht zu fragen gewagt. Einmal | |
aber habe ich mitgegessen, ohne gefragt worden zu sein. Freilich ist das | |
nicht am Columbiadamm gewesen, sondern auf einem Autobahnrasthof in | |
Franken. | |
Damals, noch zu Mauerzeiten, bin ich als Tramper von Heilbronn nach Berlin | |
mitgenommen worden von einem türkischen Sattelzug mit übermüdetem Fahrer. | |
Aus Istanbul sind die beiden gekommen, offenbar nonstop. Irgendwann wurde | |
angehalten, Spiritus entfacht, Schwarztee bereitet und eine Pfanne mit | |
Tomaten, Fetakäse und Oliven. Selbstverständlich bin ich Gast gewesen, und | |
ich weiß noch genau: Ich habe viel mehr gegessen als mein Wirt. | |
Gute sieben Stunden verbrachten wir miteinander, gesprochen haben wir | |
nicht. Wie auch? Keiner hat eine der Sprachen des anderen beherrscht. | |
Stimmt nicht ganz: Einmal hat er ein Wort gesagt und dann stolz nach hinten | |
gedeutet: „Satsumas“. | |
Ihren Geruch und den Tomatengeschmack hab ich präsent, sooft ich heute am | |
Columbiadamm lang radle. Jemand mag dort Gettobildung feststellen. Mag | |
mangelnde Integration benennen und internationales Preisgefälle, da diese | |
Männer sich selbst versorgen müssen. | |
Jemand mag das tun, ich heute nicht. Heute hab ich das Loblied meiner | |
Lieblingsfressmeile gesungen. Morgen bin ich ganz anders drauf. | |
16 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Martin Betz | |
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