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# taz.de -- Frauenliteratur: „Ohne Chauvigeist wäre ich tot“
> Die Texte von Jutta Heinrich gelten als radikal. Und ihr ganzes Leben
> steht ihrer Literatur in nichts nach. Jetzt wurden drei ihrer frühen
> Werke neu aufgelegt.
Bild: Jutta Heinrich versuchte, das anständige Leben einer Frau zu führen. Kl…
HAMBURG taz | Sie hat es ja versucht, das bürgerliche Leben, das
anständige, das, was einer Frau Ende der 1950er-Jahre zustand: 1957 war
Jutta Heinrich 17 Jahre alt und das dritte Mal verlobt, dieses Mal mit
einem Polizeischüler. „Es war das letzte Essen vor der Hochzeit, wir saßen
am Chiemsee, mit diesem gigantischen Blick auf die Berge. Und was haben wir
geredet? Einen stümperhaften Dreck.“ Sie heulte eine Stunde lang auf der
Toilette und beschloss noch in derselben Nacht, die Hochzeit platzen zu
lassen. Die Industriellentochter zog nach Hamburg und arbeitete dort erst
als Sekretärin, dann als Handelsvertreterin und später als selbstständige
Geschäftsfrau, bevor sie 1977 ihren furiosen Debütroman „Das Geschlecht der
Gedanken“ veröffentlichte.
„Das Geschlecht der Gedanken“ erzählt die Kindheit und Jugend von Conni,
die von ihren Eltern einen Namen bekommt, der „für sie eine Verbindung
zwischen beiden Geschlechtern darstellte und mein Vater musste nicht
fortwährend daran erinnert werden, dass aus mir nichts wurde als ein
Mädchen“. Conni beobachtet messerscharf die Unterdrückungs- und
Machtstrukturen, die das Verhältnis der Eltern und das
Geschlechterverhältnis in der Gesellschaft ausmachen. Als sie das erste Mal
ein Kleid tragen muss und ein Junge im Heufeld über sie herfallen will,
bewirft sie seinen Unterleib mit Steinen und erfreut sich, an eine
Häuserwand gelehnt, an seinen Schmerzensschreien.
Der Roman ist bei seiner Veröffentlichung bereits elf Jahre alt, jahrelang
hatte Heinrich nach einem Verlag gesucht. „Ein Agent schrieb mir damals:
Ich habe drei große Verlage, die das Buch sofort veröffentlichen, Sie
müssen sich nur ein männliches Pseudonym zulegen. Eine energische, radikale
Literatur wurde nur dem Mann zugeschrieben.“
## Aggressiv, rabiat, analytisch
Heinrichs Literatur stach heraus aus dem Opferimpetus und dem Schwelgen in
Befindlichkeiten, die der damaligen Frauenliteratur häufig zum Vorwurf
gemacht wurde. Ihre Heldin ist aggressiv, rabiat und kühl-analytisch. Und
sie galt 1966, als Heinrich „Das Geschlecht der Gedanken“ schrieb, ihrer
Zeit weit voraus, zu weit. Als das Buch schließlich im Fischer Verlag
erscheint, löst es einen Skandal aus. „Als ich eine Lesung im Goethe
Institut in Amsterdam hatte, sind 260 Menschen gekommen, um mich
fertigzumachen.“ Trotzdem oder gerade deswegen: Der Roman wird ein Erfolg,
wird ins Niederländische, Finnische, Dänische und Japanische übersetzt und
unter dem Titel „Josephs Tochter“ verfilmt. „Nach dem Erfolg bin ich glei…
krank geworden. Das konnte ich gar nicht fassen.“
Heinrichs Emanzipation erfolgte nicht durch die Literatur, sondern als
Unternehmerin. Die älteste von fünf Töchtern übernimmt mit 14 Jahren nicht
nur Aufgaben in der väterlichen Furnier- und Sperrholzfabrik, sondern auch
die Sorge um die Schwestern, nachdem die Mutter die Familie für ihren
Liebhaber verlassen hat: „Ich habe sie für ihren Mut bewundert und es ihr
sofort verziehen, aber ich war die Vatertochter und musste es halt tragen.“
Das Changieren zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen beschreibt sie
dabei als ihr „schönstes Spiel“. Die Tüchtigkeit, die sie in diesen Jahren
entwickelt, zog sie immer wieder aus dunklen Lebensphasen heraus, wie die
lähmende Angst vor der atomaren Katastrophe, die sie in „Mit meinem Mörder
Zeit bin ich allein“ (1981) beschreibt. „Durch meinen Chauvinistengeist
habe ich mich immer wieder hochgerappelt. Wenn ich den nicht hätte, wäre
ich tot.“
Mit Anfang 20 macht sie sich selbstständig, als Handelsvertreterin.
