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# taz.de -- Theater bei Werder Bremen: Unbekümmert auf'm Platz
> Theaterinstallations- und Entschleunigungskünstler Alexander Giesche
> nutzt das Kicken auf dem Werder-Fußballplatz zur Meditation übers Leisten
> und Leiden.
Bild: Justus Ritter muss für den Weg nach oben erst mal dreizehneinhalb Runden…
BREMEN taz | Dort, wo die Weser einen großen Bogen macht, illuminiert ein
lind bewindeter Sonnenuntergang das Sportparkidyll Pauliner Marsch.
Tuschelnd sitzt das noch etwas fremdelnde Theaterpublikum in Sichtweite des
Weserstadions, auf der Tribüne des Platzes 12.
Dort, auf’m Platz, so hat der Bremer Fußballweise Otto Rehhagel einst
orakelt, liege die Wahrheit. Wenn man sich also den Rasen wegdenkt, sind
darunter die Bretter zu finden, die die Welt bedeuten.
Theaterinstallations- und Entschleunigungskünstler Alexander Giesche nutzt
denn auch zur Balltreter-EM das Kickertum als Metapher fürs große Ganze:
Sag mir, welche Spieltaktik du bevorzugst und ich sage dir, was für ein
Mensch du bist. Und ob du triumphieren wirst.
## Tiefenentspannt lässig
„Der Meister, der Beste“ werden – von diesen Erwartungen singen die
Darsteller denn auch gleich auf’m Platz. Es regiert die normative Kraft des
Leistungsprinzips, aber die, die immer 100 Prozent geben, also ständig über
sich hinauswachsen wollen und müssen, werden nach all der Marter nicht mit
Glücksgefühlen belohnt, sondern mit Stress.
Auch in der Kulturindustrie. Deswegen bezieht sich Giesches Performance
auch beiläufig auf Joey Goebels Roman „Torture the artist“. Aus dem ist die
Frage herauszulesen, ob nur der arme, kranke, von der Gesellschaft
isolierte Poet in einer Dachkammerbruchbude, wie auf Carl Spitzwegs
berühmten Künstlergemälde, kunstvoll tiefgründige Verse schmieden kann.
Mit Antworten hält Giesche sich nicht auf, sondern startet unaufgeregt die
Suche nach einem Kunst-, Fußball-, Alltagsleben – ohne Quälerei. Wie
irritierend das wirkt, ist sogleich zu hören, wenn sich die Darsteller
tiefenentspannt lässig an die Eckfahnen zurück- und in aller Gemütsruhe
umziehen.
## In memoriam Thomas Schaaf
Auftritt Justus Ritter. Dass der Schauspieler das Wunderkind Vincent der
Buchvorlage sein soll: egal. Er ist ganz allgemein derjenige, der für den
Weg nach oben vorbereitet, also auf Entsagung eingeschworen und durch Drill
zugerichtet werden soll. Erst noch unbeholfen hüpfend, schlaksig sich
dehnend – beginnt er zu laufen.
Dreizehneinhalb Runden. Ohne Pause. Angespornt von Sprüchen des
Trainers/Regisseurs. „Atmen nicht vergessen – und gleichmäßige Schritte,
wie ein Uhrwerk.“ „Deine Arme schlenkern wie Palmenwedel, konzentriere
dich.“ „Das ist ja wie bei Magath“, wirft Werders Ex-Präsident Klaus-Die…
Fischer von der Tribüne ein.
Und es wird weiter gefachsimpelt. Ablenkende optische Sensationen gibt es
im Leerlauf des Geschehens nur wenige. Beispielsweise Irene Kleinschmidt.
Sie schleicht mit einem Elektromobil übern Rasen, steigt aus und schlendert
höchst majestätisch in brutal abgeklärter Art herum – in memoriam
Trainerlegende Thomas Schaaf. Sie gibt aber auch Vincents Manager, Harlan
Eiffler heißt er im Buch, der seinem Sprössling mitteilt, „dass alles, was
du für dein Glück brauchst, knapp außerhalb deiner Reichweite bleibt“.
## Apartes Rasensprenger-Ballett
Um diese zynische Ideologie zu vernebeln, benebelt Kleinschmidt die
Zuschauer mit Bengalos. „Wie in der Ostkurve des Weserstadions“, freut sich
Fischer. Schauspieler Matthieu Svetchine spielt derweil den beanzugten
Teammanager und vollführt in der Coaching-Zone erregte Trainertänze.
Die Fans im Publikum bekommen Ferngläser ausgehändigt, denn die Performance
nutzt die ganze Breite des Platzes. Giesche verteilt Bratwürste und Bier,
während diffuses Rauschen in den Lautsprechern von Fangesängen überblendet
wird. Als Leistungsansporn für den Jogger: Ein Auftritt in der ersten Liga
lockt.
Schließlich rennt Vincent als Hochleistungsbummelant mit einer Fackel
über’n Rasen, was einen imaginären Rauchmelder aktiviert und ein
Rasensprenger-Ballett auslöst. Sehr apart. Geradezu meditativ. Argument für
den Trainer, auszusteigen. „Ich halte diesen Druck einfach nicht mehr aus“,
sagt er und lässt sich auf einer Decke nieder.
## 90 Minuten geistige Entschlackung
Sein Picknickidyll lockt die Mitakteure. Auch Vincent. Der hat sich nach
etlichen Fledermaus-Referaten inzwischen als Batman verkleidet. Ein DJ legt
die Stadionhymne „You'll never walk alone“ auf. Nadine Geyersbach übt sich,
wie auf dem Programmzettel steht, „in der Unbekümmertheit, die ein jedes
Spiel – ob auf dem Platz oder auf der Bühne – erst wirklich vollendet“: …
versenkt einen riesigen Ballon mit einem elegant angedeuteten
Seitenfallrückzieher im Tor. Applaus.
Kurz vorm Schlusspfiff, um die Bildbeschreibung des Giesche-Kunstwerks zu
vollenden, läuft noch die U17 der Werder-Frauen ein, vollführt Trainings-,
Torschuss- und Torjubelchoreografie. Ganz entspannt im Hier und Jetzt. Da
ist die Kunst Giesches. 90 Minuten geistige Entschlackung zum Preis einer
Theaterkarte. Ein Schnäppchen.
So, 19.6, 20.30 Uhr, Werder Bremen, Platz 12
18 Jun 2016
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Theater Bremen
Eintracht Braunschweig
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