„Unternehmerin sein hieß für mich, endlich allein und frei zu sein von
diesen schrecklichen, biederen, verrosteten Umgangsformen. Ich hatte immer
Stolz auf die Einsamkeit.“ Auf den Reisen und in Hotels lernt sie zu
beobachten, gleichzeitig erlebt sie, wie ihre Freiheit als alleinreisende
Frau nicht akzeptiert wird. Sie wird belästigt, muss sich gegen
Übergriffigkeiten erwehren: „Als Frau war dieses Leben um die Zeit
ekelhaft.“ Aber sie hat Erfolg, zieht mehrere Geschäfte auf, darunter einen
Großhandel für Gardinen mit 15 Angestellten und fährt einen Mercedes SL
230.
Nach einem Besuch einer Inszenierung von Tschechows „Möwe“ im Jahr 1966 ist
für Heinrich, die mit Literatur bislang kaum in Berührung gekommen war,
alles anders. „Diese Begegnung war stärker als jede Liebe, jeder Funke,
jede Raserei. Ich bin da rausgegangen wie eine Taumelnde und wusste, dass
mein Leben ab jetzt von einem anderen Gift besetzt ist.“
Sie wird krank, fährt sechs Wochen an die Nordsee und beschließt danach,
ihr Unternehmen aufzulösen. Mit ein wenig Geld macht sie einen Imbiss am
Langenfelder Damm auf. Dort liest sie sich zwischen Würstchen und Pommes
Frites autodidaktisch durch die Literaturgeschichte: Camus, Sartre,
Strindberg, Tschechow, Djuna Barnes, die Hamburger Autoren Hubert Fichte
und Gerd Fuchs. Der Imbiss wird zum Künstlertreff, trotzdem hält sie sich
von der literarischen Szene fern: „Ich war sehr spröde. Und ich wusste:
Helfen würde mir niemand.“
Ihre zahlreichen Männerbeziehungen scheitern. „Im Grunde genommen war meine
Art zu leben ihnen über, im wahrsten Sinne des Wortes. Mein Körper war
schön, aber die Faszination ging schnell in ein Kopfschütteln über, das
konnte ich nicht aushalten. Man braucht ja auch aufbauende, hilfreiche
Gespräche.“ Auch an der literarischen Berufung gehen die Beziehungen zu
Grunde: „Schreiben heißt eigentlich immer, ganz allein zu sein. Das waren
immer meine Qualen. Schreiben und lieben geht eigentlich nicht.“
Nach dem Erfolg ihres Debütromans lebt sie als freischaffende
Schriftstellerin, erhält zahlreiche Preise, Stipendien und Lehraufträge,
schreibt neben Romanen und Kurzgeschichten Theaterstücke und Essays – ihre
literarische Lieblingsform – und arbeitet für den Rundfunk und als
Kabarettistin. In den vergangenen Jahren hat sie wenig veröffentlicht,
unterrichtet lieber an Schulen und an Schreibwerkstätten. „Ich habe immer
noch die gleiche Wutverzweiflung wie früher. Nur: Ich habe das fast alles
ausgedrückt, und ich möchte mich nicht wiederholen. Meine unendliche
Neugier aufs Leben kann ich für mich behalten.“ Zum Glück hat der Fischer
Verlag drei ihrer Werke, „Das Geschlecht der Gedanken“, „Mit meinem Mörd…
Zeit bin ich allein“ und die Kurztexte-Sammlung „Alles ist Körper“ gerade
neu aufgelegt.
17 May 2016
## AUTOREN
Hanna Klimpe
## TAGS
Emanzipation
Patriarchat
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